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E-Book

Tugend

Über das, was uns Halt gibt

AutorReimer Gronemeyer
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783896845504
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
'Dieses Buch will sich auf die Suche nach den neuen Tugenden machen, die imstande sein müssen, drohender Verwüstung mit Liebe zu begegnen. Tugenden, die mit kluger Selbstbegrenzung auf die entfesselte Konsumgesellschaft reagieren. Die der Egomanie tapfer das Du entgegensetzen, um den anderen nicht aus dem Auge zu verlieren. Die gegen alle Trends eine gerechte Lebenswelt einfordern. So wachsen in Anknüpfung an die alten christlichen Tugenden die neuen, die gebraucht werden, auf dem Boden der freundschaftlichen Begegnung zwischen Menschen. Sie leben aus dem Glauben an die Kraft des hoffenden Menschen.' Für den Soziologen und Theologen Reimer Gronemeyer sind es die Tugenden, die unserem Leben Halt geben und es individuell und gesellschaftlich glücken lassen. 'Tugend' ist das leidenschaftliche, kämpferische Werk eines Mannes, der mit seinem Leben und seinen Büchern für eine Welt eintritt, die wieder menschlicher wird. Nicht, um das Gestern zu bewahren. Sondern um sich zu entscheiden: für ein Morgen, das uns allen eine lebenswerte Perspektive bietet.

Reimer Gronemeyer ist promovierter Theologe und Soziologe. Seit 1975 ist er Professor für Soziologie an der Justus- Liebig-Universität Gießen, wo er 2018 zum Ehrensenator ernannt wurde. Regel mäßige Forschungsprojekte führten ihn nach Osteuropa und Afrika. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher und wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Gronemeyer mit Fragen der alternden Gesellschaft und des Umgangs mit Demenz und Sterben. 2015 veröffentlichte er in der Edition Körber 'Altwerden ist das Schönste und Dümmste, was einem passieren kann'.

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Leseprobe

Die Tugenden: ein erledigter Fall?

Ich weiß wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wirklich konsequent zu sein.

PIER PAOLO PASOLINI

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Das Geld, sagt einer. Ja, die Gier, Konkurrenz und Neid, bekräftigt ein anderer. Nichts, sagt die Dritte. Es gibt keine Nachbarschaft mehr, beklagen die einen. Die Familien zerfallen, klagen die anderen. Sind tatsächlich nur noch Gier, Konkurrenz und Neid geblieben? Könnte ein solch erbärmlicher Klebstoff eine Gesellschaft retten? Oder ist es die Angst, die dafür sorgt, dass der Laden nicht auseinanderfliegt? Die Angst vor den Fremden, die ins Land drängen? Die Furcht vor dem wirtschaftlichen Abstieg angesichts chinesischer Übermacht, die sich wie eine Gewitterfront über uns ballt? Oder drängt sich der Schrecken über den Sturm des Fortschritts, der alles Heimatliche und Gewordene hinwegfegt, in den Vordergrund? All dies hinterlässt Gefühle der Verlassenheit und Schutzlosigkeit. Geld und Angst schmieden vielleicht eine Notgemeinschaft, aber eine freie, schützende und wärmende Gesellschaft kommt so nicht zustande.

Sokrates ist gerade zum Tode verurteilt worden. Er wird den Schierlingsbecher trinken und sterben. Nach dem Urteil wendet er sich an seine Richter. Und formuliert eine überraschende Aufforderung. »An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn ihr denkt, dass sie sich um Reichtum oder um sonst irgendetwas mehr bemühen als um die Tugend. Oder wenn sie so auftreten, als wären sie etwas, tatsächlich aber nichts sind. Dann weist sie zurecht, wie ich euch zurechtgewiesen habe.«1 Ein verzweifelter Appell des Sokrates an seine korrupten Richter, die mit ihrem Todesurteil gerade bewiesen haben, dass sie der Tugend den Garaus machen wollen. Sie setzt er ein als die Tugendwächter für seine Söhne. In dem Augenblick, in dem sein Tod besiegelt ist, bettelt er nicht um Gnade. Er wird auch die Fluchtmöglichkeit, die seine Schüler und Anhänger vorbereiten, nicht nutzen. Denn die arete, die Tugend, ist es, die Gemeinschaft möglich macht. Die Tugend ist die Voraussetzung für den Zusammenhalt in der polis, der Stadt. Und um diese Tugend, die Gemeinschaft erst möglich macht, ringt Sokrates. Unter der Überschrift: Tod oder Tugend. Lieber den Tod als den Verlust der Tugend.

Und wie steht es heute um die Tugenden? Wie steht es um all die hervorragenden Eigenschaften des Menschen, seine vorbildliche Haltung, die erstrebenswerten wertvollen Fähigkeiten zum Handeln, die ein Leben glücken und Gemeinschaften erblühen lassen? Von den Kardinalstugenden über die himmlischen oder die christlichen Tugenden, die Tugenden der Ritter oder der Soldaten, der Bürger oder eben jene Mischung, die es bis in unsere Zeit geschafft hat?

Es sieht so aus, als seien die alten Tugenden dem Untergang geweiht, denn sie passen nicht mehr in eine Zukunft, die von Computeralgorithmen und Biowissenschaften geprägt sein wird. Diese Zukunft – so scheint es – wird einen neuen Menschen hervorbringen, der dem aus der Mode gekommenen Humanismus Adieu sagt. Aber sind nicht gerade die Tugenden das Einzige, was uns darin bestärkt, der Herrschaft von Geld und Angst zu widersprechen? Sind sie nicht unsere uralten moralischen Faustkeile gegen den Machbarkeitswahn? Ich muss an ›Ötzi‹ denken. Dieses mit Fellen bekleidete Skelett, das von Spaziergängern in den Alpen, auf dem Tisenjoch, in mehr als 3000 Metern Höhe gefunden wurde. Er hatte einen Dolch bei sich, zwei abgebrochene Pfeilspitzen, einen Klingenkratzer und einen Bohrer. Auch ein Geweihzapfen in einem Lindenast fand sich, mit dem man Klingen und Spitzen schärfen konnte. Vor 5300 Jahren ist er in dieser alpinen Einsamkeit und Kälte unterwegs gewesen. Die meisten seiner Werkzeuge waren so stark abgenutzt und immer wieder nachgeschärft, dass sie schon den letzten Verwendungsgrad erreicht hatten. Hier war, so scheint es, ein sozial Isolierter, ein Getriebener, vermutlich ein Ausgestoßener, auf der Flucht, bis ihn schließlich ein Pfeil in den Rücken traf.2 Vielleicht können wir uns Ötzi als ein warnendes Beispiel dafür vorstellen, was passiert, wenn die Gemeinschaft zerbricht? Sind auch wir auf der Flucht, in der Tasche die abgenutzten, kaum noch funktionsfähigen Werkzeuge, alleingelassen auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft, während uns die Verfolger, die Feinde, auf den Fersen sind?

Wir verlassen das Zeitalter des stabilen Wohlstandsstaates, steigen gewissermaßen in gefährliches alpines Gelände, die globalen Konkurrenten hinter uns. Sollten wir, um zu überleben, die hinderlichen Tugenden als unnötigen Ballast abwerfen? Können wir uns die alten Tugenden noch leisten, wenn die Welt einem einzigen ökonomischen Schlachtfeld gleichen wird, in dem sich nur die Allerstärksten durchsetzen und überleben werden? Man könnte sagen: Wir in Europa haben in den letzten Jahrhunderten ein Leben gelebt, das sich auf fossile Brennstoffe stützt. Unsere Autos, unser Brot – ohne fossile Brennstoffe nicht möglich. Kein Getreide ohne Düngemittel, die nicht ohne Erdöl zu haben sind. Das sind unsere Feuersteine, Faustkeile, Pfeilspitzen. Während die Industriegesellschaft materiell auf dem fossilen Brennstoff ruhte, wurde sie moralisch von den christlich-antiken Tugenden befeuert, die eine disziplinierte Arbeitsgesellschaft hervorbrachte. Zwei Ressourcen also – das Öl und die Tugenden –, die sich nun erschöpfen. Vor uns die vielen Krisen, vom globalen Klimawandel bis zur weltweit anschwellenden Migration. Vor uns dramatische Umbrüche: Künstliche Intelligenz und Automatisierung, Algorithmisierung des Alltags und Menschenverbesserung. Auf dem Programm steht die Optimierung des Homo sapiens zum Einzelkämpfer mit perfektionierter DNA. Eingehüllt in eine digitale Schutzweste, wird wohl nur noch seine Seele durch Softwareprogramme abgelöst werden müssen.

Was da jetzt designt wird, ist eine neue Kreatur, die die Koalition zwischen Industriegesellschaft und alten Tugenden überwunden haben wird. Nicht, dass diese Koalition immer gut funktioniert hätte. Oft genug blieben die Tugenden nur das Feigenblatt: Aber der Homo sapiens steht ohne seine alte Moral gewissermaßen nackt da. Die Herausforderungen, so muss er sich eingestehen, die durch Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung und Migration auf ihn zukommen, lassen sich tugendhaft allein wohl kaum bewältigen: Dazu wird ein Systemmanagement gebraucht, das rechnet und nicht wertet, das optimiert und nicht zweifelt.

Der Homo sapiens geht unweigerlich seiner Optimierung entgegen. Soll man ihn Cyborg nennen? Wenn wir – was jetzt in den Bereich des Möglichen rückt – unsere DNA, unser Hormonsystem oder unsere Gehirnstruktur nur ein wenig verändern, dann entsteht ein neues Wesen. Und die Bioingenieure, die sich den alten Körper vornehmen, seinen Gencode umschreiben, seine Gehirnströme neu ausrichten und sein biochemisches Gleichgewicht verändern, werden dadurch – so schreibt Yuval Noah Harari – neue kleine Götter, die den Homo sapiens zur überholten Figur machen. Erinnern wir uns an Lucy, deren Knochen im afrikanischen Graben gefunden wurden. Sie lebte vor 3,2 Millionen Jahren. Homo erectus. Lucy ging aufrecht. Der Übergang aber zum Homo sapiens war ein tiefer Bruch. Ebenso wird der Übergang vom Homo sapiens zum Cyborg einen tiefen Bruch bedeuten. Es versteht sich fast von selbst, dass dieser Homo cyborgensis sich weder auf die altmodischen und erschöpften fossilen Ressourcen noch auf die ebenso altmodischen und erschöpften moralischen Ressourcen beziehen wird. Er wird sich nicht einmal an sie erinnern.3

Angesichts dieser Entwicklungen kann das Thema »Tugend« eigentlich nur wie ein Kostüm aus der Mottenkiste wirken, mit dem ein abgehalfterter Showmaster auftritt. Sind die Tugenden also aus der Realität längst herausgeschnitten, ganz so wie man ja DNA-Abschnitte herausschneiden kann? Wird sich die Jugend lediglich amüsieren, wenn ihnen jemand von »Tugenden« redet? Die Fragen lassen an den Philosophen Ludwig Wittgenstein denken, der gesagt hat: »Die Bedeutung eines Begriffs ergibt sich aus seinem Gebrauch.«4 Ist folglich schon die Rede von Tugend an sich lächerlich? Und ist der Begriff, der an deren Stelle den herrschenden Realitäten Raum verschafft, nicht eigentlich der Begriff »Leistung«? Streichen wir also die Tugend und reden zeitgemäß von Leistung: »Hole alles aus dir heraus! Entfessle deine Ressourcen! Optimiere dich!« Achtung, waren die antiken Tugenden nicht genau so gemeint? Arete, das griechische Wort für Tugend, hat mit dem agathon, dem Guten, zu tun. Gut laufen können (wie bei den Festspielen in Olympia), gut mit einer Situation fertigwerden können, eine Kunst gut beherrschen: Das ist Tugend. Der Begriff war gar nicht moralisch aufgeladen, sondern fast könnte man sagen: Sportlich war er gemeint. Der Wettstreit, in dem das Gute in uns (agathon) zur Höchstform aufläuft. Zum Besten (aristos), zum Aristokraten, lässt uns dieser Wettlauf werden. So könnte man die klassische Tugend also doch mit Leistung gleichsetzen? Ist unsere Leistungsgesellschaft also die wahre Tugendgesellschaft? Nein, so ist es nicht.5 Weil sich die arete, die Tugend, und mit ihr der Wettkampf um das Gute einzig auf die polis, das Gemeinwohl, bezieht. Arete hält die Gesellschaft zusammen, während die Leistung in der Leistungsgesellschaft nur eine Richtung kennt: mich....

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