Sie sind hier
E-Book

Radicals

Wie Außenseiter die Welt verändern wollen und weshalb wir ihnen zuhören sollten

AutorJamie Bartlett
VerlagPlassen Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783864705564
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
In 'Radicals' nimmt Jamie Bartlett, einer der weltweit führenden Denker zu radikaler Politik und Technologie, die Leser mit in die fremdartigen und aufregenden Welten der Innovatoren, Disruptoren, Idealisten und Extremisten, die der Auffassung sind, dass im Kern der modernen Gesellschaft etwas falsch ist - und glauben, dass wir es besser können. Bartlett stellt einige der wichtigsten Bewegungen unserer Zeit vor: Techno-Futuristen, die Unsterblichkeit anstreben; extrem rechte Gruppen, die Grenzen schließen wollen; militante Umweltaktivisten, die den Planeten mit allen notwendigen Mitteln retten wollen; psychedelische Pioniere, die die Gesellschaft mithilfe starker Halluzinogene heilen wollen. Der Erfolg demokratischer Gesellschaften hängt von unserer Fähigkeit ab, den radikalen Bewegungen in unserer Mitte zuzuhören - und in manchen Fällen von ihnen zu lernen. Ihre Ansichten mögen extrem sein, aber in der Verfolgung ihrer Utopien stellen diese Gruppen infrage, was möglich ist, und nehmen die künftige Welt vorweg.

Jamie Bartlett ist Direktor des Zentrums für Social-Media-Analyse beim Thinktank Demos. Er hat sich auf soziale Bewegungen im Internet und die Auswirkungen der Technologie auf die Gesellschaft spezialisiert. Im Plassen Verlag ist von ihm bereits 'The Dark Net' erschienen. Bartlett lebt in London.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Die transhumanistische Wette


Ein amerikanisches Rouletterad enthält 38 Felder – 18 schwarze, 18 rote und zwei grüne. Beim Roulette wettet man darauf, auf welcher Zahl oder welcher Farbe oder welcher Zahlenspanne die kleine weiße Kugel nach dem Drehen des Rades zum Liegen kommt. Und genau diese Frage stellen wir uns, Zoltan, Jeremiah, Dylan und ich, während wir im Harrah’s Casino auf dem Las Vegas Boulevard an einem Rouletterad stehen. Es ist Anfang September und kurz vor Mitternacht, aber dennoch herrscht draußen eine unglaubliche Hitze. Hier drinnen bekommt man davon überhaupt nichts mit, denn das Harrah’s bläst wie jedes andere Kasino per Klimaanlage sauerstoffangereicherte Luft durch seine Räume, um die Besucher wach zu halten.

Wie Hunderte anderer hoffnungsvoller Spieler im Harrah’s haben auch wir leider verloren. Wir beschließen, alles auf eine Karte zu setzen – wir packen unsere restlichen Chips im Gesamtwert von etwa 250 Dollar auf Schwarz. Landet die Kugel auf Schwarz, verdoppeln wir unser Geld und gehen mit plus minus null aus der ganzen Sache heraus. Aber da ist ja noch die Sache mit den beiden grünen Feldern, der Null und der Doppelnull. Sie sorgen dafür, dass die Chancen auf Schwarz nicht bei 50 Prozent stehen, sondern bei 47,4 Prozent. Dieser sogenannte Bankvorteil bedeutet, dass man zwar eine Weile lang gewinnen kann, die Verlustwahrscheinlichkeit jedoch steigt, je länger man spielt. Spielt man nur lang genug, ist es geradezu unvermeidlich, dass man verliert. Dieser Fakt ist nur schwer verdaulich, weshalb die Kasinos sich bemühen, ihn mit Gratisgetränken, Musik, Klimaanlagen mit extra Sauerstoff und „Verändere dein Leben“-Postern zu übertünchen. Doch es ändert nichts daran: Letztlich gewinnt immer die Bank.

„Enden wir als Verlierer?“, sagt Dylan, während der Croupier „Nichts geht mehr“ ruft. „Wir enden immer als Verlierer“, erwidert Zoltan.

Wir vier waren einen Tag zuvor in Las Vegas eingetroffen – in einem 15 Meter langen Bus, der so umgebaut war, dass er einem riesigen Sarg auf Rädern ähnelte: der „Unsterblichkeits-Bus“. Zoltan ist Transhumanist und will der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden.

Transhumanismus ist eine wachsende Gemeinschaft mit Tausenden Mitgliedern, die davon überzeugt ist, dass Technologie uns in körperlich, intellektuell und sogar moralisch bessere Menschen verwandeln kann. Außerdem glauben sie, dass wir Technologie dazu nutzen können und sollten, die Grenzen zu überwinden, die uns unser biologisches und genetisches Erbe auferlegt, und die Fesseln des Menschseins abzustreifen. Das gilt insbesondere für die Sterblichkeit. Wie die meisten Transhumanisten denkt Zoltan, dass der Tod nichts als eine biologische Schrulle der Natur ist und wir ihn nicht einfach als unvermeidlich hinnehmen sollten.

Auf dem Weg zu diesem Ziel nutzen Transhumanisten eine atemberaubende Vielfalt modernster Technologien. Sie befassen sich mit Altershemmung, Genforschung, die Alterungsprozesse stoppt und umkehrt, mit Robotik, künstlicher Intelligenz, Kybernetik, Weltraumkolonisierung, virtueller Realität und Kryonik. Für Transhumanisten gibt es keinen „natürlichen“ Zustand des Menschen. Wir verändern uns ständig und passen uns an. Lassen wir uns auf die Technologie ein, betreten wir damit einfach nur die nächste Stufe auf der Evolutionsleiter. Das könnte letztlich bedeuten, dass Menschen sich in etwas verwandeln, das nicht wirklich human ist, sondern posthuman. Nicht jede existierende technologische Möglichkeit zur Verbesserung des Menschseins auszuloten und zu erforschen, erachten Transhumanisten als unlogisch und unmoralisch. Können wir durch Technologie Leiden lindern und das Wohlergehen steigern, dann müssen wir das auch tun, sagen die Transhumanisten.

Das Streben nach Unsterblichkeit findet sich schon im Gilgamesch-Epos, dem ältesten erhaltenen literarischen Werk der Menschheit.1 Das 4.000 Jahre alte Gedicht schildert, wie Gilgamesch versucht, hinter das Geheimnis des ewigen Lebens zu kommen. Die modernen Wurzeln des Transhumanismus dagegen gehen auf Ideen von Science-Fiction-Autoren des frühen 20. Jahrhunderts wie Isaac Asimov und den Biologen Julian Huxley (den Bruder von Aldous) zurück, der den Begriff „transhuman“ 1957 in seinem Buch New Bottles for New Wine prägte. Huxley war, was religiöse Dinge anbelangte, ein Agnostiker und vertrat die Ansicht, bei der natürlichen Weiterentwicklung des Menschen erreiche dieser ein immer größeres Maß an Komplexität. Das Ziel sei die „größtmögliche Realisierung der dem Menschen angeborenen Möglichkeiten“, selbst wenn dies bedeute, über das Menschliche hinauszuwachsen. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde der Einfluss von Wissenschaft und Technologie auf die Gesellschaft immer stärker und diese „angeborenen Grenzen“ wurden immer weiter verschoben. Oftmals von Huxleys oder Asimovs Schriften inspiriert, gründeten Menschen Organisationen in der Absicht, Forschung in Sachen Altershemmung voranzutreiben und sich für radikales futuristisches Denken stark zu machen. Mitte der 1980er-Jahre hielten in Kalifornien erstmals kleinere Gruppen selbsternannter Transhumanisten formelle Treffen ab, um darüber zu diskutieren, ob und wie Technologie die menschliche Existenz verändern könne. 1990 – das Jahr der ersten Versuche in Sachen Gentherapie, der ersten Designerbabys und der Anfänge des World Wide Web – skizzierte Max More in seinem einflussreichen Papier Transhumanism: Towards a Futurist Philosophy eine zusammenhängende Philosophie der Bewegung. „Der Transhumanismus enthält viele Elemente des Humanismus, unter anderem Respekt für Vernunft und Wissenschaft“, schrieb More und erklärte den Unterschied so: „Transhumanismus erkennt und erwartet die aus unterschiedlichen Wissenschaftszweigen und Technologien erwachsenden radikalen Veränderungen im Wesen und den Möglichkeiten unseres Lebens.“1 Diese Truppe von Akademikern, Forschern und Science-Fiction-Nerds verschmolz langsam zu einer weltumspannenden Bewegung. 1998 gründeten Nick Bostrom und David Pearce die World Transhumanist Association in der Absicht, Transhumanismus als legitimen Bereich der wissenschaftlichen Forschung und des ordre public etablieren zu können.

Technischer Fortschritt hat den Anhängern des Transhumanismus im Lauf der vergangenen zehn Jahre Möglichkeiten eröffnet, die noch vor nicht allzu langer Zeit ins Reich der Science-Fiction verwiesen wurden: An führenden Universitäten werden ernsthafte Untersuchungen zum Thema Altershemmung durchgeführt, gleichzeitig pumpen Investoren Millionensummen in die Robotik und die Forschung zu künstlicher Intelligenz. Weltweit gibt es heutzutage Zehntausende selbsternannter Transhumanisten, darunter einflussreiche Persönlichkeiten aus dem Zentrum der globalen Technologieszene. Einer davon ist Ray Kurzweil, Leiter der technischen Entwicklung bei Google. Kurzweil ist fest vom Kommen der Singularität überzeugt, also dem Punkt, an dem künstliche Intelligenz so weit entwickelt ist, dass sie anfängt, neue und immer bessere Versionen von sich selbst herzustellen. Ein weiterer prominenter Transhumanist ist der Milliardär Peter Thiel, Mitgründer von PayPal, einflussreicher Silicon-Valley-Investor und Mitglied im Übergangsteam von Präsident Donald Trump. Thiel hat Millionen Dollar in Projekte investiert, die an Altershemmung und künstlicher Intelligenz forschen. Sehr rasch entwickelt sich Transhumanismus zum Kreuzungspunkt von Wissenschaft und Science-Fiction.

Zoltan ist besessen von statistischen Wahrscheinlichkeiten. Sein Leben hat er einer Wette verschrieben – der transhumanistischen Wette. Sie ist eine Abwandlung der berühmten Pascal’schen Wette, wonach jeder vernünftige Mensch an Gott glauben sollte. Existiert er, erhält man als Lohn die Unsterblichkeit im Paradies. Existiert er nicht, beläuft sich der zu zahlende Preis nur auf einige Unannehmlichkeiten, die hier während einiger Erdenjahre entstehen. Die transhumanistische Wette besagt, dass jeder vernunftdominierte Mensch jeden wachen Augenblick mit dem Streben nach Erhalt und Verlängerung seiner Lebenszeit verbringen sollte:

„Die Wette und das wesentliche Motto der Transhumanisten-Bewegung besagen: Wenn du das Leben liebst, dann wirst du dieses Leben schützen und danach streben, es so lang wie möglich zu verlängern und zu verbessern. Alles andere, was du tust, während du lebst, alle anderen Meinungen, die du hast, alle anderen Entscheidungen, die du fällst, dieses Leben nicht zu sichern, zu verlängern und zu verbessern – all das ist Betrug an diesem Leben. […] Es ist eine historische Entscheidung, die jeder Mann und jede Frau auf dem Planeten treffen muss.“2

Zoltan richtet sein Leben nach dieser strengen Doktrin aus. Seine „historische Entscheidung“ bestand darin, 2015 und 2016 einen offensichtlich von vornherein zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, sich zum Präsidenten der USA wählen zu lassen. Als mich Zoltan Mitte 2015...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

BMW Magazin

BMW Magazin

Unter dem Motto „DRIVEN" steht das BMW Magazin für Antrieb, Leidenschaft und Energie − und die Haltung, im Leben niemals stehen zu bleiben.Das Kundenmagazin der BMW AG inszeniert die neuesten ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg) ist das offizielle Verbandsorgan des Württembergischen Landessportbund e.V. (WLSB) und Informationsmagazin für alle im Sport organisierten Mitglieder in Württemberg. ...

Deutsche Tennis Zeitung

Deutsche Tennis Zeitung

Die DTZ – Deutsche Tennis Zeitung bietet Informationen aus allen Bereichen der deutschen Tennisszene –sie präsentiert sportliche Highlights, analysiert Entwicklungen und erläutert ...

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler

rfe-Elektrohändler ist die Fachzeitschrift für die CE- und Hausgeräte-Branche. Wichtige Themen sind: Aktuelle Entwicklungen in beiden Branchen, Waren- und Verkaufskunde, Reportagen über ...

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS bringt alles über die DEL, die DEL2, die Oberliga sowie die Regionalligen und Informationen über die NHL. Dazu ausführliche Statistiken, Hintergrundberichte, Personalities ...

FileMaker Magazin

FileMaker Magazin

Das unabhängige Magazin für Anwender und Entwickler, die mit dem Datenbankprogramm Claris FileMaker Pro arbeiten. In jeder Ausgabe finden Sie von kompletten Lösungsschritten bis zu ...