Im folgenden Kapitel wird das Phänomen Stress im schulischen Kontext im Hinblick auf den Arbeitsalltag der Lehrkräfte beleuchtet. Nach Betrachtung des Modells des Lehrerstress nach Rudow werden ausgehend von den Anforderungen und Tätigkeitsfeldern im Lehrerberuf verschiedene, daraus resultierende Belastungsfaktoren thematisiert.
Beruhend auf den Vorstellungen des transaktionalen Stressmodells nach Lazarus haben Kyriacou und Sutcliffe 1978 erstmals ein Modell zum Lehrerstress[10] entworfen, welches explizit die charakteristischen Bedingungen des Lehrerberufs auf das Stresserleben einbezieht. Dieses wurde von Rudow (1995: 93), dargestellt in Abbildung 2 (siehe Seite 14), überarbeitet und um wichtige Ergänzungen erweitert.
Diesem Modell zufolge wird - vergleichbar mit den Vorgängen in Lazarus‘ Konzeption - angenommen, dass potentielle Arbeitsbelastungen, wie Disziplinprobleme von Schülern, der primären und sekundären Bewertung durch die betroffene Lehrkraft unterzogen werden, um zu prüfen, ob ein Stressor vorliegt und welche Ressourcen zur Problemlösung zur Verfügung stehen. Auf der Basis dieser Einschätzungen schließt sich ein aktives Bewältigungsbestreben an, welches bei Erfolg das Entstehen von Stress verhindert. In diesem Fall würde die Lehrkraft bei einer Neubewertung des Stressors zu dem Schluss kommen, dass selbige Stressoren in Zukunft keine Belastung mehr für sie darstellen, da sie mit solchen Ereignissen konstruktiv umzugehen weiß. Zeigt sich eine angewandte Bewältigungsstrategie allerdings als unergiebig, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Stress resultiert. Infolgedessen werden in der Neubewertungsphase erneut die Bewertungsprozesse durchlaufen und eine andere, als effektiver erhoffte Bewältigungsmethode eingesetzt. Sollte sich diese ebenfalls als erfolglos erweisen, besteht die Gefahr der Erleidung chronischen Stresses, mit dem insbesondere funktionelle Erkrankungen und psychosomatische Beschwerden einhergehen. Diese andauernden Stressfolgen stellen ungünstige Bedingungen für den Umgang mit den außerberuflichen Belastungen dar. Demzufolge kann eine Lehrkraft, die unter chronischem Stress leidet, verstärkte und überempfindliche Reaktionen auf Schwierigkeiten im familiären Umfeld oder mit Freunden zeigen, die dann zu zusätzlichen Stressoren führen und ihre Ressourcen schneller erschöpfen. Unter diesen Umständen tendiert die Lehrperson dazu - objektiv betrachtet - unbedeutende Ereignisse eher als belastend einzustufen als eine, die diesen Bedingungen nicht ausgesetzt ist. Neben den privaten Belastungen haben ebenfalls die Persönlichkeitsfaktoren eines Lehrers, wie die Widerstandsfähigkeit oder emotionale Stärke, die vom chronischen Stress negativ beeinflusst werden können, Auswirkungen auf die Bewertungen der potentiellen Stressoren im schulischen Arbeitsalltag (vgl. ebd. 92-94). Somit wird deutlich, dass die Rückwirkungen und Einflüsse der unterschiedlichen Faktoren einen Teufelskreis bezüglich des Stresserlebens für Lehrer bilden.
Abbildung 2: Modell des Lehrerstress nach Rudow
Das bedeutende Element, welches Rudow in seinem Modell im Gegensatz zu Kyriacou und Sutcliffe integrierte, besteht in der Einbindung der Tätigkeitsmerkmale der Lehrkraft (vgl. van Dick, 2006: 37). Dabei konstatiert Rudow, dass die den Lehrerberuf bestimmenden Charakteristika[11] wie beispielsweise die Aufgabenfülle, die Rollenvielfalt, das Pflichtbewusstsein oder gewisse Entscheidungsfreiheiten eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Ausprägungen und der Wahrnehmung der auftretenden Arbeitsbelastungen spielen. Zudem haben diese Kontextbedingungen entscheidende Auswirkungen auf den sekundären Bewertungsprozess und der damit verbundenen Umsetzung der Bewältigung, die sowohl begünstigend als auch nachteilig wirken können (vgl. Rudow, 1995: 94; van Dick, 2006: 37f.). Möglicherweise führt die Vielfalt an Aufgaben und zu übernehmenden Rollen zu Stressoren auf verschiedenen Ebenen, die im Zusammenspiel als sehr belastend erlebt werden. Andererseits könnte der Aspekt des Handlungsspielraums eine positivere Beurteilung der Stressoren ergeben. Van Dick (2006: 38f.) betont darüber hinaus, dass ein Zusammenhang zwischen den Persönlichkeits- und Tätigkeitsmerkmalen einer Lehrperson besteht, sodass beispielsweise eine positive Empfindung und Einstellung zu den Arbeitsaufgaben gleichermaßen den Umgang mit Belastungen begünstigt.
Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen, Tätigkeiten und Bedingungen die Berufssituation eines Lehrers charakterisieren, die unter Umständen zu starken Belastungen führen können. Sozialberufe, zu denen neben Lehrern unter anderem das Pflegepersonal, Erzieher, Ärzte und Psychologen gehören, stellen generell eine besondere Anforderung dar, welches an der intensiven und ständigen Interaktion mit Menschen liegt, für die zudem Verantwortung getragen werden muss. Gefühle und Emotionen wie Ärger, Verzweiflung und Enttäuschung, die aus diesem Umgang entstehen können, sind in der Lage den Menschen – den Sozialberufstätigen – nachhaltig zu ergreifen, sodass eine Distanzierung auch nach dem Arbeitstag schwer fällt (vgl. Schaarschmidt, Kieschke, 2007a: 34). Nichtsdestoweniger kommen für die Lehrkräfte zwei bedeutsame Besonderheiten erschwerend hinzu, die sich in einem hohen Erwartungsdruck und in einer außergewöhnlichen Anforderungs- und Aufgabenvielfalt manifestieren.
Die großen Erwartungen, die von der Gesellschaft und der Öffentlichkeit an die Lehrer gestellt werden, ergeben sich aus der Tatsache, dass diese die kommenden Generationen ausbilden und sie aufs Leben vorbereiten. Damit verbunden geht der Lehrer sowohl eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft ein und übernimmt gleichzeitig, den einzelnen Schüler betreffend, eine individuelle Verantwortung (vgl. Rothland, Terhart, 2007: 24). Die verschiedenen Erwartungen gehen jedoch nicht nur von der Öffentlichkeit aus, sondern auch Schüler, Eltern, Kollegen und Vorgesetzte können als Erwartungsträger identifiziert werden, sodass sich durch ihre vielfältigen Wünsche und Hoffnungen zahlreiche Rollen und damit verbundene Aufgaben für den Lehrer ergeben, die möglichst alle gleichermaßen zu erfüllen sind (vgl. Barth, 1997: 92). Der Schwerpunkt der Arbeitstätigkeit einer Lehrkraft liegt trotz der sich im Laufe der Jahre veränderten Verpflichtungen in dem Unterrichten, bei dem fachliches Wissen nach den Lehrplänen vermittelt und den Schülern selbständige Lernarbeit ermöglicht wird (vgl. Rothland, Terhart, 2007: 17). Dabei zeichnet sich zunehmend eine Tendenz ab, bei der der Lehrer vielmehr die Funktion eines Lernbegleiters und –beraters statt die eines Wissensvermittlers innehat, was eine zusätzliche Anforderung darstellt, wenn dieser Kompetenzerwerb nicht Teil seiner Ausbildung war (vgl. Sieland, 2004: 144). Über die Wissensvermittlung hinausgehend sollen im erzieherischen Sinne unter anderem die soziale Kompetenz der Schüler herausgebildet und ihr Verantwortungsbewusstsein und Selbstvertrauen gefördert werden. Mit der Leistungserbringung der Lerner stellt die Beurteilung durch die Lehrperson eine ihrer offensichtlichen Aufgaben dar, die ferner das Diagnostizieren von Lernständen und der Förderbedürftigkeit der Schüler umfassen (vgl. Rothland, Terhart, 2007: 18). An diesem Aufgabenfeld ist insbesondere die Öffentlichkeit interessiert, die von den Lehrkräften eine gerechte Bewertung entsprechend der erbrachten Leistungen der Schüler erwartet, mithilfe derer ein für die Gesellschaft entscheidendes Kriterium für ihre späteren Berufschancen vorliegt. Darüber hinaus bildet die Beratung ein weiteres Tätigkeitsfeld. Während die Schüler Hilfe bei Aufgabenlösungen und allgemeinen schulischen Problemen erwarten, versprechen sich die Eltern vom Lehrer, dass er sie bei Lernschwierigkeiten ihres Kindes berät, bei Erziehungsproblemen entlastet und ihnen einen Rat bezüglich Schullaufbahnentscheidungen gibt. Ein weiterer bedeutsamer Bereich umfasst die Kooperation mit Kollegen und Eltern. Seitens der Eltern wird vom Lehrer ein kooperatives Verhalten erwartet, bei welchem er die elterliche Kontrolle weiterführt oder sogar optimiert. Hingegen erhoffen sich die Kollegen insofern eine kooperative Unterstützung, dass sie sich Aufgaben teilen, sich gegenseitig Rückmeldungen geben und gegenüber anderen Personengruppen wie Schülern oder Eltern zusammenhalten (vgl. Barth, 1997: 93-96). Neben dem Ausbau der eigenen Kompetenzen, der von Fortbildungsbesuchen über Teamarbeit unter Kollegen als schulinterne Weiterbildungsmaßnahme bis hin zur Entwicklung von Bewältigungsstrategien reichen kann, versprechen sich die Vorgesetzten ferner, dass alle Vorgänge reibungslos funktionieren, dass die Lehrkräfte freiwillig zusätzliche Aufgaben übernehmen, um als Schule zu funktionieren und dass sie ein positives Bild der Schule nach außen tragen. Damit deutet sich eine weitere Anforderung im Lehrerberuf an, die darin besteht, Beiträge zur Unterrichts- und Schulentwicklung zu leisten (vgl. ebd. 95f.; Rothland, Terhart, 2007: 18). Diese unermessliche Rollenexpansion kann aufgrund der verschiedenen Erwartungsträger mit inkompatiblen Erwartungen einhergehen, sodass die Möglichkeit zum Entstehen von Rollenkonflikten besteht, die wiederum als Belastung...