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E-Book

Sprachliche Höflichkeit

Historische, aktuelle und künftige Perspektiven

VerlagNarr Francke Attempto
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl404 Seiten
ISBN9783823300694
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis78,40 EUR
Sprachliche Höflichkeit ist ein breit diskutiertes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Oft wird ein Mangel an Höflichkeit oder gar deren Verfall beklagt. Neue Medien und die zunehmende Interkulturalität scheinen das Problem zu verschärfen. In der Sprachwissenschaft greifen zahlreiche Ansätze solche Fragen auf und versuchen eine wissenschaftliche Klärung und Einordnung in neuere theoretische und methodische Entwicklungen. Der Band dokumentiert ausgewählte Beiträge einer internationalen Fachkonferenz. Er präsentiert aktuelle Entwicklungen in der deutschen Sprache und neue Ansätze in der Höflichkeitsforschung, auch in kontrastiver Perspektive und in verschiedenen Anwendungsfeldern. Kulturhistorische Einschätzungen über Ursprung und Entwicklung von Höflichkeitskonventionen sowie Ausblicke auf künftige Herausforderungen runden den Band ab.

Claus Ehrhardt ist Professor für Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Universität Urbino/Italien. Eva Neuland ist Professorin i.R. für Germanistik/Didaktik an der Bergischen Universität Wuppertal.

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Leseprobe

Kulturhistorische Dimensionen


Höflichkeitsdissonanzen. Zum Gebrauch unterschiedlicher Höflichkeitsformen in historischen Texten und Gesprächen


Dieter Cherubim

Politeness may be reconstructed as a means of controlling social distance, depending on the evaluation of situations and cultural factors. In managing politeness the communicative behaviour need not be symmetrical but can be complementary or even dissonant. Two examples from 19th century literary texts (Karl May, Thomas Mann) are used to illustrate how this was achieved and also commented in poetic contexts. Some examples from an Austrian guide for polite behaviour (so-called Complimentirbuch) of the early 19th century (Rittler 1834) are quoted to illustrate ways of resolving social conflicts without losing composure.

1. Höflichkeitskonstruktionen und kultureller Kontext


Höflichkeit ist ein soziales Konstrukt zur Steuerung von menschlichen Interaktionen, das im Kern auf Variationen von Distanz oder Respekt beruht und sich in unterschiedlichen, u.a. auch sprachlichen Formen äußern kann (Cherubim 2011, 4ff.). Dabei stellt das Höflichkeitsverhalten, das sich notwendig kommunikativen Akten und deren Wahrnehmung und Interpretation bei den Beteiligten verdankt, eine „mittlere“ Stufe von Beziehungssteuerung zwischen den Interaktanten dar: zwischen Formen eines „kalten“, feindseligen oder aggressiven Verhaltens auf der einen Seite und Formen eines „warmen“, freundschaftlichen oder sogar liebevollen Verhaltens auf der anderen Seite, und es ist janusartig beiden Extremen zugewandt (vgl. Schema 1). Denn feindseliges Verhalten kann aus pragmatischen Gründen auf ein distanziertes Verhalten reduziert werden und aus Respekt kann sich mit der Zeit und bei entsprechenden Bedingungen ein freundschaftliches Verhältnis entwickeln, seltener auch wieder umgekehrt.

Schema 1

Was Höflichkeit ist oder als höfliches Verhalten verstanden wird, ist so nicht nur variabel und instabil, sondern auch sprach- und kulturabhängig, wie man es sich schon am klassischen Beispiel der Anredepronomina verdeutlichen kann: In engen, relativ geschlossenen Gemeinschaften braucht man im allgemeinen keine unnötigen Komplikationen mit mehreren situationsspezifischen Alternativen oder setzt sie, falls doch vorhanden, gerne durch Zusatzregeln („Ab 2000 m Höhe / unter Wasser wird geduzt!“) außer Kraft. Entwickelte Gesellschaften mit ihren Differenzierungen und komplizierten Übergängen zwischen einzelnen Bereichen oder Sphären tendieren dagegen zur Ausprägung mehrerer Möglichkeiten, die in der Sozialisation von Kindern oder bei der Integration von Fremden erst mühsam erlernt werden müssen; und dies gilt vor allem, wenn sie mit anderen Möglichkeiten wie z.B. dem Gebrauch von Eigennamen gekoppelt sind. Im Deutschen ist etwa die Anrede mit dem Vornamen meist mit dem Duzen verbunden, während das Siezen die Anrede mit dem Familiennamen (plus vorangestellten Titeln) verlangt; Ausnahmen davon sind aber in bestimmten Berufsfeldern (Kaufhaus) oder engeren Arbeitsgemeinschaften (auch in der Wissenschaft) möglich (Heringer 2009). Im Standardchinesischen gibt es hingegen nur eine Anredeform, die aber nicht mit dem Gebrauch des Vornamens verbunden werden darf; eine dem Siezen vergleichbare Form der Anrede ist (wie auch im Schwedischen) nur für wenige honorative Anreden reserviert (Liang 2009). Auch für das Englische gibt es bekanntlich nur die eine Möglichkeit des you, und selbst das in älteren Texten oder in religiösen Zusammenhängen noch verwendete thou fällt nicht aus diesem Rahmen, sodass soziale oder situative Differenzierungen auf andere formelle Techniken zurückgreifen müssen. Höflichkeitskonzepte sind also stets Antworten auf zivilisatorische Prozesse, die dann ihre eigene, durchaus ambivalente Kraft (z.B. Differenzierung, Identifikation und soziale Kontrolle) entfalten können. Selbst der deutsche Ausdruck Höflichkeit zeigt noch diese historische Relativität, insofern die Kultivierung des guten Geschmacks bzw. der „feinen“ Unterschiede durchaus mit der Institution der Höfe bzw. der höfischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit zu tun hatte.1

Der konstruktive Charakter von Höflichkeit ergibt sich daraus, dass entsprechende Verhaltensweisen eben nicht absolut, sondern erst im Zusammenhang oder als Ergebnis interaktiver Akte als mehr oder weniger höflich, nicht-höflich oder sogar als unhöflich bestimmt werden können und dass sie eine Verarbeitung unterschiedlicher Faktoren voraussetzen: vor allem von Intentionen, die dabei verfolgt werden, von Höflichkeitsregeln, die in verschiedener Form (z.B. durch kommunikative Praxis oder Regelbücher) vermittelt werden, und von Situationseinschätzungen, die selbst wieder komplexer Natur sind (Bayer 1977). Dabei wird oft davon ausgegangen, dass der Gebrauch von höflichen Verhaltensweisen eine Art Symmetrie, d.h. den Bezug auf gleiche oder wenigstens vergleichbare Höflichkeitskonzepte beinhalte, sodass Höflichkeit und Unhöflichkeit den gleichen Maßstäben unterliegen. Dies ist aber eine kontrafaktische Annahme, die nicht der vielseitigen Realität des Höflichkeitsmanagements in kommunikativen Zusammenhängen und damit auch nicht unseren Erfahrungen damit entspricht.

2. Höflichkeitsentwicklung am Beispiel. Vom Kompliment zur Aggression


Wie Höflichkeitskonstruktionen in kommunikativen Akten entstehen, kann man sich modellhaft (und das heißt: vereinfachend) wie folgt vorstellen:

Schema 2

Eine Aktion eines Kommunikanten A verfolgt hinsichtlich eines Kommunikanten B eine bestimmte (bewusste oder unbewusste) Intention (z.B. jd. geneigt zu machen / jd. zu etwas veranlassen) und versucht diese Intention höflich, d.h. mit Distanz oder Respekt an B zu vermitteln. Dabei orientiert sich A an geltenden Normen oder erfahrungsgestützten Regeln der Höflichkeit (z.B. jdm. nicht zu nahe treten) und wählt nach Einschätzung der aktuellen Kommunikationssituation (z.B. soziales Gefälle, formell vs. informell) diejenigen Ausdrucksmittel sprachlicher und / oder nichtsprachlicher Qualität aus, von denen er glaubt, dass er damit erfolgreich ist, ohne damit die vorausgesetzte Beziehung zwischen A und B (hier: Distanz / Respekt) in Frage zu stellen. Das Verhalten von A erzeugt dann, wenn adäquat wahrgenommen und verstanden, bei B einen Eindruck nicht nur von dem, was A von ihm will, sondern auch von dessen Höflichkeitskompetenz, Situationseinschätzung und dem vorausgesetzten Beziehungsverhältnis, das nicht in Frage gestellt werden soll. Die daraus abgeleitete Reaktion von B kann dann die gesamte Konstellation bestätigen, aber auch partiell oder im Ganzen korrigieren, was wiederum von A zu verarbeiten ist und so in folgenden kommunikativen Schritten zu weiteren Aktionen und Reaktionen bzw. entsprechenden, eventuell modifizierten Interpretationen auf beiden Seiten Anlass geben kann. Vieles von diesen rekursiv anwendbaren Prozessen wird dabei nicht sichtbar gemacht, sondern nur aus bestimmten Anzeichen (z.B. Tonfall, Gebrauch von Modalpartikeln) erschlossen; aber es ist natürlich auch möglich und keineswegs selten, dass Divergenzen durch metakommunikative Thematisierung sichtbar gemacht und verhandelt werden.

Ich wähle ein literarisches Beispiel des späten 19. Jahrhunderts, das ich in anderen Zusammenhängen schon ausführlicher diskutiert habe: den Beginn des Romans „Am Rio de la Plata“ von Karl May (1894).1 Die dort in Form einer Ich-Erzählung dargestellte, relativ abgeschlossene Szene umfasst drei Schritte:

  1. Besuch eines Unbekannten im Hotel des Erzählers mit auffällig übertriebener („überhöflicher“) Begrüßung und Unterbreitung eines noch unbestimmten Angebots, das sich letztlich als delikat (Waffenhandel, Bestechung) erweisen sollte:

Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Tür klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand, um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindstauf- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrerbietige Verneigung und grüßte:

„Ich bringe Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!“

Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruquay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast ‚Herr Baron‘, jeden Brillentragenden ‚Herr Professor‘ und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes ‚Herr Major‘ nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:

„Danke! Was wollen Sie?“

Er schwenkte zweimal den Hut hin und her und erklärte:

„Ich komme, mich...

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