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Ressourcen des Christentums

Zugänglich auch ohne Glaubensbekenntnis

AutorFrançois Jullien
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783641250218
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»Kulturelle Ressourcen', das sind für Francois Jullien die vielen Konzepte, die den Charakter gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Lebensweise der Einzelnen darin bestimmen. In einer globalisierten Welt kann jeder Mensch die Ressourcen, die ihm helfen, wählen und für sich nutzen, ohne dass jede dieser Ressourcen für alle immer gleichermaßen verbindlich wäre.

Was für Sprachspiele, für Bildungstraditionen oder Alltagsbräuche gilt, so die These dieses Essays, gilt genauso auch für das Christentum. Betrachtet man es als kulturelle Ressource, dann geht es nicht mehr um die Frage religiösen Glaubens oder Unglaubens, sondern z.B. darum, welche Bilder vom Menschen in den Texten der Evangelien bewahrt werden - und um die Frage, was diese heute zu einem gelingenden gesellschaftlichen Zusammenleben beitragen können.

François Jullien, geboren 1951, ist ein französischer Philosoph und Sinologe. Seit 2004 lehrt er als Professor an der Universität Paris VII. Er ist einer der am meisten übersetzten Denker der Gegenwart. 2010 erhielt er den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, 2011 den Grand prix de philosophie de l'Académie Française für sein Gesamtwerk. Zahlreiche seiner Werke sind auch ins Deutsche übersetzt.

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II

RESSOURCEN

Das Eigene einer Ressource ist, wenn ich auf dieses in meiner Arbeit zentral gewordene Konzept zurückgreifen darf, dass sie sich erforschen und ausbeuten lässt; und dass man sie, während man sie ausbeutet, noch erforscht. Damit wird die Zweiteilung von Erkenntnis und Handlung, von Theorie und Praxis aufgelöst. Als solche ist die Ressource niemandes Eigentum, sie gehört niemandem (weshalb ich den Begriff einer kulturellen Identität ablehne): Sie gehört dem, der sie entdeckt – je mehr er sie entdeckt – und der sie profitabel macht. Eine Ressource ist nicht auf Anhieb einzugrenzen und definierbar, da sie einen Teil ihres Potentials in sich behält und mit einer zukünftigen Entfaltung zu rechnen ist. Man kennt zunächst nicht ihre ganze Natur und nicht ihre Grenzen. Denn eine Ressource existiert in der Tat nur in dem Maße, in dem man sie entwickelt. Daher erfordert sie auch Verantwortung. Denn man aktiviert sie oder man aktiviert sie nicht: Man kann ihrer genauso gut gar nicht gewahr werden oder sie sehen und an ihr vorbeigehen. Wenn es also eine »Ressource« des Christentums gibt, so deshalb, weil man einen Nutzen aus ihr ziehen, sie Quelle einer Wirkung werden könnte, ohne dass man zuvor die Frage nach ihrer Wahrheit stellen müsste. Denn hat die Wahrheit mit ihrem disjunktiven Vorgehen von wahr und falsch, so wie sie traditionellerweise konzipiert wurde und auf die sich die Theologie ebenso wie die Philosophie gestürzt haben, nicht das Denken auch steril gemacht? Hat sie nicht dessen Ressourcen verarmen lassen? Oder ist die »Wahrheit« nicht doch eher als eine sehr wichtige, wenn auch nicht als einzige Ressource des Denkens anzusehen?

Ich werde hier also von Ressourcen des Christentums sprechen, statt die Frage nach seiner dogmatischen Wahrheit zu stellen. Und zwar indem ich mich in einem erforschenden Modus langsam nach »Goldadern« suchend vortaste. Ressourcen sind zunächst unbestimmt. Es könnten genauso Ressourcen des griechischen oder chinesischen Denkens sein, die ich erkunde. Denn ich stelle mir jedes Mal dieselbe grundsätzliche Frage: Welchen Nutzen (Profit) habe ich davon? Ich werde das Evangelium wie irgendeinen anderen Text lesen, d.h. mit dem Versuch, auf dieselbe Art der Befragung eine Antwort zu bekommen: Was kann die Kohärenz damit anfangen (statt »Sinn« – ein bereits zu selektiver und richtungsweisender Begriff), aus der dann seine Zutrefflichkeit kommen kann – Zutrefflichkeit [pertinence] lässt sich nicht in die Falle von dem locken, was sich als Wahrheit einbetoniert hat –, ohne dass, wie ich bereits sagte, eine Anhängerschaft [adhérence] erforderlich wäre. Ressourcen auszubeuten heißt nicht, sich zu bekehren – ich habe mich ja auch nicht »taoïsiert«. Damit wird auch mit einem Schlag der traditionell aufgezwungene Gegensatz von Profanem und Heiligem aufgehoben. Aus globaler Sicht ist es nicht wichtig, ob dem als Ressource dienenden Text nun ein »religiöser« Status zuerkannt wird oder nicht. Ebenso verschwindet der Gegensatz zwischen Denken und Leben. »Ressourcen« gelten ebenso für das eine wie für das andere: Ressourcen des Denkens – Ressourcen des Lebens. »Manchmal denke ich, manchmal bin ich«, sagt Paul Valéry und macht das zu einer tragischen Alternative. Die Ressource löst diese Uneinigkeit auf.

Man wird die Ressource auch besser verstehen, wenn man bedenkt, was sie nicht ist. Zunächst einmal ist Ressource kein Wert. »Wert« hat den traditionellen Begriff des Guten im zeitgenössischen Denken zum Zerplatzen gebracht. Diesem wurde die onto-theologische Grundlage, auf der er thronte, entzogen: sein absolutes oder zumindest gesellschaftlich aufgezwungenes »An-sich«. Die Werte, so lehrte uns Nietzsche, sind »Perspektiven« und als solche abhängig von der Einschätzung und Beurteilung, die jedem zustehen. Dadurch zerfällt jeder einheitliche (Sicherheit verleihende) und normative Charakter: Perspektiven sind notwendigerweise mehrheitlich. Die Werte sind nicht nur mehrheitlich, sondern schließen einander auch aus, da der eine nicht zur selben Zeit wie der andere existieren kann. Die Werte rivalisieren miteinander, sie stellen einander in Frage, sie widersprechen einander, sie stehen in Konkurrenz zueinander. Daraus folgt, dass sie angepriesen und sogar gepredigt werden müssen. Es besteht auch die Gefahr, dass sie zu einem Gruppenzwang ausarten und ins Intolerante kippen: Man verleiht ihnen nur allzu gerne eine Funktion kollektiver Identität. Denn man ist geneigt, zur Verteidigung »seiner« Werte den Ton zu heben, unversöhnlich zu werden – ist das nicht Nietzsche selbst passiert? Nun sind die christlichen Werte nicht nur, wie alle anderen auch, dieser Vorbedingung unterworfen, sondern scheinen in der Gegenwart noch viel anfechtbarer, jedenfalls angefochtener als andere zu sein: die Werte der »Reinheit«, der »Unterwürfigkeit«, der »Demut« und der ganze Schmerzensschwulst, um nicht zu sagen Infantilismus, den Nietzsche beklagt hat. – Nun ist »Ressource« zum Glück nicht »Wert«: Die Ressourcen stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Sie fügen sich im Maße ihrer verschiedenen Erforschungen eine der anderen hinzu und bereichern sich durch ihre Abstände [écarts]. Sie exkommunizieren einander nicht: Ich kann von den Ressourcen des christlichen Denkens ebenso wie von jenen des taoïstischen meinen Nutzen haben, und die einen reflektieren sich in den anderen. Ressourcen brauchen daher auch nicht angepriesen und gepredigt werden, sie bieten sich dem an, der sie zu entfalten weiß.

»Ressource« ist auch nicht »Reichtum«. Spricht man nun nicht allzu gerne von »spirituellen Reichtümern« des Evangeliums wie von wertvollen Gütern, die es zu bewahren und zu vermehren gilt? Doch schläft man über diesen Reichtümern ein. Bestenfalls sorgt man sich um ihre Weitergabe, in der Tat die gegenwärtig größte Sorge, wo doch eine Änderung der Lebensweise und Lebensgestaltung immer rascher im Rhythmus der technischen Revolutionen erfolgen soll und die Erziehung daher nicht mehr der Dauerhaftigkeit ihrer Inhalte sicher ist. Nun widersetzt sich genau Ressource der Vernachlässigung solcher Schätze, denen man nachtrauert, da sie den Geist an die an ihn gestellten Anforderungen erinnert. Denn wenn Reichtümer sich so gerne als zeitüberdauernd verstehen und einen sicheren Wert zugestehen, so geben die Ressourcen zu denken; sie sind nur in dem Maß wertvoll, in welchem die jeweilige Person – die jeweilige Generation – ihrerseits sich anstrengt, sie erneut zu aktivieren, ebenso zu erforschen wie auszubeuten. Ressourcen existieren nur in dem Maß, in dem sie ertragreich gemacht werden. Zugleich hält sie das, was an ihnen nur potentiell vorhanden ist, in Schwung und bewahrt sie vor der Begrenztheit, der das Aktuelle in seiner Ausdehnung unterworfen ist, entzieht sie der verfestigenden Positivität des Erreichten und Akzeptierten. Von den Ressourcen, die man erforscht, kennt man nicht deren Grenze, während die Reichtümer, die man besitzt, von vornherein beschränkt sind. Das macht Ressource im Hinblick auf das Christentum förderlich. Dass es sich als eine Ressource in Erwägung zieht, stürzt es zum Glück vom Thron des Vorrangs, den es sich de jure zuerkannte, solange es noch die dominierende Ideologie war, und auf dem es verkümmerte. Sie zwingt das Christentum, wenn es überleben will, sich wieder an die Arbeit zu machen, nochmals zu überdenken, erneut heranzuwagen. Andernfalls ist seine Ressource tot.

Abschließend sei noch gesagt, dass Ressource auch nicht Wurzel ist, sondern als deren Gegenteil gedacht werden muss. Denn »Wurzel« lässt nicht nur das Kulturelle (Spirituelle) ins »Natürliche« umschlagen, sondern bringt vor allem dem Mythos des einzig Ursprünglichen, des Uranfangs, sein Opfer dar. Die »christlichen Wurzeln Frankreichs«? Die Taufe von Chlodwig? Aber was bedeutete »Taufe« damals für Chlodwig? Und was macht man dann mit »unseren Vorfahren, den Galliern«? Oder »die christlichen Wurzeln Europas«: Als hätte Europa nicht ebenso seine Ressourcen in der Förderung einer Rationalität gefunden, die sich gegen den Glauben richtete. Damit soll weder geleugnet werden, welche Bedeutung das Christliche für Frankreich und für die Geschichte Europas hat, noch was das Christentum an lokalen historischen Einflüssen in sich aufgenommen hat; auch nicht, was jede Religion notwendigerweise an Tradition kapitalisiert. Jedoch ist es eine Ablehnung dessen, was »Wurzel« an ererbter Zugehörigkeit und Abhängigkeit unterstellt. Indem »Wurzel« den Blick zurück richtet, gräbt sie ein; Ressource dagegen ist produktiv, weil prospektiv. Auch ist Wurzel identitär und folglich sektiererisch, während Ressource dazu aufruft, geteilt zu werden. Im Übrigen war es dem Christentum eigen, den Judaismus zu ent-wurzeln oder besser noch der Verwurzelung zu entreißen: ihn von seiner ethnischen Markierung zu lösen. Des Weiteren widerspricht »Wurzel« genau dem, was sehr wohl eine der wichtigsten Ressourcen des Christentums auszumachen scheint: seinem universellen Anspruch. »Weder Grieche, noch Jude«, »weder Mann, noch Frau«, »weder Herr, noch Knecht« (Gal 3,28): Indem Paulus alle Unterschiede – kulturelle, geschlechtliche, soziale – neutralisiert, überträgt er das griechische Ideal der abstrakten Universalität (den Begriff) auf die konkrete conditio humana –, macht es zumindest zu einem Grundsatz. »Wurzel« widerspricht dem ganz offen.

Das ist der Grund, weshalb es vielleicht auch nicht legitim wäre, die »Wahrheit«...

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