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Sozialrevolutionärer Terrorismus

Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien

VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl482 Seiten
ISBN9783531917764
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis59,99 EUR
Sozialrevolutionärer Terrorismus in seiner Breite und ideologischen Bezügen ist zu einem Stiefkind der Forschung degeneriert. Waren die relevanten Organisationen der sechziger und siebziger Jahre (RAF, Bewegung 2. Juni, Rote Brigaden, Tupamaros) eins der dominante Faktor der Berichterstattung, so fristen sie heuten ein Schattendasein neben dem die Agenda beherrschenden transnationalen Netzwerkterrorismus. Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht dabei nicht allein die historische Analyse der wichtigsten europäischen wie überseeischen sozialrevolutionären Gruppierungen, sondern deren ideologischer Bezugsrahmen sowie gemeinsame Entstehungs- und Zerfallsbedingungen. Wie an taktischen und ideologischen Grenzfällen deutlich wird, findet sich aber auch im Terrorismus moderner Prägung sozialrevolutionäres Gedankengut. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der sozialrevolutionär motivierte Terrorismus nicht mit dem Kollaps des real existierenden Sozialismus sein Ende gefunden hat. Angesichts von Negativeffekten der Globalisierung und fortschreitender sozialer Deprivation auch in Industriegesellschaften können sozialrevolutionäre Motive auch zukünftig Motive für Terroristen sein.

Dr. Alexander Straßner ist Akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg.

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Leseprobe
"2 Die „Narodnaya Wolya"": Motivation und Organisationsstruktur (S. 150-151)

Noch vor der endgültigen Spaltung der „Zemlya i volya"" sammelte der radikale Michailow gleichgesinnte Genossen in einem Geheimzirkel um sich. Diese bezeichneten sich als „Vollzugskomitee""17 oder auch „Exekutivkomitee""18, welches sich vor der Versammlung in Woronesch, wo die Teilung der „Zemlya i volya"" offiziell vollzogen wurde, in dem Kurort Lipezk traf. Dort berieten sie sich über die Zukunft des revolutionären Kampfes und wollten einem drohenden Ausschluss aus der „Zemlya i volya"" durch Formierung einer eigenständigen Organisation zuvorkommen.

„Die versammelten 11-12 Menschen schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, nahmen das von Morosow [ein Wortführer der Radikalen, Anm. d. Verf.] verfasste Statut an, indem als Ziel der Organisation die Niederwerfung des Selbstherrschertums und die Eroberung politischer Freiheiten, als Mittel aber bewaffneter Kampf gegen die Regierung ausgesprochen wurde.""19 Damit war die Stoßrichtung der Gruppe klar und der Bruch mit den Friedfertigen der „Zemlya i volya"" präjudiziert. Auf der Konferenz in Woronesch traten die gewaltbereiten Revolutionäre als geschlossene Fraktion auf. Die neu gegründete „Narodnaya Wolya"" verurteilte dort sogleich den Zaren Alexander II. zum Tode. Damit gaben sie zugleich Zielsetzung und Programm bekannt.

Von der Ermordung des Zaren erhoffte sich die „Narodnaya Wolya"" zweierlei. Zum einen fürchteten sie eine Verzögerung des revolutionären Umsturzes aufgrund der Reformbemühungen des Zaren. Zum anderen wollten sie durch die Ermordung des obersten Repräsentanten des Zarenregimes deutlich machen, dass sie nicht gegen eine Einzelperson, sondern gegen das gesamte politische System kämpfte, das diese Person verkörperte. Da es sich bei Alexander II. zudem um einen, im Vergleich zu seinem Vorgänger, relativ milden Herrscher handelte, sollte dies besonders augenscheinlich werden.20 Da sich die Organisation aus verschiedenen Motiven für den Zarenmord entschloss, gab es kein fundiertes politisches Programm.

Ein solches hätte die „Narodnaya Wolya"" vor erhebliche Probleme gestellt, zumal sich die Gruppe durchaus bewusst war, dass die Aktivisten unterschiedliche politische Ansichten hatten. „Wir fragten nur: Bist Du bereit, sofort Dein Leben, Deine persönliche Freiheit und alles, was du besitzt, für die Befreiung des Vaterlandes hinzugeben?""21 Die Organisation setzte sich folglich aus Anhängern verschiedener politischer Strömungen zusammen: Anarchisten, Sozialisten und Liberale. Alle einte jedoch das Ziel, die Staatsmacht im Mark zu treffen, um diese schließlich zu zerstören. „Most of the members envisioned not the building of a new system of government but the killing of an incubus.""

Die „Narodnaya Wolya"" war zu der Auffassung gekommen, dass eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse, wie es sich die Anhänger der einstigen „Zemlya i volya"" wünschten, erst nach der Beseitigung der Zarenherrschaft möglich sei.23 Ferner erhofften sie sich nach der Ermordung des Zaren ein Aufbegehren des gesamten Volkes und so schließlich den revolutionären Umsturz. Diese Ansicht teilte auch der russische Anarchist Kropotkin mit ihnen, der zeitgleich für eine derartige „Propaganda der Tat"" vom europäischen Exil aus warb.24

Indem ihnen primär an der Zerschlagung der Zarenherrschaft lag, entsprachen sie den zeitgenössischen anarchistischen Ideen von politischer Freiheit. Aus anarchistischer Sicht kann Freiheit nur erlangt werden, wenn jegliche Form von Herrschaft zerstört wird. Hierin wird deutlich, weshalb die „Narodnaya Wolya"" gemeinhin als anarchische Terrororganisation eingeordnet wird und ihre Taten von führenden anarchistischen Theoretikern wie etwa Pjotr Kropotkin befürwortet wurden.Da jedoch ein fundiertes Programm für die Zeit nach dem Zarenmord fehlte, fällt es schwer eine Begründung für die Einordnung der „Narodnaya Wolya"" als anarchische Terrororganisation zu finden. Aufgrund der vielfältigen politischen Strömungen, die in der Gruppe vereint waren, würde eine derartige Zuordnung die unterschiedlichen Beweggründe der Aktivisten überdecken. "
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
Sozialrevolutionärer Terrorismus: Typologien und Erklärungsansätze8
I. Die Heterogenität sozialrevolutionärer Grundlagen33
Terrorismus als Revolutionshindernis: Karl Marx und Friedrich Engels34
Der Katechismus des Revolutionärs: Sergej Nechaev44
Anarchismus im Zarenreich: Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin53
Die Idee der „Permanenten Revolution“: Leo Trotzki65
Die Avantgarde als Keimzelle der Revolution: Vladimir I. Lenin73
Angewandte Guerillatheorie: Mao Tse Tung82
Die Theorie der Revolutionsherde: Befreiung der Dritten Welt oder Wegbereiter des Terrorismus?91
Gewalt als Widerstandsrecht? Herbert Marcuse109
Die Frankfurter Schule – Das Primat der Theorie119
II. Organisationen139
A. Klassische sozialrevolutionäre Organisationen139
B. Strukturelle und ideologische Grenzfälle350
Folgerungen439
Die Zukunft des sozialrevolutionären Terrorismus440
Anhang467
Die Autorinnen und Autoren468

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