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E-Book

Schrecklich schön und weit und wild

Warum wir reisen und was wir dabei denken

AutorMatthias Politycki
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783455851816
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Wochenendtrip oder Weltumrundung, Pauschal- oder Backpackerreise, Länder sammeln oder einfach last minute: Wir reisen, was das Zeug hält und in allen nur denkbaren Varianten. Aber was steckt hinter der Reiselust? Was ist aus dem großen Versprechen, das die Welt einmal war, geworden? Wie hat sich das Reisen verändert? Matthias Politycki, im Hauptberuf Romancier und Lyriker, im Nebenberuf passionierter Reisender, hat keinen Reiseführer geschrieben, aber ein Buch über das Reisen - und ein sehr persönliches Buch über allgemeingültige Fragen.

Matthias Politycki gilt als großer Stilist und ist einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Werk besteht aus über dreißig Büchern, darunter Romane, Erzähl- und Gedichtbände, sowie Sachbücher und Reisereportagen. Zuletzt erschienen von ihm Das kann uns keiner nehmen, vom Spiegel als 'Deutschland-Roman vor afrikanischer Kulisse' gerühmt, der zu einem großen Publikumserfolg wurde, die vielbeachtete Streitschrift Mein Abschied von Deutschland sowie im April 2023 sein großer neuer Roman Alles wird gut. Chronik eines vermeidbaren Todes.

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Leseprobe

Mein Abschied vom Reisen


Seit über vierzig Jahren reise ich. Zunächst nur für ein paar Wochen nach Worthing an der englischen Südküste, wo ich mit meinem Schulfreund Robs Englisch lernen sollte, aber lieber nach Brighton oder London fuhr, um Plattenläden abzuklappern. Wenige Sommer später als Tramper kreuz und quer durch Europa oder, mit knappem Budget und umso größerer Naivität, als Rucksackfreak, der so ziemlich alles falsch machte, was man bei ersten Ausflügen auf die andre Seite des Mittelmeers falsch machen kann. Im Gegensatz zu den heutigen Backpackern, die im Grunde ein von der Globalisierung gezähmtes Völkchen sind, verstanden wir uns als Nonkonformisten, die sich auch in ihrer Form zu reisen von der Elterngeneration absetzen wollten. Ob wir wirklich »freier« als sie waren, wenn wir wild in griechischen Buchten campten oder neben dem jugoslawischen Autoput unsern Schlafsack ausrollten? Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre reise ich als einer, der sich die Hälfte seiner Zeit sonstwo herumtreibt oder eingemietet hat, ob als Pauschaltourist oder auf eigne Faust, ob für ein Buch, eine Reisereportage oder »einfach so«, ob für ein verlängertes Wochenende oder für Monate, ein halbes Jahr lang war ich sogar »Writer-in-non-residence« auf einem Kreuzfahrtschiff. Obwohl ich das früher nicht mal im Traum für möglich, ja geradezu für abwegig gehalten hätte.

Seit über vierzig Jahren schreibe ich. Zunächst nur Gedichte auf herausgerissenen Seiten meiner Schulhefte. Wenige Sommer später … Und schließlich … Doch während ich noch in meiner Studentenzeit heimlich schrieb und meine Texte nur einem einzigen Freund anvertraute, befand ich mich beim Reisen in allerbester Dauergesellschaft: Nahezu jeder war bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf und davon, nicht zuletzt deshalb, um nach der Rückkehr jedem bei jeder sich bietenden Gelegenheit davon erzählen zu können. Vielleicht war Reisen so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner meiner Generation, mit Sicherheit galt es uns als Synonym für Freiheit schlechthin. Bei Billigbier und Erdnüssen aus der Dose diskutierten wir die aberwitzigsten Reiseziele; wer nur mal Badeurlaub an der Adria machte, mußte es heimlich tun, um nicht als Spießer abgestempelt zu werden. Niemals jedoch diskutierten wir die Sache selbst.

Im Rückblick mutet es seltsam an, daß wir als Vertreter einer notorisch kritischen Generation das Reisen nicht mal ansatzweise »hinterfragten«. Und erst recht keiner die Frage aufwarf, die das Zwanghafte eines permanenten Willens zum Aufbruch ins Visier hätte nehmen können – die Frage, warum wir überhaupt reisen. Wieso waren wir so anhaltend heiß darauf, Abenteuer in der Fremde zu bestehen, und was brachte derlei am Ende außer Erkenntnissen, die man besser gar nicht gewonnen hätte? War das Reisen – also alles, was mehr oder weniger prononciert über einen Urlaub hinausgeht – nicht eine furchtbar ambivalente Angelegenheit? Und, im Gegensatz zu den Reisen der Phantasie, nicht fast immer auch desillusionierend?

Nun wäre ich gern noch im Sommer 2015 um eine Beantwortung der Frage herumgekommen und einfach so weitergereist, wie ich es blauäugig begonnen und mit einer gewissen Unbeschwertheit über Jahrzehnte fortgeführt hatte: als etappenweises Unterfangen, im Anderen nicht nur das Eigene besser zu erkennen, sondern auch ein Stück der Utopie, die seit je die Sehnsucht des Reisenden ist. Im Sommer 2015 hatte sich allerdings auch ein unübersehbarer Menschenstrom auf den Weg nach Deutschland gemacht und dem Wort »Reisen« eine ganz andere, tiefernste Dimension verliehen. Mit meiner Unbeschwertheit war es vorbei. Natürlich hatte das eine mit dem anderen nichts direkt zu tun. Doch was da als »Flüchtlingskrise« mitzuerleben war, empfand ich schon bald als tiefe Zäsur auch in meinem Alltag. Wenn ich mich der Frage nach meinem Alltag als Reisender stellen wollte, so konnte ich die Suche nach Antworten nicht länger verschieben.

Reisen war schon seit dem Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen Freisetzung ethnischer Konfliktpotentiale zunehmend problematisch geworden. Anschläge auf Touristenhotels wurden ebenso zum festen Bestandteil terroristischer Strategien wie Zerstörung kultureller Sehenswürdigkeiten und Entführungen – nicht etwa von Pauschalurlaubern, sondern von Individualreisenden, die fernab massentouristischer Ziele unterwegs waren. Eine Zeitlang konnte man derlei als »Einzelfall« verdrängen und in vermeintlich sicheren Reiseregionen so weitermachen wie bisher. Seit 9/11 wurden die Möglichkeiten der Routenplanung gerade in abgelegeneren Regionen immer stärker eingegrenzt. Je interessanter die Destinationen waren, die man ins Auge gefaßt hatte, desto aufmerksamer mußte man die Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes studieren. Doch erst im Sommer 2015 wurde mir klar, daß ich in diesem Leben wohl nie wieder in den Jemen würde fahren können, daß ich kaum mehr eine Chance hatte, nach Damaskus zu kommen oder nach Babylon.

Andrerseits: Was würde ich mir denn dort noch erhoffen? Das Fremde, das mich bislang gelockt hatte, mittlerweile begegnete ich ihm in meiner eigenen Stadt auf Schritt und Tritt, ich brauchte gar nicht mehr hinzureisen. Was als Multikulti verheißungsvolle Einsprengsel in den deutschen Nachkriegsalltag gesetzt hatte, mittlerweile hatte es als Globalisierung eine Stadt wie Hamburg durchgehend internationalisiert. Die altvertraute Weltordnung und damit verknüpfte Werte und Überzeugungen, wie sie sich trotz aller historischen Umbrüche mein Leben lang gehalten hatten, waren längst mächtig in Bewegung geraten – ich hatte es bislang bloß nicht in dieser Dimension wahrgenommen. Der Flüchtlingsstrom des Sommers 2015 war gewissermaßen nur eine sehr spezielle Ausprägung der Bewegung, bald würde »meine« Welt Geschichte sein. Oder war sie’s bereits?

Meine Welt als Reisender war weit und wild gewesen. Dem jugendlichen Grundgefühl, daß »da draußen« ein unerschöpfliches Reservoir an Rätseln und Abenteuern auf mich wartete, hatte ich über Gebühr lange gefrönt. Jetzt wurde mir klar, daß das Reservoir Jahr für Jahr überschaubarer und letztlich endlich geworden war. Daß es hinterm Horizont wahrscheinlich nichts mehr zu entdecken gab, was ich nicht schon aus den neuen Medien kannte, und falls doch: daß ich dort niemals mehr wirklich allein sein würde in einer tatsächlich fremden Fremde. Mit der großen Freiheit, wie ich sie ein paar Jahrzehnte ausgekostet und, vor allem, von der ich auch zu Hause geträumt hatte, war es wirklich und endgültig vorbei. Wenn ich mich der Frage nach meinem Alltag als Reisender tatsächlich stellen wollte, konnte ich nicht länger weiterträumen – oder eigentlich: nicht länger so tun, als könnte ich mein restliches Leben einfach weiterträumen.

Denn eine weitere Reisefibel wollte ich ja nicht vorlegen. Dazu hätte ich meine Fahrten systematischer oder bis ins Extrem betrieben haben müssen, und statt Rekorden und Legenden habe ich nur Mitbringsel und Anekdoten gesammelt. Ich bin auch kein Reiseschriftsteller, sondern Schriftsteller, und als solcher reise ich – sofern ich Anlaß dazu habe. In den meisten Fällen freilich um der Sache selbst willen. Also nicht etwa, weil ich von der Fremde Inspiration oder zumindest Notizen erhoffe, eine Heimkehr ohne jede Notiz ist mir eigentlich die liebste. Und doch wären meine Bücher ohne all die Reisen nicht diese meine Bücher geworden, das schon.

Immer gibt es jemanden, der einen größeren Tiger im Dschungel gesehen hat als man selbst, immer jemanden, der eine ekelhaftere Speise aufgetischt bekam, der höhere Berge erklimmen und größere Meere austrinken durfte. Doch Grenzerfahrungen lassen sich auch schon am Fuß des Kilimandscharo machen oder, ganz ohne Höllenritt und Hardcore-Trip, in einem Kloster des Zen-Buddhismus. Auch ich betreibe das Reisen mit zum Teil ehrgeizigen und manchmal sogar vermessenen Ambitionen, zumindest für meine Verhältnisse. In der Hauptsache jedoch ist Reisen für mich praktische Philosophie. Den Wert einer Reise bemesse ich nicht nach ihrem Schwierigkeitsgrad, ihrer Exotik oder sonstigen Rahmenbedingungen, sondern nach den Erkenntnissen, die auf den Wegen der Neugier als Stolpersteine lagen.

Erleuchtung lauert überall, ob in den Hochgebirgswüsten Tadschikistans oder am Ballermann in Mallorca. In beiden Fällen muß man bloß mit dem gleichen Blick hinsehen. Selbst wenn ich gerade nur eine Lesereise absolviere, bin ich kein ganz untypischer Vertreter unsrer Zeit. So wie der Reisende früherer Epochen einer besonders ehrgeizigen Form des Müßiggangs frönte, die in Form der Bildungsreise vielleicht die schönste Spielart des Individualismus hervorgebracht hat, so ist der Reisende unsrer Zeit nicht selten ein Verdammter, der von den Verlockungen der globalisierten Welt unentwegt zu neuen Enttäuschungen getrieben wird, selbst dann noch, wenn er vor ihnen flieht.

Wo auch immer ich gerade bin, sobald ich aus der Haustür trete, sehe ich Menschen, die zumindest einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Wo auch immer ich Leute treffe, kommen sie trotz aller drängenden Gegenwartsfragen irgendwann auf ihre Reisen zu sprechen und auch gleich ins Schwärmen, als hätte das eine mit dem andern nichts zu tun. Ja was ist das denn, so frage ich mich rückblickend, was uns jahrzehntelang so beseelt und hinausgetrieben hat aus der Geborgenheit unsrer Behausungen? Was ging in uns vor, wenn wir in der Fremde versuchten, die selbstgesteckten Ziele halbwegs erfolgreich...

Blick ins Buch

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