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E-Book

Sommer vorm Balkan

Mein Leben zwischen Alpen und Adria

AutorDanijela Pilic
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641160210
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Jugoslawien ist ein Land, das nicht mehr existiert. Hier wird die Autorin geboren, hier wächst sie auf. Und ihre Herkunft nimmt sie überallhin mit, auch nach Deutschland, wohin sie als Zehnjährige mit ihrer Familie zieht. Die Geschichte ihrer serbischen und kroatischen Familie liest sich wie eine Vorahnung: Ausgerechnet als die neue Heimat wiedervereinigt wird, beginnt das Land ihrer Kindheit auseinanderzubrechen. Aus der Frage: Woher kommst du? wird nun auch: Wohin gehörst du? Leicht und melodisch erzählt Danijela Pilic von den Winden, dem Meer und den Farben ihrer Heimat, von ihren Dichtern, Bildhauern und Erfindern. Aber auch von ihren blutigen Grenzen, dem Exil als Überlebensstrategie und dem Pulverfass voller Lebensfreude, warum sie Sitzen auf unfertigen Mäuerchen immer einem langen Spaziergang vorziehen wird und wie es sich anfühlt, verschiedene Identitäten aufeinander zu packen wie Schichten in einem Kuchen.

Danijela Pilic, geboren 1971, ist seit Abschluss ihres Studiums im Fach Writing an der Middlesex University in London als Journalistin und Redakteurin in den Bereichen Mode, Lifestyle und People tätig, zuletzt als Editor At Large bei Vanity Fair. Zurzeit schreibt sie u.a. für den 'Playboy' und hat ein Stilblog auf glamour.de. 2010 erschien ihr erstes Buch 'Yoga Bitch. Wie Yoga nicht nur meinen Hintern, sondern auch mein Leben veränderte'. Danijela Pilic lebt und arbeitet in München.

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Leseprobe

Das Wiedersehen

Wie ein Sonnenstrahl, der sich unverzagt durch eine schwarze Wolke drängt und sie am unteren Rand hell werden lässt, immer heller, als hätte er mit einem Mal durch eine Eingebung das Wort gefunden, das das Gegenteil von dimmen bedeutet:

Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, eine Straße mitten in Belgrad, am nördlichen Ende des Tašmajdan Park. Gegenüber dem Theater Atelier 212 parkt ein silberner Mercedes 280 SL Pagoda französisch verwegen halbschief auf dem Gehweg, als würde das exquisite Automobil an sich zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort nicht schon genügend Auffallen erregen. Es ist Mai oder vielleicht September, es scheint eine sanfte, trotzige, wohlwollende Sonne vom Himmel. Auf der Fahrerseite, hinter einer Sonnenbrille, die man heute wohl als cool bezeichnen würde, sitzt ein hochgewachsener junger Mann mit hellem Haar und dalmatinischen Gesichtszügen, im Kofferraum sind zwei Koffer und zwei Tennisschläger, in der Innentasche seines Jacketts befindet sich sein weinroter Pass, die Farbe des Umschlags ein heißes Eisen im Kalten Krieg. Der Pass, auf dem in goldenen Buchstaben in lateinischer Schrift:

SFR JUGOSLAVIJA

und darunter in Kyrillisch:

СФР ЈУГОСЛАВИЈА

zu lesen ist, darüber abgebildet, auch in Gold, das Wappen mit dem Feuer und dem fünfzackigen Stern, ist bis auf die letzten zwei Seiten voll mit Visa und Ein- und Ausreisestempeln, nach grimmigem Durchblättern und dem Augen-Pass-Augen-Pass-Augen-Pause-Seufzer-Stempel-Spiel von westlichen Grenzbeamten mal knallend, mal widerwillig verabreicht. Doch er beklagt sich nicht, natürlich nicht, denn er darf reisen und spielen, und nur ein bisschen weiter östlich darf man gar nichts. Jetzt aber ist sein Kopf flau und sein Magen leer, oder umgekehrt, das Herz pocht so schnell und heiß, wie es sich geziemt, wenn es um Angelegenheiten des Herzens geht. Dabei ging es bei dieser ungeplanten Reise nach Belgrad eigentlich um Zollangelegenheiten, doch sobald er an der Straße Lole Ribara vorbeikam, verfuhr er sich dreimal, setzte zurück und blieb schließlich stehen, und mit dem satten Abdrehgeräusch des Motors wurden aus Zollangelegenheiten solche, die mit Sehnsucht und Erinnerung zu tun hatten.

Er sieht sich um, als wollte er nicht, dass man ihn wahrnimmt, denn obwohl er vor dem Theater parkt, weil er weiß, dass bald die Probenpause ist, sie hinauskommen könnte und sie sich nach zwei Jahren zum ersten Mal wiedersehen würden, will er seinen Besuch hier auch geheim halten, was allein dadurch – und das muss ihm klar sein – unmöglich ist, weil das Auto so viel Aufsehen erregt wie Sophia Loren in einem engen Kleid. So haben ihm (dem Auto, nicht ihm selbst) die Menschen hinterhergepfiffen, bewundernd wie hinter einer schönen Frau; sobald er damit in Split angekommen war, hatte sich die halbe Stadt um ihn versammelt. Menschentrauben! Nur sein Vater fragte, was soll denn dieses Auto, das hat ja nur zwei Sitze. Dann auf der Fahrt nach Belgrad, durchs dalmatinische Hinterland, das genau zu dieser Zeit als Kulisse für Cowboyfilme diente, an Filmdreharbeiten vorbei, durch die Herzegowina, durch Bosnien, nach Serbien, an Obstständen, Tankstellen und kleinen kavanas1 am Weg. Man bestaunt ihn, Gott fährt Mercedes, der Titel eines Liedes, das erst im neuen Jahrtausend würde komponiert werden, seiner Zeit nicht voraus, sondern drei Jahrzehnte hinterher. Schweres Silber außen, glitzernd und hart wie Diamantenstaub, dunkelblaues Leder innen und als Kennzeichen ST–11111. Seine Schulfreundin Branka arbeitete bei der Stelle für die Nummernschildvergabe und dachte, sie würde ihm damit eine Freude machen. Natürlich würde er in den nächsten elf Jahren damit noch mehr auffallen.

»Genosse Pilić, ich weiß ehrlich nicht, wie ich das jetzt besteuern soll«, schnaufte der feste Major, den er mitten in seiner marenda, dem in Dalmatien obligatorischem zweiten Frühstück, unterbrochen hatte. Er war erstaunlich flink zum Wagen gehüpft, hatte sich mit seinem Taschentuch noch den Mund abgewischt und dann die Schweißtropfen auf seiner Glatze drumherum getänzelt und gepfiffen ob dieses Wunders der deutschen Autobaukunst! Das Wunder war zwei Monate zuvor in der Fabrik in Stuttgart bestellt worden, und »Genosse Pilić« hatte es persönlich abgeholt, sobald es bereitstand, und dann von Stuttgart nach Split gefahren, direkt zum Hafen, wo das Amt für Zollangelegenheiten saß.

Der Major kratzte sich am Kopf, in einer Mischung aus Verlegenheit und Bewunderung, nur Genosse Tito besäße so einen, sagte er, und dann: »Eine Schönheit ist er – wie von Meštrović gemeißelt!«

»Ja. Danke. Aber es muss doch einen Steuersatz für einen Mercedes geben«, sagte Pilić etwas verzweifelt zum Major.

»Ich habe bei Gott noch nie so einen Wagen in unserem Land gesehen! Lassen Sie mich telefonieren.«

Das tat er also.

»Hm … verstehe … ein Pagoda, 280 SL … ja, verstehe, direkt dort, einen schönen Tag noch!«

Er wandte sich wieder an sein Gegenüber.

»Genosse Pilić, es hilft nichts. Sie müssen nach Belgrad, ich sage General Ivanović Bescheid, dass Sie kommen. Das muss in Belgrad geregelt werden, aber kommen Sie doch gerne noch einmal vorbei, wenn Sie wieder da sind!«

Gleich am nächsten Tag war er nach Belgrad aufgebrochen. Der Traum, den er sich mit dem Auto erfüllt hatte, sollte nicht einen Tag länger als nötig durch Behördenformalien ausgebremst und aufgeschoben werden. Es war eine lange Fahrt von Split nach Belgrad, 700 Kilometer, die ersten der rund 27000 Kilometer, die er in diesem Wagen im nächsten Jahrzehnt hinter sich bringen würde, und es war auch eine der schönsten, denn sie galt nur dem Auto selbst. Doch je näher er Belgrad kam, umso häufiger dachte er an sie. Und nun stand er an der Ecke der Straße Lole Ribara. Heute heißt die Straße Svetogorska und gehört zu den Top-drei-Straßen in Belgrad, deren Namen am häufigsten geändert wurde. Das dunkelblaue Straßenschild liest sich wie folgt:

Frühere Namen der Straße

Dva Bela Goluba 1872–1896

Svetogorska 1896–1922

Bitoljska 1922–1930

Žorža Klemensoa 1930–1943

Svetogorska 1943–1946

Lole Ribara 1946–1997

Ulica Svetogorska

Der erste Name, Dva Bela Goluba, »Zwei weiße Tauben«, ist der hübscheste, der erfolgreichste in der Kategorie »Comeback/Aller guten Dinge sind drei« ist der Name der Svetogorska. Warum man den Namen von Ivo Lola Ribar 1997 ändern musste, bleibt ein Rätsel, doch ausgerechnet in den Zeiten der größten Umbrüche und Krisen schienen in diesem Land Ideen für neue Straßennamen besonders gut anzukommen, als hätte man sich um nichts Dringenderes zu kümmern.

Belgrad. Beograd. Die weiße Stadt, beo grad, in der sich Donau und Sava treffen, auf achtundzwanzig Hügeln errichtet, zu diesem Zeitpunkt in der Geschichte neununddreißigmal zerstört und neununddreißigmal wieder aufgebaut. Kaum vorstellbar, und noch weniger, dass dieser Frieden nicht währen wird.

Er blickt an einer braunen Fassade hoch. Diese eigenartige Farbe: Er nennt sie Belgradbraun und findet sie so erhebend wie die Stadt selbst. Warum, fragte er sich, warum hatte ausgerechnet die weiße Stadt ein so sattes Braun vorzuweisen, das derart vielfältig war: charmant und gefährlich, wenn es bewölkt ist, und aufrichtig und hoffnungsvoll, wenn der Himmel blau leuchtete? In seiner Heimatstadt, in Split, im selben Land, Jugoslawien, nur 700 Kilometer weiter südlich, herrschte schon ein anderes Klima; allein das Himmelblau der beiden Städte fand er ähnlich flirrend. In Split gab es keine harten Winter, dafür Meer, keine Boulevards wie in Belgrad, dafür genauso schöne Mädchen. Ihm fiel jetzt dieser ganz besondere Stein ein, der, der in den Mauern von Diokletians Palast steckte und ihm Glück brachte, seit er ein Junge war. Als er noch innerhalb der Palastmauern wohnte, in den ersten sieben Jahren seines Lebens, entdeckte er ihn und legte seitdem, sooft er konnte, die linke Hand darauf, die, mit der er nicht schreiben durfte. Er tat dies so fest, bis seine Finger die maximale Spanne erreichten. Insgesamt drei Sekunden lang, eine für die Sekunden, auf die es ankam, eine für die Minuten, an die man sich erinnert, und eine für die Tage, die noch kommen. Und das alles tat er, obwohl er Aberglauben, im Gegensatz zu den meisten seiner jugoslawischen Landsleute, auf ein Minimalmaß beschränkte. Wie, wo und wann man sich die Nägel zu schneiden hat, was es bedeutet, wenn die rechte Handinnenfläche oder die Nase juckt oder wenn einem die Ohren brennen, wenn man Krümel verschüttet, wenn ein Hund Gras frisst, wenn man einen weißen Schmetterling erblickt, wo man einen Regenschirm aufbewahrt, oder was passiert, wenn man in eine faule Birne beißt – was in diesem oder jenem Falle, dann und dann nicht, passiert, all das wusste sein Volk, bei dem der Begriff »Aberglaube« wortwörtlich »Leerglaube« heißt. Denn man glaubt doch in Richtung große Leere, man betet, doch man weiß nicht genau, zu wem. Dass alle in Split den linken Zeh des großen Bischofs rieben, wollte ihm nie so recht einleuchten, denn selbst der fortunageladenste Zeh konnte doch nur ein begrenztes Kontingent an Glück enthalten.

* * *

Nur ein paar hundert Meter weiter nördlich des...

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