Dieses Kapitel wird sich mit dem Phänomen der Sprachdominanz im bilingualen Spracherwerb beschäftigen. Zunächst werden starke und schwache Sprache näher charakterisiert und Einflussfaktoren aufgezeigt, die Sprachdominanz konstituieren. Die bereits in Kapitel 2 erörterten internen Phänomene des bilingualen Spracherwerbs sollen noch einmal aufgegriffen und in Zusammenhang mit dem Phänomen der Sprachdominanz gebracht werden. In der Literatur vorgeschlagene quantitative und qualitative Kriterien zur Messung von Sprachdominanz sollen das Kapitel abrunden.
Zum besseren Verständnis, welche Eigenschaften die starke und die schwache Sprache bilingualer Kinder besitzt, werde ich eine Studie zur Sprachdominanz der Wissenschaftlerin Berman (1979) vorstellen. Dadurch soll das Phänomen der Sprachdominanz näher definiert werden.
Bei der starken Sprache handelt es sich meist um die sich schneller entwickelnde und weiter fortgeschrittene Sprache, wobei nicht genau festgesetzt ist, wie weit sie entwickelt sein muss, um als die ‘dominante Sprache’ zu gelten. Es werden dabei Parallelen zwischen dem Entwicklungsverlauf der starken Sprache bilingualer Kinder und der Sprachentwicklung monolingualer Kinder gezogen (vgl. Müller u.a. 2011: 65). Die Autoren Kielhöfer und Jonekeit (1993: 11) sprechen vom “Grad der jeweiligen Sprachbeherrschung”, der vorhanden sein muss, um überhaupt von Zweisprachigkeit sprechen zu können. Da sie davon ausgehen, dass immer ein bestimmter Grad an Unbalanciertheit zwischen beiden Sprachen gegeben ist, schließen sie dieses Ungleichgewicht zwischen den Sprachfertigkeiten sogar in ihrer Definition für Bilinguismus mit ein (1993: 12): “Zweisprachigkeit ist in der Regel durch das Miteinander einer starken und einer schwachen Sprache bestimmt.”
Durch erste Sprachdominanzstudien Ende der 1950er Jahre fand man heraus, dass Fertigkeiten der starken Sprache meist auf Kompetenz- und Performanzebene vorhanden sind, wohingegen die schwache Sprache Defizite auf beiden Ebenen aufweist (vgl. Müller u.a. 2011: 68). Anhand einer näheren Betrachtung der Studie Bermans (1979) sollen nun einige Faktoren aufgezeigt werden, die zur Dominanz in einer Sprache führen können.
Berman erforschte das Sprachverhalten des englisch-hebräischsprachigen Kindes Shelly. Bis Shelly zweieinhalb Jahre alt war lebte sie mit ihrer englischsprachigen Familie in Israel. In dieser Zeit galt sie als hebräisch-dominant. Die Bereiche der Sprachproduktion und des Sprachverständnisses waren bei Shellys Hebräisch weit fortgeschritten. Ihre Englischkenntnisse waren lediglich auf den Bereich des Sprachverständnisses beschränkt (vgl. Patuto 2012: 93). Berman bezeichnete Shelly in dieser ersten Phase als semilinguales Kind, da sie weder die eine noch die andere Sprache perfekt beherrschte.[6] Mit dem Umzug der Familie in die USA veränderte sich neben der Umgebungssprache auch Shellys Verhalten bezüglich ihrer Sprachdominanz. Durch den Eintritt in einen englischsprachigen Kindergarten wurde das Englische für sie allgegenwärtig und führte schließlich auch zu einer Vernachlässigung und letztendlich einer Verweigerung des Hebräischen. Nachdem die Familie ein Jahr später wieder zurück nach Israel gezogen war, zeigte Shelly lediglich in den ersten vier Monaten ein unsicheres Sprachverhalten im Hebräischen, bis sie wieder sicher kommunizieren konnte (vgl. Müller u.a. 2011: 67).
Die soeben geschilderte Studie zeigt, dass sich Sprachdominanz in Abhängigkeit von der Umgebungssprache entwickeln kann und daher an den jeweiligen sprachlichen Kontext gebunden ist. Durch die Entwicklung der starken in die schwache Sprache und umgekehrt wurde schlussgefolgert, dass Sprachdominanz nie absolut ist, sondern sich im Laufe der Jahre und je nach Kontext verändern kann (vgl. Müller u.a. 2011: 67-68).
Der intensive Sprachgebrauch des Englischen in den USA – der durch den Eintritt in den Kindergarten nochmals vermehrt wurde – führte bei Shelly dazu, dass sie es mit der Zeit besser beherrschte als das Hebräische und daher präferierte. Kielhöfer und Jonekeit sprechen in diesem Zusammenhang von einem “Kreislauf von Ursache und Wirkung” (Kielhöfer / Jonekeit 1993: 12). Sprachpräferenzen von bilingualen Kindern können also ebenfalls Aufschluss darüber liefern, welche der beiden Sprachen die dominante ist (vgl. Müller u. a. 2011: 68). Auch soziopsychologische Faktoren, wie zum Beispiel die Einstellung des Sprechers zur Sprache, spielen bei der Entwicklung einer Präferenz für eine bestimmte Sprache eine wichtige Rolle (vgl. Meisel 2007: 499). Der Autor Meisel unterscheidet zwischen der dominance, die sich nur auf das Vorherrschen einer der beiden Sprachen in einer bestimmten Situation bezieht, und der language preference. Diese resultiert in einem regelmäßigen und situationsunabhängigen Vorziehen einer Sprache (vgl. Meisel 2007: 498). Weitere Einflussfaktoren, die Sprachdominanz konstituieren, sollen in Kapitel 3.2 vorgestellt werden.
Nach Schlyter (1993) ist die schwache Sprache “die sich sichtbar langsamer entwickelnde Sprache eines bilingualen Kindes.” (Müller u.a. 2011: 68). Die Autoren Müller u.a. (vgl. 2011: 68-69) gehen im Detail auf grammatikalische Phänomene ein, die erst sehr spät entwickelt werden, auf syntaktische Funktionswörter, die weitestgehend ausgelassen werden und auf die Größe des Lexikons, das meist weniger umfangreich ist als das der starken Sprache. Auf Kompetenzebene wird sprachliches Wissen der starken Sprache in die schwache Sprache transferiert, was zum Auftreten von Interferenzen auf Performanzebene führen kann. Auf die Diskussion, welche Rolle die Sprachdominanz bei auftretenden Sprachmischungen spielt, soll jedoch in Kapitel 3.3 näher eingegangen werden. Neben Sprachmischungen greift das bilinguale Kind in seiner schwachen Sprache oft auf Umschreibungen zurück (vgl. Müller u.a. 2011: 69).
Denkt man an die bilinguale Shelly aus Bermans Studie, so kam es hier auch zur Verweigerung der schwachen Sprache, da bei ihr nur ein Beherrschen der Sprache auf rezeptiver Ebene bestand (vgl. Müller u.a. 2011: 72). Meisel (2007: 489) charakterisiert die schwache Sprache als die weniger verwendete Sprache des bilingualen Kindes.
Dieser Logik folgend, ist auch hier dieselbe Wechselwirkung wie bei dominanter Sprache und Sprachpräferenz zu beobachten: Aufgrund des geringen Sprachgebrauchs der schwachen Sprache ist das Sprachwissen nur beschränkt. Da das Sprachwissen der schwachen Sprache jedoch nur beschränkt ist, wird sie nicht so oft genutzt wie die starke Sprache
Die soeben beschriebenen Transfererscheinungen und auftretenden Umschreibungen bei Äußerungen in der schwachen Sprache geben einigen Autoren (vgl. Schlyter 1993) Grund zur Annahme, dass zwischen dem Erwerb der schwachen Sprache und dem Erwerb einer L2 (Zweitsprache) gewisse Parallelen bestehen. Die herrschende Meinung geht jedoch davon aus, dass die Entwicklung der schwachen Sprache zwar langsamer voranschreitet, jedoch im Grunde dem Erwerbsverlauf einer Erstsprache gleicht (vgl. Müller u.a. 2011: 69). Ein Grund, weshalb die von Schlyter postulierte Parallele nicht sinnvoll erscheint, ist, dass der Erwerb einer L2 meist ein Erlernen auf muttersprachlichem Niveau ausschließt. Es ist sogar umstritten, ob dies überhaupt möglich ist. Vor allem verläuft die natürliche und meist simultane Entwicklung einer zweiten Erstsprache (2L1) bei bilingualen Kindern schneller als der gesteuerte L2-Erwerb, der meist erst ab dem Schulalter beginnt. Daher ist es fraglich, ob diese Parallele zwischen L2-Erwerb und dem Erwerb der schwachen Sprache überhaupt sinnvoll ist, da die Erwerbsformen selbst sehr unterschiedlich sind (vgl. Meisel 2007: 496-497).
Neben der Umgebungssprache, die in Bermans Studie zur Entwicklung der Sprachdominanz Shellys führte, sollen hier weitere Einflussfaktoren genannt werden. Dabei haben diese Einflussfaktoren unterschiedliche Wertigkeiten, sind jedoch in einer Gesamtbetrachtung der Sprachdominanz wichtig, genannt zu werden.
Sprachen, die in der Familie gesprochen werden, können einen starken Einfluss auf die Sprachdominanz bilingualer Kinder ausüben. Wendet sich ein Elternteil besonders stark dem Kind zu, lässt er ihm seine emotionale und somit auch sprachliche Zuwendung zuteilwerden (vgl. Kielhöfer/Jonekeit 1993: 15). Eine unausgeglichene Bindung des Kindes an Eltern mit unterschiedlichen Erstsprachen kann daher auch zur Herausbildung einer starken und einer schwachen Sprache führen. Eltern bilingualer Kinder sollten daher auf eine Ausgewogenheit in der Spracherziehung achten (vgl. Kielhöfer/ Jonekeit 1993: 20). Diese kann beispielsweise mittels der bereits erwähnten une personne - une langue Methode erreicht werden. Kinder, die mit dieser Methode aufwachsen, halten meist dieses Partnerprinzip ein. Es ist jedoch interessant zu wissen, in welcher Situation das Kind ausnahmsweise die andere Sprache spricht, da es uns Aufschluss darüber gibt, welche Sprache ihm in...