Mit den Worten „Die hier erzählte Geschichte veranschaulicht meinen heutigen Blick auf das Erlebte. Und wie immer beim Erzählen der eigenen Geschichte war es für mich auch ein Akt der Befreiung.“[173] beendet Bar-On die Einleitung in seinem Buch: „Erzähl dein Leben!“ und zeigt zugleich zwei Grundprämissen seines Dialogmodells auf. So verweist er einerseits auf die Subjektivität der erzählten Vergangenheit und andererseits auf den Prozess der Verarbeitung, der jedem Erzählvorgang zugrunde liegt. Doch bevor darauf näher eingegangen wird, soll zunächst konzentriert geschildert werden, wie es zur Entwicklung des Dialogmodells kam. Anschließend soll das theoretische Fundament des biografischen Geschichten-Erzählens (Storytelling) aufgezeigt und mögliche Effekte auf Erzähler_innen und Zuhörer_innen beschrieben werden.
Im Zuge seiner Forschungen zur Frage, wie die Kinder von Nazi-Tätern von den Taten ihrer Väter betroffen waren bzw. damit lebten, führte Dan Bar-On ab 1985 zahlreiche Interviews mit entsprechenden Personen durch.[174] Als er 1988 eine Tagung organisierte und dazu die Befragten unter Wahrung ihrer Anonymität einlud, kamen einige und schlossen sich im Anschluss zu einer Art Selbsthilfegruppe von Nazi-Täter-Kindern zusammen. Als damals einzige Gruppe in Deutschland trafen sie sich regelmäßig und tauschten sich über ihren Umgang mit dem Erbe ihrer Väter aus.[175]
Die Erfahrung von Bar-On aus den Begegnungen mit seinen Interviewpartner_innen: „Für mich als Opferkind war meine persönliche Erfahrung in der Begegnung mit Täterkindern heilsam“[176] und seiner Beobachtung, dass auch auf der Seite der Täter-Kinder ebenfalls eine Veränderung durch die Interviews geschah: „In most cases, the interviews gave my interviewees a chance to free themselves of a burden […] had a healing effect for them.“[177] veranlasste ihn zu dem Vorschlag, eine Dialogrunde mit Täter- und Opferkindern zu gründen.[178] Aus dieser Idee, dass die deutsche Gruppe sich mit einer Gruppe jüdischer Kinder von Shoah-Überlebenden aus Israel und den USA treffen könnte, entstand dann 1992 die erste Gruppe dieser Art weltweit.[179] Der selbstgegebene Titel der deutsch-jüdischen Gruppe „To Reflect and Trust“ (TRT) deutete dabei das inhaltliche Ziel ihrer Treffen an - etwa: Nachdenken und Vertrauen. Die Überwindung der Fantasien über die jeweiligen Anderen, sowie die Hoffnung „aus dem selbstgestalteten Gefängnis des Schweigens und der Sprachlosigkeit auszubrechen“ prägte dabei die Intention der Begegnung. [180] Im Laufe des Prozesses wurde aus den ursprünglich zwei jedoch schnell eine gemeinsame Gruppe und die Vermischung der Geschichten im Raum, die informellen Begegnungen und gemeinsamen Momente des Weinens und Tröstens führten zu einer Atmosphäre, die auf beiden „Seiten“ ein Durcharbeiten von Themen erlaubte, das zuvor nicht denkbar gewesen wäre.[181] Bar-On berichtet aus seinen damaligen Beobachtungen: „Das erstaunlich Wirkungsvolle der Dialogprozesse war die Idee des ‚Storytelling‘, das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichten. Zuhören half die eigenen Gefühle, aber auch die der anderen besser zu verstehen.“[182] Als zentrales Ergebnis des TRT-Ansatzes kann daher die Möglichkeit zum Durcharbeiten der Nachwirkungen von gewaltsamen Begegnungen zwischen ehemals verfeindeten Gruppen gesehen werden.[183]
Aufgrund der positiven Erfahrungen beschloss die Gruppe 1998 sich zu öffnen und ihre Erkenntnisse bezüglich der Wirkkraft von Erzählungen zur Bearbeitung von Konflikten bzw. konflikterzeugenden Konstruktionen über Andere, weiterzugeben.[184] Sie luden dazu Menschen, die als Friedensarbeiter_innen in aktuellen Konflikten mit Tätern und Opfern arbeiteten, aus Palästina, Israel, Nordirland und Südafrika zu einem gemeinsamen Seminar ein. Die im ursprünglichen TRT-Gruppenprozess entwickelten Regeln zum Storytelling[185] sollten dabei als Grundlage dienen und zugleich auf ihre Anwendbarkeit auf aktuelle Auseinandersetzungen getestet werden.[186] Trotz der Unterschiede in der Bearbeitung akuter und bereits beigelegter Konflikte wie der Shoah, ging die TRT-Gruppe davon aus, dass kollektive Schweigeformen, monolithische Identitätskonstruktionen[187] sowie die generationsübergreifende Weitergabe von Traumata tragende Rollen spielen und durch das Storytelling identifiziert und reflektierbar gemacht werden könnten.[188] Im Unterschied zu anderen Kleingruppen-Interventionen, sollte der historische Kontext (z. B. Holocaust) und die dadurch entstandenen Beziehungen (Opfer – Täter) anerkannt und berücksichtigt werden. Des weiteren versuchte die TRT-Gruppe entgegen einer Wiederbelebung und Bekräftigung kollektiver Identitäten („wir“ gegen die „anderen“) einen konstruktiven Wandel zu ermöglichen, der in den Blick nahm, was „wir“ gemeinsam haben oder was im jeweiligen „Anderen“ akzeptiert werden kann, ohne es zu bewerten.[189]
Als positives Resultat dieses Versuchs können die im Anschluss gegründeten Initiativen gesehen werden, die sowohl in Nordirland und England als auch in Palästina und Israel gegründet wurden. Dabei fungierten die TRT-Regeln jeweils als Grundgerüst, wobei der inhaltliche Fokus sich nicht nur auf den Dialog der jeweiligen Konfliktparteien beschränkte, sondern z. B. auch ehemalige südafrikanische und palästinensische Häftlinge zusammenbrachte. Dieser Austausch half den beteiligten Palästinensern sowohl ihre Frustration und ihren Zorn durchzuarbeiten, als auch mit den neuen Lebensbedingungen umzugehen.[190]
Bar-On versuchte anknüpfend an die Erfahrungen aus dem TRT-Prozess, eine Transformation auf den palästinensisch-israelischen Friedensprozess und initiierte eine Reihe von Projekten. Aus der Erkenntnis heraus, dass die ethnozentristischen[191] Bildungsstrukturen in beiden Ländern das jeweilige andere nicht oder nur als dämonisiertes Feindbild beschrieben, entwickelte er zusammen mit dem palästinensischen Erziehungswissenschaftler Sami Adwan ein Schulbuchprojekt. In gemeinsamen Geschichtsbüchern sollte sowohl die israelische, als auch die palästinensische Sicht auf konflikt-relevante Ereignisse gezeigt werden. Bedeutsam war dabei der Perspektivwechsel in der Einstellung zu historischer Wahrheit und Logik. So konnten die Schüler_innen, entgegen bisheriger Praxis, lernen: „Es kann mehr als eine Erzählung für gemeinsame historische Ereignisse geben.“[192] Darüber hinaus begann Bar-On an der Ben-Gurion Universität in Be’er Sheva (Israel) regelmäßige Dialogrunden zwischen palästinensischen und jüdischen Israelis zu initiieren.[193]
Um seinen Verständigungsansatz einem größerem Kreis von Multiplikator_innen zugänglich zu machen, begann Bar-On 2006 in Zusammenarbeit mit der Körber-Stiftung das Projekt „Storytelling in Conflicts“. Ziel war es neben der Ermutigung zu Friedensprojekten und Versöhnungsvorhaben, die Methode des Storytellings auf einer professionellen Ebene an erfahrene Praktiker_innen weiterzugeben.[194] Dieses Weiterbildungsseminar konnte Dan Bar-On noch vor seinem Tod 2008 erfolgreich beenden.
Die deutsche Übersetzung von Storytelling lautet Geschichtenerzählen.[195] Im Zusammenhang dieser Arbeit ist die Bedeutung des Begriffs jedoch einzugrenzen auf das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte. Unter der Bezeichnung biografisch-narratives Interview wird das Erzählen persönlicher Lebensgeschichten in vielfacher Hinsicht zur Erschließung unterschiedlicher sozialer Wirklichkeiten verwendet. So nutzt z. B. Soziale Arbeit die rekonstruktive Fallforschung zur Bestimmung „was ist der Fall im Fall?“[196] und versucht anhand eines biografisch-narrativen Zugangs „latente Sinnzusammenhänge offenzulegen und diese in die Intervention einzubeziehen.[197]
In der Psychologie wird die Gestaltung von Geschichten über die Lebenszusammenhänge, vor deren Hintergrund gehandelt wird, Narration genannt. Diese individuellen Wirklichkeitsbeschreibungen werden besonders im Kontext der systemischen Therapie genutzt, da die erzählte Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit die Möglichkeit eröffnet, Erzählungen umzudeuten und ihnen einen erweiterten Sinn zuzusprechen. Das bedeutet in der Praxis, dass ein_e Therapeut_in in einen Dialog über Wirklichkeitsbeschreibungen mit dem/der Klient_in tritt und ihn/sie in der Veränderung einschränkender oder destruktiver Narrationen hin zu Handlungsmöglichkeiten erweiternden Erzählungen unterstützt.[198]
Die Narrative Psychologie, eine neuere theoretische Richtung, sieht Narrationen als grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation an. Durch die inhaltliche Verknüpfung punktueller Ereignisse wird dem Geschehen Sinn und Bedeutung verliehen. Anhand der Geschichten wird die eigene Stellung in der...