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E-Book

Transkulturelle Pflegepraxis

Bedürfnisse erheben - erwägen - erfüllen

AutorUlrike Lenthe
VerlagFacultas
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783990306888
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Migration stellt auch die Gesundheits- und Krankenpflege vor große Herausforderungen. Die Anzahl pflegebedürftiger Klienten mit unterschiedlicher kultureller, religiöser und ethnischer Prägung steigt. Ihre Bedürfnisse nicht zu erkennen, kann eine effiziente und effektive Pflege gefährden. Pflegende sind daher gefordert, mögliche Missverständnisse im Rahmen eines transkulturellen Pflege-Assessments zu erheben, Pflegehandlungen und Pflegetechniken mit dem Klienten abzusprechen und im Einklang mit dessen kulturellen und religiösen Empfindungen umzusetzen. Der anwendungsorientierte Wegweiser 'Transkulturelle Pflegepraxis' zeigt auf, wie transkulturelle Pflege angelegt und im Alltag erfolgreich realisiert werden kann.

Ulrike Lenthe, MAS, DGKS akad. gepr. Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, akad. gepr. Krankenhausmanagerin, Absolventin des European Health Leadership Programme am King's Fund Management College, London. Auslandspraktika in Dänemark, England, Italien, im Nahen Osten, Südafrika und Ostasien. Pflegedirektorin des Alten- und Pflegeheimes Marienheimbetriebsges. mbH, Bruck/Leitha. Seminare und Vortragstätigkeit in der Fort- und Weiterbildung für Pflegepersonen in den Bereichen transkulturelle Pflege und Pflege dementierender Klienten.

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Leseprobe

2 Kulturspezifische Bedürfnisse erheben – erwägen – erfüllen


Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse.
Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig;
sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig.
Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen.

Johann Wolfgang von Goethe

Um eine effektive und effiziente kulturkongruente Pflege zu gewährleisten, ist es erforderlich, die unterschiedlichen kulturellen Bedürfnisse und Traditionen des Klienten in die Pflegeplanung einzubinden und das Pflegeangebot von vornherein transkulturell auszurichten. Wie bereits erwähnt, sind Klienten, die aus fremden Kulturen kommen, in derselben professionellen Art und Weise zu pflegen wie Klienten, die aus der eigenen, vertrauten Kultur stammen. Gemeinsam mit dem Klienten werden in der Pflegeanamnese dessen Bedürfnisse, Probleme und Ressourcen erhoben und wird auf Basis dieser Datensammlung eine individuelle Pflegeplanung erstellt. Dabei ist es bei Klienten aus fremden Kulturen – im Gegensatz zu jenen aus der eigenen Kultur – wahrscheinlich, dass sowohl Klienten als auch Pflegepersonen auf „erwartungswidrige“ Verhaltensweisen oder Gewohnheiten treffen, also auf solche, die ihnen fremd sind oder die gar als unangemessen erscheinen. Oftmals haben die Klienten einen langen, von Leid geprägten Weg und viele Enttäuschungen hinter sich. Vorsichtig wägen sie deshalb ab, wem sie ihr Vertrauen schenken, wem sie sich anvertrauen können. Daher ist es insbesondere für die transkulturelle Pflege wesentlich, eine tragfähige Pflegebeziehung aufzubauen: denn der Umfang, in dem sich der Klient aktiv am Pflegeprozess beteiligt, hängt weitgehend von der Qualität der Beziehung zwischen Klient und Pflegeperson ab.

2.1 Eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen


Interkulturelle Begegnungen sind besonders im Anfangsstadium durch ein hohes Maß an Verunsicherung und Orientierungsverlust belastet. Daher ist vor allem die Form der Wertschätzung, die dem Klienten bei der ersten Begegnung entgegengebracht wird, wesentlich für den Aufbau und die Qualität der Beziehung. Gerade zu Beginn des Kontaktes ist es wichtig, dem Klienten empathisch und reflektiv zuzuhören, Interesse an seiner Lebenswelt zu zeigen und Fragen respektvoll und höflich zu stellen. Insbesondere Klienten, die durch Erlebnisse in ihrem Heimatland und auf der Flucht traumatisiert wurden, brauchen anerkennende Zuwendung, einfühlsame Anteilnahme und wertschätzendes Verständnis. Oft ist es für diese Klienten auch neu, dass jemand echtes Interesse zeigt und sich ihnen zuwendet. Auch ist es in vielen Kulturen nicht üblich, mit fremden Personen über persönliche Angelegenheiten zu reden. Daher ist es möglich, dass sie mit Verschlossenheit und Misstrauen oder freundlich, aber distanziert reagieren.

Dies muss vor allem beim Erstgespräch berücksichtigt werden. Keinesfalls sollen beim Erstgespräch Themen angesprochen werden, die in anderen Kulturen gesellschaftlich unerwünscht oder tabu sind. Auch wenn es mehr Zeitaufwand erfordert, soll das Erstgespräch vor allem dem Beziehungsaufbau dienen. Es geht insbesondere darum, zum Klienten – und, falls anwesend, auch zu seinen Familienangehörigen – in offener und entspannter Haltung eine Vertrauensbasis herzustellen.

Manchmal sind es schon Kleinigkeiten, die helfen, Vertrauen herzustellen. So hat sich vor allem beim Erstkontakt die Frage, wie der Name des Klienten in der Muttersprache ausgesprochen wird, oder die Frage nach dem Befinden seiner Familienangehörigen, als vertrauensbildend erwiesen. Vor allem Klienten aus kollektivistischen Kulturen (siehe dazu Kap. 7.1) sind es gewohnt, dass – noch bevor andere Anliegen angesprochen werden – man sich ausführlich nach der Familie erkundigt. Personen, die schnell zur Sache kommen und direkt kommunizieren, werden oft als unhöflich und taktlos erlebt, da Klienten aus diesen Kulturen selbst wichtige Informationen aus Höflichkeit oder um nicht das Gesicht zu verlieren häufig indirekt mitteilen. Ebenso kann es aus diesen Gründen dazu kommen, dass der Klient nicht die Wahrheit sagt. Das bedeutet aber nicht, dass er unmoralisch handelt. In anderen Kulturen haben Unwahrheit oder Lüge einen anderen Stellenwert: Höflichkeit oder Gesichtswahrung wird in gewissen Situationen höher bewertet als Ehrlichkeit.

In solchen Situationen ist es besonders wichtig, vorurteilsfrei nachzufragen, um an die Grundwerte zu gelangen, die dieses Verhalten widerspiegeln.

Positive Voraussetzungen für den Aufbau einer vertrauensbildenden Beziehung sind daher nicht nur eine von Empathie und Wertschätzung getragene Kommunikation, sondern auch Aufmerksamkeit in Bezug auf kulturelle Eigenheiten und kulturelles Wissen, um kulturelle Gegebenheiten wertfrei einschätzen zu können.

2.2 Die Verständigung sicherstellen


Um die Bedürfnisse des zu pflegenden Klienten zu ermitteln und sich der Zustimmung oder Ablehnung von Pflegemaßnahmen zu versichern, ist die Pflegeperson auf konkrete und differenzierte Angaben des Klienten angewiesen. Dabei ist bei fremdsprachigen Klienten nicht nur darauf zu achten, ob der Betreffende Sinn und Zweck der von der Pflegeperson gestellten Fragen verstanden hat, sondern auch, ob er die deutsche Sprache so weit beherrscht, dass er seine Bedürfnisse artikulieren kann. Wenn sich die Pflegeperson nicht sicher ist, ob der Klient dem Gespräch sprachlich folgen konnte, ist es empfehlenswert, ihn um ein Feedback zu bitten.

Stellt sich dabei heraus, dass der Klient den Inhalt des Gespräches nicht verstanden hat, soll die Pflegeperson abklären, ob sie und der Klient vielleicht über eine gemeinsame Fremdsprachenkompetenz verfügen bzw. ob eine sprachkundige Person hinzugezogen werden kann. Abhängig von der Situation und dem Ausmaß der Sprachbarriere, können auch Piktogramme, Übersetzungstafeln, fremdsprachige Anamnesebögen oder Aufklärungsbögen herangezogen werden. Vor dem Einsatz von Übersetzungstafeln, fremdsprachigen Anamnesebögen oder Aufklärungsbögen ist abzuklären, ob der Klient die lateinische Schrift lesen und schreiben kann oder z. B. nur die arabische, oder ob er Analphabet ist. Weiters haben fremdsprachige Anamnesebögen oder Aufklärungsbögen nur dann einen Sinn, wenn sie exakt den deutschsprachigen Bögen entsprechen und nur Antworten angekreuzt werden müssen. Ist dies nicht der Fall, bedarf es wiederum einer Person, die in der Lage ist, exakt zu übersetzen.

Wer als sprachkundige Person herangezogen werden kann bzw. muss, ist wiederum davon abhängig, in welcher Situation Sprachbarrieren auftreten. So können in der alltäglichen pflegerischen Begleitung durchaus zweisprachige Angehörige oder Freunde herangezogen und zugleich in die Pflege miteinbezogen werden. Die Anzahl dieser Personen sollte dabei möglichst gering gehalten werden, um eine Vielzahl subjektiver Informationen zu vermeiden und die Kontinuität der Pflege nicht zu gefährden.

Professionelle Dolmetscher (siehe dazu Kap. 5.2) sollen in Anspruch genommen werden, wenn Sprachbarrieren weitreichende pflegerische Entscheidungen verhindern. Dies betrifft vor allem das Anamnesegespräch als Basis für den Pflegeprozess sowie Pflegemaßnahmen, für deren Durchführung ein detailliertes Verständnis des Klienten unabdingbar ist.

Ein weiterer Aspekt der Verständigung betrifft die Geschlechterrolle. So wissen männliche Klienten aus dem arabischen Kulturkreis oft nicht, wie sie sich weiblichen Pflegepersonen gegenüber verhalten sollen, weil diese so handeln, wie es in ihrer Kultur nur Männern zusteht: nämlich sie befragen, von ihnen Auskünfte verlangen oder ihnen Anleitungen geben. Das kann dazu führen, dass sich diese Klienten nicht am Gespräch beteiligen und schweigen oder zu erkennen geben, dass sie die weibliche Pflegeperson nicht ernst nehmen. In diesem Fall ist es sinnvoll, einen männlichen Kollegen zu ersuchen, während des Gespräches anwesend zu sein. Seine Anwesenheit verschafft der weiblichen Pflegeperson Respekt und dem männlichen Klienten ein Gegenüber, auf das er sich beziehen kann.

Umgekehrt gilt es aber auch zu bedenken, dass sich in anderen Kulturen die Rolle der Frau von unseren Erwartungen unterscheidet. Vor allem in traditionellen arabisch-muslimischen Gesellschaften sind es Frauen nicht gewohnt, Bedürfnisse und Probleme außerhalb der Familie zu besprechen bzw. Entscheidungen zu treffen. Sie haben somit oft nicht nur eine Scheu, mit Fremden – unabhängig von deren Geschlecht – zu sprechen, sondern fühlen sich auch überfordert, wenn sie Entscheidungen treffen sollen. Manche Frauen entwickeln mitunter sogar ein schlechtes Gewissen, wenn sie Initiativen übernehmen sollen, die ihnen innerhalb des patriarchalischen Familiensystems nicht zustehen. Daher ist es sinnvoll, diesen Klientinnen das Angebot zu machen, eine Respektperson aus dem Familiensystem in das Gespräch einzubeziehen und wenn möglich eine gleichgeschlechtliche Pflegeperson als Gesprächspartnerin in Betracht zu ziehen. Keinesfalls sollte von der Klientin Eigeninitiative gefordert werden, da diese als ungehorsam und destruktiv angesehen werden und somit zu einer völligen Abschottung führen kann.

Um eine Verständigung sicherzustellen, ist daher auch ein Verständnis jener Abhängigkeitsverhältnisse erforderlich, unter denen viele Menschen in traditionell-konservativen Familien leben.

2.3 Die transkulturelle Pflegeanamnese


Um die Bedürfnisse, Probleme und Ressourcen von Klienten aus anderen Kulturen erheben zu können, bedarf es einer transkulturellen Pflegeanamnese. Sie bildet die Grundlage für eine individuelle, effektive und effiziente...

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