Sie sind hier
E-Book

Soziale Qualität der verschiedenen Sozialstaatskonzeptionen und die Zukunft des deutschen Sozialstaats

Mit einem Vergleich zum niederländischen 'Poldermodell'

AutorJochen Becker
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl123 Seiten
ISBN9783640187317
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Politik - Politische Systeme - Allgemeines und Vergleiche, Note: 1*, Justus-Liebig-Universität Gießen (Institut für Politikwissenschaften), 68 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Ausgehend von Definitionen der sozialen Rechte, der Sozialpolitik bzw. des Sozialstaats, von Armut und sozialer Ausgrenzung und von theoretischen Vorstellungen der Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat soll sich diese Arbeit zunächst mit der Analyse der 'Philosophie' und der 'sozialen Qualität' der verschiedenen Sozialstaatskonzeptionen beschäftigen. Auf der Basis einer Beschreibung des Aufbaus und der Charakteristika des deutschen und des niederländischen Sozialsystems, das hier zu einem kurzen Vergleich herangezogen werden soll (da es sich in seiner Ausgestaltung bis 1945 eng an das deutsche bismarcksche Sozialstaatsmodell anlehnte und sich nach 1945 am englischen liberalen Modell orientierte) möchte ich mich schließlich den Herausforderungen für die europäischen Sozialsysteme und im Besonderen für den deutschen Sozialstaat zuwenden. Im Anschluss will ich den - für diese Arbeit zentralen - Fragen nachgehen, wie anhand ausgewählter Reformperspektiven in der Literatur der deutsche Sozialstaat hinsichtlich seiner 'Zukunftsfähigkeit' weiterentwickelt bzw. reformiert werden könnte und inwiefern vor allem das niederländische Modell, aber auch Erfahrungen aus anderen Sozialstaatstypen Vorbild für das deutsche Sozialstaatsmodell sein könnten. Dabei wird vor allem die Finanzierungsfrage eine wichtige Rolle spielen, an der sich mögliche Reformen orientieren müssen. Zum Schluss soll zum einen ein kurzer Ausblick auf mögliche Trends bei der sozialstaatlichen Entwicklung gegeben und zum andern eine Zusammenfassung meiner Arbeit präsentiert bzw. ein persönliches Fazit zu den Reformansätzen gezogen werden.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2. Soziale Rechte und Sozialpolitik


 

2.1 Definitionen


 

Zum Verständnis des Begriffs der sozialen Rechte möchte ich zunächst Wolf-Dieter Narr zitieren: „Bürger- und Menschenrechte sind nur sinnvoll vorstellbar, wenn man sie als klassische Menschenrechte und als soziale Rechte versteht. Soziale Rechte sind hierbei immer aktive Rechte; es genügt nicht, sicherzustellen, dass Leute etwas Geld bekommen. Die Würde des Menschen kann nicht darin bestehen, dass er nur wartet und nimmt, was ihm gegeben wird, sondern indem er aktiv sein Schicksal mitbestimmen kann.“[1]

 

Franz-Xaver Kaufmann lehnt sich schließlich an den britischen Soziologen T.H. Marschall an, wenn er die sozialen Rechte als Teilhaberechte beschreibt, welche sich nicht auf die Teilhabe an den staatlichen, sondern an den gesellschaftlichen Angelegenheiten beziehen. Allerdings seien diese auf staatliche Interventionen in die gesellschaftlichen Verhältnisse angewiesen. Schließlich nimmt er Bezug auf Talcott Parsons und Niklas Luhmann, die den Begriff der Inklusion entwickelten. Parsons versteht darunter die Anerkennung des Menschen als Mitglied einer gesellschaftlichen Gemeinschaft.[2] Luhmann definiert die Notwendigkeit der Inklusion nach der Beseitigung feudaler Bindungen funktional: „Jede Person muß danach Zugang zu allen Funktionskreisen erhalten können. Jeder muß rechtsfähig sein, eine Familie gründen können, politische Macht ausüben oder doch mit kontrollieren können; jeder muß in Schulen erzogen werden, im Bedarfsfalle medizinisch versorgt werden, am Wirtschaftsverkehr teilnehmen können. Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruhte, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.“[3]

 

Unmittelbar aus der Erfahrung des Kriegsausbruchs heraus veröffentlichte der französische Philosoph Jacques Maritain (1882-1973), nach Kaufmann einer der konzeptionellen Vordenker sozialer Rechte, eine Reihe von Artikeln, in denen er u.a. die moralische Erneuerung auf der Basis eines vom Paternalismus losgesagten Christentums forderte. Menschenrechte berufen sich dabei auf die unveränderliche Würde des Menschen als Geschöpf Gottes und hängen trotzdem von den jeweiligen kulturellen und materiellen Umständen ab. Im Zusammenhang der sozialen Grundrechte postuliert er das Recht des Menschen auf eine möglichst selbstbestimmte Arbeit als Charakteristikum einer gerechten Wirtschaftsordnung. Drei Arten von Menschenrechten unterscheidet er: 1. Rechte der menschlichen Person (u.a. Freiheitsrechte, Recht auf körperliche Unversehrtheit), 2. Rechte als Bürger (z.B. politische Selbstbestimmung des Volkes, allgemeines Wahlrecht), 3. Rechte als soziale und arbeitende Person (Recht auf Arbeit und freie Berufswahl, auf gerechten Lohn und Mitbestimmung, auf Hilfe der Gemeinschaft in Not, Arbeitslosigkeit und Alter und auf unentgeltliche Teilhabe an elementaren materiellen und kulturellen Gütern der zeitgenössischen Zivilisation). Das Konzept der sozialen Grundrechte führt er auf die Naturrechtstraditionen der Stoa (das Naturrecht basiert auf der in jedem Menschen innewohnenden „Allvernunft“), des Christentums bzw. des Thomas von Aquin (1224/5-1273, „jeder Mensch ist als Geschöpf Gottes Inhaber des Naturrechts“) zurück.[4]

 

Doch wie werden soziale Rechte politisch verwirklicht? Welche „soziale“ Philosophie sollte in der Sozialpolitik (SP) realisiert werden? Dazu van der Borght: „Sozialpolitik im allgemeinen Sinne des Wortes ist die Gesamtheit der Maßnahmen, die das Gemeinwohl durch Einwirkung auf die Verhältnisse der zum Gemeinwesen gehörigen Gesellschaftsklassen zu fördern bezwecken.“[5] Boeckh/ Huster/ Benz (B/H/B) beschreiben den „Charakter“ der SP abstrakter: „Sozialpolitik ist der materielle und prozesshafte Ausdruck der erreichten, der angestrebten, der abzuändernden Sozialstaatlichkeit. In ihr kommen die Konflikte im Spannungsfeld von Akkumulation und sozialer Integration ebenso zum Tragen wie die Einbeziehung bzw. Ausgrenzung externer Einflüsse im jeweiligen Sozialraum.“[6]

 

Christoph Budderwegge unterscheidet zwischen sozialer Politik und Sozialpolitik. Danach bezeichnet die SP das dazugehörige Politikfeld, die „soziale Politik“ beschreibe dagegen den Gehalt bzw. die Funktion einer bestimmten SP. Weiterhin kennt er drei Formen der SP: die emanzipatorische, die kompensatorische und die kompetitorische. Erstere diene der Befreiung unterversorgter bzw. privilegierter Gesellschaftsmitglieder von Zwängen, die sie behinderten, ein gutes Leben zu führen und sich weiterzuentwickeln. Die kompensatorische SP gleiche die durch das bestehende Wirtschaftssystem verursachten Nachteile aus, während die kompetitorische die Akzeptanz seiner Konkurrenzprinzipien fördere, um ein reibungsloses Funktionieren des Wirtschaftssystems zu gewährleisten. Letztere habe im Rahmen der aktuellen Globalisierungs- und Europäisierungsdiskussion an Bedeutung gewonnen.[7] „Sozialpolitik ist Sisyphusarbeit, weil sie ihr Endziel - gleiche Entwicklungsmöglichkeiten für alle Gesellschaftsmitglieder herzustellen - nie erreicht, aber immer wieder Teilerfolge hinsichtlich der Schaffung sozialer Gerechtigkeit aufzuweisen hat, die ohne ihre Bemühungen ausbleiben würden.“[8] Damit SP die in einer auf dem Marktprinzip beruhenden Gesellschaft vorkommenden materiellen Niveauunterschiede mindestens soweit ausgleichen könne, dass eine friedliche Koexistenz der Menschen möglich sei, müssten gesellschaftliche Akteure, Klassen und Schichten mit Nachdruck entsprechende Forderungen erheben.[9]

 

Nach Hermann Heller (1891-1933, deutscher Jurist und Staatsrechtslehrer)[10] stellt SP ein hartes Geschäft der sozialen Integration dar, bei der auch die eigenen Interessengrundlagen aus dem Blick geraten könnten. Trotzdem habe es in der Historie keine Alternative dazu gegeben, da ein Verzicht auf SP mit der Gefährdung oder Beseitigung der Demokratie bzw. sogar mit Krieg und dem damit verknüpften Leid verbunden gewesen sei.[11]

 

2.2 Die Entstehung des „sozialen Bewusstseins“


 

Im Laufe der Neuzeit wurden die Probleme Unwissenheit, Armut und Krankheit nicht mehr im Sinne, sondern im sozialen Sinne thematisiert. Allerdings war der Diskurs über das Elend stets von den Ängsten und Hoffnungen der Etablierten gegenüber den Armen geprägt. Nach Abram de Swaan sind arbeitslose Jugendliche bis heute als potentielle Kriminelle oder Rabauken gefürchtet (wie an den im November 2005 in allen Zeitungen lesbaren Äußerung - „die sozialen Brennpunkte müssten vom Gesindel befreit werden“ - des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy anlässlich der vielen gewalttätigen Ausschreitungen am Rande von Paris deutlich wurde)[12]. Aus soziologischer Sicht gehen gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität, Vandalismus oder Drogenmissbrauch auf sozioökonomische Deprivation und somit auf einen Mangel an sozioökonomischen Teilhaberechten zurück. Seit den Phasen der Vollbeschäftigung verkörperten die Randgruppen als „industrielle Reservearmee“ und als ein „Segment des Verbrauchermarktes“, so de Swaan, auch „große Potentiale“. Außerdem würden sie als Wähler umworben.[13]

 

Die Neuzeit veränderte aber auch die Einsicht, dass Menschen durch soziale Umstände geprägt sind und somit die Armen einem Wohlhabenden sehr ähnlich sind. Parallel erweitere sich der Horizont des Diskurses um die Armen. N nicht mehr der „Nächste“, wie noch in der christlichen Barmherzigkeitslehre“ war das Objekt der Fürsorge, sondern die Armen als weitläufige Gruppe, bis zum Rande der neuzeitlichen Welt. Wachsende gesellschaftliche Interdependenzen (u.a. zunehmende Arbeitsteilung, staatliche Maßnahmen) und auftretende gesellschaftliche Umwälzungen (z.B. Kriege, Seuchen, Revolutionen) machten den Menschen ihre soziale „Verstrickung“ deutlicher: „Verbindet sich das Wissen um die wachsenden Abhängigkeiten mit der Bereitschaft, kollektive Vorsorgemaßnahmen zu unterstützen, nennen wir dies soziales Bewußtsein. Dieser zunächst kognitive Zustand setzt voraus, langfristige soziale Fernwirkungen mitzudenken. Er bringt ein allgemeines Verantwortungsgefühl mit sich, weshalb der Begriff auch moralische Konnotationen hat.“[14] Nach Thomas Haskell, auf den de Swaan Bezug nimmt, habe die marktorientierte Lebensform im Lauf der Zivilisation ein leicht berechnendes, ziemlich forsches Auftreten gefördert und die Menschen gelehrt, Wort zu halten bzw. die langfristigen Folgen ihrer Handlungen zu bedenken. Die entstandenen Kausalverknüpfungen zwischen den Menschen (und das Gefühl direkt kausal in die Leiden Mittelloser verstrickt zu sein) ebneten schließlich den Weg zum Humanismus.[15]

 

Blieb das humanitäre Empfinden zunächst auf eine überwiegend bürgerliche Minderheit beschränkt, so entwickelte sich, als Massen von Menschen zur Arbeit gingen, ein proletarisches Empfinden der Solidarität mit...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Hochschulschriften - Diplomarbeiten

Evidence-based Management

E-Book Evidence-based Management
Darstellung der grundlegenden Zusammenhänge und kritische Auseinandersetzung Format: PDF

Studienarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich BWL - Controlling, Note: 2,0, Hochschule Ludwigshafen am Rhein, Veranstaltung: Neuere Ansätze des Managements, Sprache: Deutsch, Abstract: Evidence-…

Evidence-based Management

E-Book Evidence-based Management
Darstellung der grundlegenden Zusammenhänge und kritische Auseinandersetzung Format: PDF

Studienarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich BWL - Controlling, Note: 2,0, Hochschule Ludwigshafen am Rhein, Veranstaltung: Neuere Ansätze des Managements, Sprache: Deutsch, Abstract: Evidence-…

Bushido: Gangster-Rapper oder Spießer?

E-Book Bushido: Gangster-Rapper oder Spießer?
Eine Untersuchung zur Authentizität Bushidos auf der Grundlage von Interviews, Talkshow-Auftritten, kritischen Medienberichten und dem Film 'Zeiten ändern dich' Format: PDF/ePUB

Studienarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Soziologie - Medien, Kunst, Musik, Note: 1,3, Technische Universität Dortmund, Veranstaltung: Geschichte der Rockmusik, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Vom…

Weitere Zeitschriften

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

Deutsche Tennis Zeitung

Deutsche Tennis Zeitung

Die DTZ – Deutsche Tennis Zeitung bietet Informationen aus allen Bereichen der deutschen Tennisszene –sie präsentiert sportliche Highlights, analysiert Entwicklungen und erläutert ...

DGIP-intern

DGIP-intern

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP) für ihre Mitglieder Die Mitglieder der DGIP erhalten viermal jährlich das Mitteilungsblatt „DGIP-intern“ ...

DHS

DHS

Die Flugzeuge der NVA Neben unser F-40 Reihe, soll mit der DHS die Geschichte der "anderen" deutschen Luftwaffe, den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee (NVA-LSK) der ehemaligen DDR ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...

Euphorion

Euphorion

EUPHORION wurde 1894 gegründet und widmet sich als „Zeitschrift für Literaturgeschichte“ dem gesamten Fachgebiet der deutschen Philologie. Mindestens ein Heft pro Jahrgang ist für die ...

Euro am Sonntag

Euro am Sonntag

Deutschlands aktuelleste Finanz-Wochenzeitung Jede Woche neu bietet €uro am Sonntag Antworten auf die wichtigsten Fragen zu den Themen Geldanlage und Vermögensaufbau. Auch komplexe Sachverhalte ...