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E-Book

Trauerbegleitung mit Märchen

Material und Anleitung für Betroffene und Betreuer

AutorJana Raile
VerlagParam
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783887557065
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Einen Sterbenden zu begleiten oder sein Fortgehen zu verarbeiten, ist eine seelische Herausforderung, so groß, dass Worte es nicht fassen können. Märchen beschäftigen sich mit den 'unlösbaren Aufgaben' des Lebens, so verwundert es nicht, dass Tod und Trauer in ihnen direkt oder indirekt eine entscheidende Rolle spielen. Die über Jahrhunderte gereiften Märchen sprechen die Bildsprache unserer kollektiven Seele und bringen zum Ausdruck, was uns auf dem Herzen liegt und in der Seele brennt, doch oft nicht in Worte gefasst werden kann. Märchen spenden Trost und geben Halt, sie geben das Gefühl, dass man in seinem Schmerz erkannt und verstanden wird. Sie folgen einer universellen Ordnung und zeigen Wege, die Menschen seit Urzeiten gegangen sind. Märchen heilen Herz und Seele.

Jana Raile hat unter anderem eine Ausbildung im Centre for the Research and Development of Traditional Storytelling in England durchlaufen. Seit 1992 ist sie hauptberuflich Erzählkünstlerin, Seminar- und Ausbildungsleiterin. Schwerpunkt ihrer Arbeit sind Märchen als Lebenshilfe für Menschen aller Altersgruppen. Dabei gilt ihre besonderes Interesse den Seelenbildern.

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Leseprobe

Und wenn sie nicht
gestorben sind


Die Trauer gehört zur Freude wie das Sterben zum Leben. Märchen erzählen von dieser Ganzheit des Seins. Sie erinnern uns, dass eines ohne das andere nicht vollkommen sein kann. Wir vergessen das gern und leben, als gäbe es kein Ende. Wir wünschen uns, dass alles so bleiben soll, wie es ist, und bedenken nicht, dass das kein Leben wäre. Leben ist Veränderung.

Das Sterben und die Märchen haben ein gemeinsames Geheimnis. Und dieses Geheimnis ist der Grund, warum beide in unserer Gesellschaft – die sich selbst als fortschrittlich bezeichnet – tabuisiert sind.

Das Sterben hat in einer Welt unbegrenzt wachsenden Erfolgs keinen Platz. In den Abendnachrichten sehen wir die Toten der fernen Kriege, doch vom Sterben unserer Nächsten halten wir uns fern, werden wir fern gehalten. Kaum einer geht noch aus dieser Welt eingebettet in die fassungslos weit geöffneten Herzen seiner Lieben. Statt dessen verbringen viele Menschen die letzten Stunden in den sterilen Räumen der Intensivstation mit der Nabelschnur aus Schläuchen und Kabeln an die Übermutter unserer Zeit, die Maschine, angeschlossen. Wenn die benachrichtigten Angehörigen eintreffen, ist es oft schon »vorbei«.

Die Wissenschaft versucht, das Mysterium des Lebens durch technische Errungenschaften zu verweltlichen, doch am Mysterium des Todes scheitert auch der beste Mediziner immer wieder neu. Was die meisten Menschen ein Leben lang verdrängen, offenbart sich im Verlauf des Sterbens unabdingbar – für den Sterbenden selbst wie auch für alle, die ihn von Herzen begleiten: die Seele.

Wer die Gnade und die Bürde erfahren hat, bei einem Sterbenden zu sein, hat gespürt und weiß, dass »etwas« aus der physischen Struktur ausfährt und sie als tote Materie zurücklässt. Wer feine Antennen hat und mit dem Verstorbenen sehr verbunden ist, spürt auch, dass dieses Etwas eine Weile noch gegenwärtig bleibt. Keine Gleichung und kein Instrument kann diese Erfahrung messen, doch wer sie bewusst erlebt, kann sich ihrer Wirklichkeit nicht entziehen. Deshalb ist der Tod tabuisiert, weil er unser »modernes Leben« fundamental infrage stellt. Und deshalb tun wir uns so schwer zu trauern. Wir verdrängen Tod und Trauer, weil sie die Axiome unserer merkantilen Kultur widerlegen. In diesem Zusammenhang Märchen zu nennen, mag im ersten Moment verwundern, doch auch sie werden tabuisiert und als grausam diffamiert.

Märchen sprechen die Sprache der Seele. Deswegen auch erschließen sie sich Kindern so unmittelbar und sind für die meisten Erwachsenen nur Kinderkram und dummes Zeug, Lügenmärchen eben. Märchen nehmen die Seele ernst und erzählen von den Herausforderungen des Herzens und wie man sie besteht, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen.

Es ist die Seele, die eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Tod, Trauer und Märchen herstellt. Das Märchen klärt viel Unausgesprochenes und Unaussprechbares, ohne zu erklären. Damit kann es den Gehenden und den Bleibenden Antworten auf die vielen Fragen geben, die sich mit den Wörtern des Kopfes nicht stellen lassen, die aber unser Herz bewegen und alles infrage stellen, was uns in der Geschäftigkeit des Alltags sonst so wichtig scheint, mit einem Mal aber vollkommen bedeutungslos ist.

Der Tod ist ein Mysterium. Sterben begleiten und Sterben erleben fordert uns heraus und gibt uns die Chance, dem Mysterium zu begegnen und frei zu werden, indem wir über unser begrenztes Selbst hinauswachsen, diesseits wie jenseits.

Das Lebenslicht


Marion bittet, dass wir uns treffen und gemeinsam zu ihrer Großmutter Gertrud gehen. Ich treffe eine junge Frau, der die Erschöpfung ins Gesicht gezeichnet ist.

Marion ist alleinerziehend und arbeitet halbtags. Ihre Eltern wohnen vierhundert Kilometer entfernt. Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, lebt allein in einer kleinen Wohnung. Bislang kam sie mit einer Haushaltshilfe gut zurecht, doch jetzt ist ihre Krebserkrankung weit fortgeschritten. Die Wohnung im zweiten Stock kann sie nicht mehr verlassen. Marion betreut sie, so gut es geht. Ihren Sohn hat sie in einem Hort untergebracht, um mehr Zeit für die Großmutter zu haben. Zweimal am Tag kommt ein Pflegedienst.

In die Sprechstunde kann Gertrud nicht mehr gehen. Der Arzt kommt deshalb regelmäßig ins Haus, drängt aber auf eine stationäre Unterbringung. Davon will sie trotz ihrer Schmerzen nichts wissen. Marion weiß nicht, wie es weitergehen soll. Das Kind, die Halbtagsstelle, zwei Haushalte und die seelische Belastung machen ihr zu schaffen. Sie wäre froh, wenn sich ihre Großmutter professionell betreuen ließe, will sie aber auch nicht »ins Krankenhaus abschieben«.

Gemeinsam gehen wir zu Gertrud. Marion stellt mich als Betreuerin vor. Ich setze mich neben das Kanapee, auf dem Gertrud liegt, Marion verschwindet in der Küche. Gertrud ist freundlich und erzählt gleich drauflos. In Danzig ist sie geboren. Auf der Flucht in den Westen war sie schwanger. »Das habe ich auch überlebt«, sagt sie stolz. Bei der Geburt ihres Sohnes sei sie fast verblutet, doch sie sei »dem Tod von der Schippe gesprungen«. In den 60er Jahren waren sie im Urlaub in Italien. Beim Baden im Meer sei sie fast ertrunken. In letzter Sekunde habe man sie aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt. »Ich habe sieben Leben«, lacht sie, »wie eine Katze. Ich bin unverwüstlich.« Als es dämmrig wird, bittet sie mich, eine Kerze anzuzünden, die neben dem Foto ihres Mannes auf dem Vertiko steht. Zum Abschied verabreden wir uns für den übernächsten Tag.

Ich bringe ihr ein Ahornblatt mit, das ich unterwegs aufgelesen habe. Das herbstliche Fallen der Blätter ist Anlass für ein besinnliches Gespräch. Gertrud akzeptiert, dass alles Leben seine Zeit hat, doch den Gedanken an ihre eigene Vergänglichkeit will sie nicht zulassen. Immer wieder erzählt sie davon, was sie im Leben alles ausgehalten und überstanden hat.

Zu unserem nächsten Treffen bringe ich das Märchen »Der Gevatter Tod«14* mit. Gertrud kennt es und will es sich gerne vorlesen lassen. Als ich fertig bin, ist sie ganz still. Dann deutet sie zur Kerze auf dem Kanapee. Ich stelle sie auf das Beistelltischchen neben der Liege und zünde sie an. Schweigend betrachten wir das Licht und ich halte Gertruds Hand.

Bei den folgenden Treffen muss die Kerze immer brennen. Gertrud öffnet sich allmählich und spricht auch über ihre Ängste. So werden neue Gedanken möglich und auch die schwierige Situation ihrer Enkelin rückt in ihr Blickfeld. Als der Arzt wieder zur Einweisung rät, stimmt sie zu. Das Wort Palliativstation wird vermieden.

Auch hier muss ich bei meinen Besuchen immer eine Kerze anzünden. Bei meinem letzten Besuch bittet sie mich, ihr noch einmal »mein Märchen« vorzulesen. Weil ich das Buch nicht dabei habe, erzähle ich, so gut ich mich erinnere. Als ich fertig bin, drückt sie mir mit Tränen in den Augen die Hand und flüstert kaum hörbar: »Gestorben wie im Märchen.« In der Nacht stirbt sie im Beisein ihrer Enkeltochter.

Der Gevatter Tod14


Es hatte ein armer Mann zwölf Kinder und musste Tag und Nacht arbeiten, damit er ihnen nur Brot geben konnte. Als nun das dreizehnte zur Welt kam, wusste er sich in seiner Not nicht zu helfen, lief hinaus auf die große Landstraße und wollte den Ersten, der ihm begegnete, zum Gevatter (Paten) bitten. Der Erste, der ihm begegnete, das war der liebe Gott, der wusste schon, was er auf dem Herzen hatte, und sprach zu ihm: »Armer Mann, du dauerst mich, ich will dein Kind aus der Taufe heben, will für es sorgen und es glücklich machen auf Erden.«

Der Mann sprach: »Wer bist du?«

»Ich bin der liebe Gott.«

»So begehr ich dich nicht zu Gevatter«, sagte der Mann, »du gibst dem Reichen und lässest den Armen hungern.« Das sprach der Mann, weil er nicht wusste, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt. Also wendete er sich von dem Herrn und ging weiter.

Da trat der Teufel zu ihm und sprach: »Was suchst du? Willst du mich zum Paten deines Kindes nehmen, so will ich ihm Gold die Hülle und Fülle und alle Lust der Welt dazu geben.«

Der Mann fragte: »Wer bist du?«

»Ich bin der Teufel.«

»So begehr ich dich nicht zum Gevatter«, sprach der Mann, »du betrügst und verführst die Menschen.«

Er ging weiter, da kam der dürrbeinige Tod auf ihn zugeschritten und sprach: »Nimm mich zu Gevatter.«

Der Mann fragte: »Wer bist du?«

»Ich bin der Tod, der alle gleich macht.«

Da sprach der Mann: »Du bist der Rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied, du sollst mein Gevattersmann...

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