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Sozialer Kapitalismus!

Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft - Mit einem Vorwort für die deutsche Ausgabe

AutorPaul Collier
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641233426
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Der Alarmruf eines weltbekannten Ökonomen - ausgezeichnet mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis
Paul Collier, einer der bedeutendsten Ökonomen unserer Zeit und besonders in Deutschland hochgeschätzt, legt ein Manifest für einen erneuerten Kapitalismus vor. Seine Diagnose: Es geht nicht nur um Verteilung zwischen Arm und Reich, viel gefährlicher ist der neue Riss durch das Fundament unserer Gesellschaft - zwischen den städtischen Metropolen und dem Rest des Landes, zwischen den meist urbanen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung. Eine Ideologie des Einzelnen greift um sich, die auf Selbstbestimmung beharrt, auf Konsum abzielt und sich dabei von der Idee gegenseitiger Verpflichtungen verabschiedet. 'Die Rottweiler-Gesellschaft', so Collier, 'verliert den Sinn für sozialen Zusammenhalt' - und in dieses Vakuum stoßen Populisten und Ideologen. Schonungslos und leidenschaftlich verurteilt der konservative Ökonom diese neue soziale und kulturelle Kluft. Und er präsentiert ein sehr persönliches Manifest für einen sozialen Kapitalismus, der auf einer neuen Ethik der Gemeinschaft beruht.

Paul Collier, geboren 1949 in Sheffield, ist einer der wichtigsten Wirtschaftswissenschaftler der Gegenwart. Er war Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank und lehrt als Professor für Ökonomie an der Universität Oxford. Seit vielen Jahren forscht er über die ärmsten Länder der Erde und untersucht den Zusammenhang zwischen Armut, Kriegen und Migration. Sein Buch »Die unterste Milliarde« (2008) sorgte international für große Aufmerksamkeit und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lionel Gelber Prize und der Corine. Im Siedler Verlag erschienen außerdem »Gefährliche Wahl« (2009), »Der hungrige Planet« (2011), »Exodus« (2014) - eines der wichtigsten Bücher zur Migrationsfrage - sowie »Gestrandet« (2017, mit Alexander Betts). Sein Buch »Sozialer Kapitalismus!« wurde 2019 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Das Ende der Gier« (2021, mit John Kay).

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Leseprobe

1 Die neuen Ängste


Leidenschaft und Pragmatismus


Tiefe Risse bedrohen den Zusammenhalt in unseren Gesellschaften. Bei den Menschen lösen sie neue Ängste und neue Wut aus, in der Politik entfachen sie neue Leidenschaften. Die sozialen Ursachen für diese Ängste haben mit Geografie, Bildung und Wertvorstellungen zu tun: Die ländlichen Regionen rebellieren gegen die Metropolen, Nordengland gegen London, Sachsen gegen Berlin, das Landesinnere gegen die Küstenstriche, die Gering- gegen die Hochqualifizierten, die notdürftig über die Runden kommenden Arbeiter und Angestellten gegen die »Schmarotzer« und »Absahner«. Der minderqualifizierte, sich abrackernde Kleinstädter hat die Arbeiterklasse als die revolutionäre gesellschaftliche Kraft abgelöst: An die Stelle der Sansculottes sind die Sans Cool getreten, jene, die nicht mehr ruhig und gelassen bleiben. Was empört diese Menschen?

Der Wohnort ist zu einer Dimension der neuen Missstände geworden; nachdem die geografischen ökonomischen Ungleichheiten lange Zeit geschrumpft waren, haben sie sich zuletzt wieder deutlich verschärft. Überall in Nordamerika, Europa und Japan hängen städtische Ballungsräume die ländlichen Gebiete ab. Nicht nur ihre Wirtschaftsleistung und damit der Lebensstandard sind weitaus höher, auch sozial entkoppeln sie sich immer mehr und sind nicht länger repräsentativ für das Land, dessen Hauptstadt und Zentrum sie oftmals bilden.

Aber selbst innerhalb der dynamischen Metropolen ist der erstaunliche Zuwachs an Wohlstand sehr ungleich verteilt. Die neuen Erfolgreichen sind weder Kapitalisten noch gewöhnliche Arbeiter, sondern Gebildete, die über neue Kompetenzen verfügen. Sie haben sich selbst zu einer neuen Klasse formiert; sie lernen sich an den Hochschulen kennen und prägen ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl aus, bei dem Wertschätzung auf Qualifikation beruht. Sie haben sogar eine eigene Ethik entwickelt, die Merkmale wie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und die sexuelle Orientierung zu Gruppenidentitäten mit Opferstatus erhebt. Ausgehend von ihrer ausgeprägten Sorge um Opfergruppen, nehmen sie für sich selbst in Anspruch, den weniger Gebildeten moralisch überlegen zu sein. Nachdem sie sich selbst zu einer neuen Führungsklasse erhoben haben, ist ihr Vertrauen in den Staat und ineinander höher denn je.

Während die Gebildeten besser dastehen und die volkswirtschaftlichen Durchschnittswerte mit sich nach oben ziehen, stecken die geringer Qualifizierten sowohl in den Metropolen als auch auf dem Land in der Krise und werden zuweilen als »weiße Arbeiterschaft« stigmatisiert. Das Syndrom des Niedergangs begann mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, die den Menschen Sinn und Halt gaben. Im Zuge der Globalisierung wurden viele Stellen für angelernte Arbeitskräfte nach Asien verlagert, und der technologische Fortschritt vernichtet viele weitere Jobs. Der Arbeitsplatzverlust hat zwei Altersgruppen besonders hart getroffen: ältere Arbeitnehmer und Berufseinsteiger.

Bei älteren Arbeitnehmern führt Erwerbslosigkeit oft zum Auseinanderbrechen ihrer Familien, Drogen- und Alkoholkonsum sowie Gewalttätigkeit. In den USA schlägt sich die dadurch oftmals ausgelöste persönliche Sinnkrise in einer sinkenden Lebenserwartung für Weiße ohne Collegeabschluss nieder, und dies zu einer Zeit, in der bei begünstigteren Gruppen dank des beispiellosen medizinischen Fortschritts ein rascher Anstieg der Lebenserwartung zu verzeichnen ist.[1] In Europa haben soziale Sicherungsnetze die Folgen des Syndroms abgemildert, aber auch hier ist es weit verbreitet, und in den am schlimmsten betroffenen Städten wie dem nordenglischen Blackpool sinkt die Lebenserwartung ebenfalls. Arbeitslose über fünfzig fühlen sich überflüssig und wertlos. Geringqualifizierten jungen Menschen ergeht es kaum besser. In vielen europäischen Ländern sind Jugendliche von Massenarbeitslosigkeit betroffen: Gegenwärtig sind ein Drittel der jungen Italiener arbeitslos, eine Größenordnung, die zuletzt während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre erreicht wurde. Erhebungen zeigen ein beispielloses Ausmaß an Pessimismus unter jungen Leuten: Die meisten rechnen damit, dass sie einmal einen geringeren Lebensstandard als ihre Eltern haben werden. Laut einer Umfrage ging im Jahr 2017 in Deutschland lediglich jeder Achte der zwischen 1980 und der Jahrtausendwende geborenen »Millenials« davon aus, dass es ihm finanziell besser gehen werde als seinen Eltern. Und dies ist auch nicht abwegig; in den letzten vierzig Jahren verschlechterte sich die ökonomische Leistungsbilanz des Kapitalismus. Die Weltfinanzkrise von 2008/2009 hat dies offensichtlich gemacht, aber schon seit den achtziger Jahren nahm der Pessimismus stetig zu. Der Kapitalismus löste sein wichtigstes Versprechen – einen ständig steigenden Lebensstandard für alle – immer weniger ein: Einige profitierten weiterhin, aber andere wurden abgehängt. In den USA, dem Musterland des Kapitalismus, steht die Hälfte der in den achtziger Jahren Geborenen schlechter da als die Generation ihrer Eltern im gleichen Alter.[2] Für sie funktioniert der Kapitalismus nicht. In Anbetracht der enormen Fortschritte in Technologie und politischer Ordnungsgestaltung seit den achtziger Jahren ist dieses Versagen erstaunlich. Diese Fortschritte, die ihrerseits auf dem Kapitalismus basieren, ermöglichen es grundsätzlich jedem, seinen Wohlstand deutlich zu mehren. Aber die meisten Menschen erwarten heute, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen. Unter weißen amerikanischen Arbeitern teilen sogar erstaunliche 76 Prozent diese Sorge.[3] Und die Europäer sind noch pessimistischer eingestellt als die Amerikaner.

Die Ressentiments der Geringqualifizierten sind von Ängsten geprägt. Sie merken, dass sich die Gebildeten gesellschaftlich und kulturell von ihnen distanzieren. Und sie gelangen zu dem Schluss, dass sowohl die Distanzierung als auch das Aufkommen stärker begünstigter Gruppen, die ihrer Wahrnehmung nach Leistungen – unverdientermaßen – absahnen, ihre eigenen Ansprüche auf Unterstützung schwächen. Ihr Glauben an den Fortbestand ihres sozialen Sicherungsnetzes wird just in dem Moment erschüttert, in dem sie selbst stärker denn je darauf angewiesen sind.

Angst, Wut und Verzweiflung haben die politischen Loyalitäten der Menschen, ihr Vertrauen in den Staat und sogar ihr gegenseitiges Vertrauen untergraben. Menschen mit niedrigem Bildungsstand trugen jeweils die Rebellion, die in den USA Donald Trump Hillary Clinton besiegen ließ, die in Großbritannien dem Brexit-Lager zum Sieg verhalf, die in Frankreich die Anti-Establishment-Parteien von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon über 40 Prozent der Stimmen verschaffte (und die regierenden Sozialisten auf unter 10 Prozent drückte) und in Deutschland die Große Koalition so viele Stimmen kostete, dass die AfD zur stärksten Oppositionspartei im Bundestag wurde. Die Bildungskluft wird durch die geografische Kluft verstärkt. London stimmte mit großer Mehrheit für den Verbleib, New York mit großer Mehrheit für Clinton, Paris zeigte Le Pen und Mélenchon die kalte Schulter, und Frankfurt ließ bei der Bundestagswahl 2017 die AfD abblitzen. Die radikale Opposition kam aus der Provinz. Der Aufruhr war eine Altersfrage, aber nicht in dem schlichten Sinne von Alt gegen Jung. Sowohl ältere Arbeiter, die in dem Maße ausgegrenzt worden waren, wie ihre Fähigkeiten an Wert verloren, als auch junge Menschen mit schlechten Aussichten am Arbeitsmarkt wandten sich den Extremen zu. In Frankreich stimmte die Jugend überproportional für die in »neuer Optik« auftretende extreme Rechte, in Großbritannien und den USA stimmte sie überproportional für die extreme Linke in neuem Look.

Die Natur verabscheut das Vakuum, und das Gleiche tun Wähler. Die aus der Kluft zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was möglich ist, gespeiste Frustration hat zwei Typen von Politikern Auftrieb gegeben, die ihre Chance witterten: Populisten und Ideologen. Das letzte Mal, als der Kapitalismus aus der Bahn geworfen wurde, in den dreißiger Jahren, geschah das Gleiche. Die aufziehenden Gefahren wurden von Aldous Huxley in Schöne neue Welt (1932) und George Orwell in 1984 (1949) plastisch beschrieben. Das Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 schien mit der glaubwürdigen Aussicht verbunden zu sein, dass all diese Katastrophen ein für alle Mal hinter uns lägen: Wir waren am »Ende der Geschichte« angelangt, in einer permanenten Utopie. In Wahrheit spricht vieles dafür, dass wir unsere eigene Dystopie erschaffen.

Die neuen Ängste wurden umgehend mit den alten ideologischen Rezepten beantwortet, die uns zurückwerfen auf die altbekannte, fruchtlose Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts. Eine Ideologie bietet die verlockende Kombination aus einfachen moralischen Gewissheiten und einer universellen Analyse, die eine selbstgefällige Antwort auf jedes Problem bereithält. Die nun wiederbelebten Ideologien des Marxismus des 19. Jahrhunderts, des Faschismus des 20. Jahrhunderts und des religiösen Fundamentalismus des 17. Jahrhunderts haben ganze Gesellschaften ins Unglück gestürzt. Weil die Ideologien scheiterten, verloren sie die meisten ihrer Anhänger, und so standen nur wenige ideologisch geprägte Politiker zur Verfügung, um sie wiederzubeleben. Sie gehörten Organisationen an, die weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versunken waren: Menschen, die anfällig für die paranoide Vorstellungswelt ihrer jeweiligen »Sekte« und zu engstirnig waren, um sich der Tatsache des vergangenen Scheiterns zu stellen. In dem Jahrzehnt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989...

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