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E-Book

Trauer, Panik, Leidenschaft

Geschichten aus der Psychotherapie

AutorGabriel Rolón
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641169596
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Das Leben schreibt die besten Geschichten.
Eine alleinerziehende Mutter, die unter Panikattacken leidet. Ein Witwer, der sich auf eine neue Beziehung einlassen will. Eine junge Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wird. Respektvoll, einfühlsam und überraschend ehrlich erzählt der argentinische Psychoanalytiker Gabriel Rolón von seinen Patienten. Fünf Geschichten, die so vielfältig sind wie das Leben selbst, und doch so zentral und elementar, dass sie uns alle bewegen. Es geht um Familie, um die eigene Identität, um Verluste, um Scheitern, auch um Gewalt, um Schuld und Trauer, Veränderungen und Neuanfänge. Und natürlich um die Liebe.

Gabriel Rolón, geboren 1961 in Buenos Aires, studierte Psychologie und avancierte in kürzester Zeit zum bekanntesten Analytiker Argentiniens. Seine Bücher »Auf der Couch« und »Trauer, Panik, Leidenschaft«, Erzählungen über wahre Fälle aus der Praxis, waren in Argentinien Bestseller.

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Leseprobe

Vor der ersten Begegnung mit einem neuen Patienten habe ich jedes Mal ein seltsames Gefühl, eine Mischung aus Neugier und Argwohn. So sehr ich auch dagegen ankämpfe, ich schaffe es nicht, meinen Kopf davon abzubringen, ein Bild der Person zu entwerfen, die ich erwarte. Doch es ist wenig ratsam, vorab ein Urteil – oder vielmehr ein Vorurteil – über jemanden zu fällen, der seinen Besuch in der Praxis angekündigt hat, denn dann kann ich ihn nicht in angemessener Weise empfangen. Stattdessen ist es viel wichtiger, den Kopf möglichst frei von Vorstellungen zu halten, erst recht wenn es noch gar keine Grundlage für irgendwelche Vorstellungen gibt. Schließlich kenne ich zu diesem Zeitpunkt bloß die Stimme meines Besuchers, abgesehen von den wenigen Eindrücken während des kurzen Telefongesprächs, in dem wir unseren ersten Termin vereinbart haben.

Aber obwohl eine solche Unterhaltung nur wenige Erkenntnisse liefert, sollte man diese deshalb nicht ignorieren: der Tonfall des anderen, die Worte, die er wählt, sein Sprechrhythmus, all das sind nicht zu unterschätzende Hinweise, Orientierungspunkte, die zum Verständnis des zukünftigen Patienten beitragen können.

Im Fall von Norma verwies alles, was ich unserem ersten telefonischen Kontakt entnehmen konnte, darauf, dass sie sich in einem Zustand tiefer Trauer befand. Sie sagte kaum ein Wort, sprach sehr langsam und stimmte der Verabredung irgendwann zu, als hätte sie ohnehin nicht darüber zu entscheiden, geschweige denn die Möglichkeit, den Vorschlag zurückzuweisen.

Und sie erschien nicht allein in meiner Praxis, was auch etwas heißen wollte. Ich hatte jedoch nicht vor, sie nach dem Grund zu fragen. Jetzt jedenfalls noch nicht.

»Kommen Sie rein, Norma. Setzen Sie sich. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Danke. Ich bin ein bisschen nervös. Ich bin zum ersten Mal beim Psychologen.«

»Das kann ich verstehen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, letztlich ist ein Gespräch mit einem Psychologen gar nichts so Besonderes.«

Es war, als wollte sie sich verteidigen, sie schien regelrecht Angst zu haben. Unter diesen Umständen ist es für den Analytiker empfehlenswert, aktiv an den Patienten heranzugehen, statt schweigend abzuwarten. Außerdem sehe ich es als mein Recht an, bei den vorbereitenden Gesprächen nach allem zu fragen, was mir nötig erscheint, um auf einer belastbaren Grundlage entscheiden zu können, ob ich einen Fall übernehmen möchte oder nicht. Vorausgesetzt natürlich, der Patient ist seinerseits bereit, mich als seinen Analytiker zu akzeptieren.

»Erzählen Sie doch mal: Warum haben Sie beschlossen, meine Praxis aufzusuchen?«

»Eigentlich kam der Vorschlag von meinem Chef.«

»Und wie kam der dazu?«

Sie dachte nach.

»Ehrlich gesagt, es war kein Vorschlag. Es war ein Befehl.«

Sie senkte den Kopf und blickte schweigend zu Boden. Es fiel ihr offensichtlich schwer zu sprechen. Vor allem am Anfang. Noch kannte sie mich ja nicht und wusste nicht, ob sie mir vertrauen konnte. Damit sie sich in dieser Lage nicht überfordert fühlte, bat ich sie geradezu, fortzufahren.

»Möchten Sie mir nicht sagen, woran Sie denken?«

»Es ist mir peinlich.«

»Was ist daran peinlich?«

»Das, was passiert ist.«

»Und was ist passiert?«

»Also …«, sagte sie stockend. »Eine Kollegin von mir hat es ihm gesagt.«

Ich musste immer wieder nachfragen, um ein klares Bild zu bekommen.

»Wem?«

»Meinem Chef.«

»Was hat sie ihm gesagt?«

»Dass sie gehört hat, dass ich auf der Toilette geweint habe.«

Schweigen.

»Stimmt das?«

Sie nickte.

»Bitte sprechen Sie weiter.«

»Das war vor ein paar Tagen. Er hat mich offenbar beobachtet und darauf gewartet, bis es so weit war.«

»Und irgendwann war es dann so weit?«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor zwei Tagen.«

»Und was war da?«

»Ich …«, sagte sie wieder stockend, »ich war auf der Toilette, und er hat an die Tür geklopft.«

»Haben Sie da geweint?«

»Ja.«

»Und was ist dann passiert, Norma?«

»Als ich das Klopfen gehört habe, bin ich erschrocken. Und erst recht, als ich seine Stimme hörte. ›Geht es Ihnen gut, Norma?‹, hat er gefragt. ›Antworten Sie. Machen Sie die Tür auf, bitte.‹ Da war ich auf einmal völlig verzweifelt. Mein Herz hat immer schneller geschlagen, mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich musste mich hinsetzen. Ich habe gedacht, gleich werde ich ohnmächtig. Und ich habe mich schrecklich gefühlt …«

»Inwiefern?«

»Ich hatte das Gefühl … Ich habe geglaubt, gleich sterbe ich.«

Sie sah mich an.

»Wissen Sie, was ich meine?«

Herzrasen, plötzlicher Schweißausbruch, das Gefühl, dass der Blutdruck absackt, Todesangst – natürlich wusste ich, wovon sie sprach. Sie schilderte eine Panikattacke. Ich fing an, mir auszumalen, was alles auf mich zukommen würde, wenn ich den Fall übernähme. Dann schüttelte ich diesen Gedanken sogleich wieder ab: Wir würden hart arbeiten müssen. Am besten fingen wir also sofort damit an.

»Ich weiß, was Sie meinen, Norma.«

Als Norma die Analyse bei mir begann, war sie 46 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor hatte sie sich von ihrem Mann Esteban scheiden lassen. Sie hatten einen Sohn, Facundo, der inzwischen 17 war.

Nach dem vierten Vorgespräch beschlossen wir, gemeinsam eine Analyse durchzuführen. Zunächst würden wir einander gegenübersitzen, entschied ich, da ich den Eindruck hatte, sie sei noch nicht dafür bereit, auf der Couch liegend über sich zu sprechen.

»Esteban war der einzige Mann in meinem Leben«, erzählte Norma in einer der ersten Sitzungen.

»Heißt das, Sie haben nie mit einem anderen Mann geschlafen oder sind überhaupt nie mit jemand anderem ausgegangen?«

Sie senkte den Kopf, das Thema war ihr offensichtlich unangenehm.

»Beides.«

»Erzählen Sie bitte, wie war das damals?«

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

»Wir waren Nachbarn. Wir wohnten nur eine Querstraße voneinander entfernt. Alle Kinder gingen zu der Zeit auf die Schule bei uns im Viertel, auf die staatliche Schule. Da wir gleich alt waren, wurden wir auch zusammen eingeschult, und bis zum Ende der Grundschule gingen wir dann in dieselbe Klasse.«

Zu der Zeit.

Norma war eine junge Frau. Trotzdem sprach sie über ihre Kindheit und Jugend, als wäre beides ewig lange her. Ich ging aber vorläufig nicht darauf ein. Sie hatte gerade erst angefangen, ein wenig ausführlicher von sich zu erzählen, und dabei wollte ich sie keinesfalls unterbrechen.

»Danach ging ich auf die Sekundarschule und er auf eine Handelsschule. Aber Sie wissen ja selbst, wie das damals war, oder?«

»Was genau meinen Sie damit?«

»Dass man sich weiterhin gesehen hat. Wir sind uns auf der Straße begegnet, beim Einkaufen, wenn es Tanzabende gab. Wissen Sie noch?«

Ich nickte.

»Sind Sie damals auch tanzen gegangen?«

Ich sah sie an und überlegte. Ich hätte nichts auf die Frage erwidern können. Meistens machte ich das so, aber sie wirkte entspannt, und ich hatte den Eindruck, dies sei eine gute Gelegenheit, um eine persönlichere Verbindung zwischen uns herzustellen. Sie würde sich mir dann näher fühlen.

»Ja, natürlich. Das war schön.«

»Ja, das war wirklich schön«, sagte sie begeistert.

Zum ersten Mal lächelte sie, und ihr sonst so bekümmerter Gesichtsausdruck verschwand.

»Möchten Sie darüber sprechen?«

»Gut. Obwohl man mir das heute nicht mehr ansieht, war ich als Mädchen sehr hübsch, viele Jungs wollten mit mir tanzen. Wirklich viele«, sagte sie noch einmal und lächelte sehnsüchtig.

»Und haben Sie mit ihnen getanzt?«

»Fast nie.«

»Warum?«

»Weil … Ich hatte bloß Augen für Esteban. Er war so …«

»So was?«

»Er sah so gut aus, und er war schon so erwachsen, ein richtiger Mann. Und er hatte einen so schönen Blick und eine ruhige Stimme. Er war einfach anders als die anderen.«

»Und Sie waren in ihn verliebt, wie ich sehe.«

Sie wurde rot.

»Merkt man mir das an?«

»Ja.«

»Ich glaube, damals hat man mir das auch angemerkt. Ich war immer schon leicht zu durchschauen.«

»Dann hat er auch gewusst, was Sie für ihn empfinden, nehme ich an?«

»Ja, natürlich. Aber damals war das alles ganz anders.«

»Anders als was?«

»Anders als heute.«

»Warum? Wie ist es denn heute?«

»Die Jugendlichen trauen sich heute viel mehr. Früher konnte ein Mädchen nicht einfach so einem Jungen den Hof machen.«

Ich lächelte.

Norma verstummte. Ihr Blick hatte sich schlagartig verändert. Irgendetwas stimmte nicht, das war klar. Auf einmal wirkte sie sehr ernst. Was sie plötzlich so verstört hatte, wusste ich nicht, aber ich musste es unbedingt herausfinden.

»Was ist, Norma? Ärgern Sie sich über etwas, das ich gesagt oder getan habe?«

Angespannt presste sie die Zähne aufeinander und holte tief Luft, als müsste sie sich zusammenreißen.

»Bitte, sagen Sie es mir.«

Ich beugte mich leicht vor, und sie lehnte sich instinktiv zurück. Als hätte sie Angst, ich würde mich gleich auf sie stürzen, über den kleinen Couchtisch hinweg, und ihr wehtun.

»Ich weiß wirklich nicht, was los ist«, fuhr ich fort, »können...

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