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E-Book

Unsere Mütter

Wie Töchter sie lieben und mit ihnen kämpfen

AutorSilia Wiebe
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783608115536
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Zwölf erwachsene Töchter erzählen von ihren Müttern. Von der egozentrischen Hippie-Mutter über die hingebungsvolle Pflegerin der schwerkranken Tochter bis zur kriegstraumatisierten Frau, die keine Bindung zu ihrem Kind aufbauen kann. Mal liebevoll, mal von mühsamen Loslösepozessen geprägt - dieser vielschichtige, tiefgründige und lebendige Erzählband regt zur Selbstreflexion an. Für die eine ist sie die engste Vertraute, für die andere ein ewiges Rätsel. Sie ist Seelentrösterin, Vorbild oder die größte Enttäuschung unseres Lebens. Wenn Töchter von ihren Müttern erzählen, geht es um Dankbarkeit, Verletztheit und Liebe. Da ist zum Beispiel die 30-Jährige mit den sieben Kindern, die ohne ihre Mutter verzweifelt wäre, und die Frau, die adoptiert wurde und ihre leibliche Mutter erst mit 64 Jahren fand. Uns begegnet die 17-Jährige, die mit ihrer Mutter aus dem syrischen Bürgerkrieg floh, und die 23-Jährige, die mit dem Suizid der Mutter zurechtkommen muss. Wir lernen die erfolgreiche Influencerin kennen, die sich von ihrer konsumkritischen Mutter Anerkennung erhofft, und die Frau, die erst nach dem schmerzhaften Ehe-Aus spürt, dass sie das Kriegstrauma ihrer Mutter in sich trägt. Im letzten Kapitel erklärt die bekannte Diplom-Psychologin und Bestseller-Autorin Stefanie Stahl, wie sich unsere frühe Mutterbindung auf unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Einstellung zu uns selbst auswirkt. Sie gibt praktische Tipps, wie wir mit ausbleibenden Entschuldigungen, Übergriffigkeit und Desinteresse klarkommen und analysiert, warum manche Töchter noch als Erwachsene verzweifelt um die Liebe der Mutter kämpfen. Ein anregendes und anrührendes Buch für alle Töchter und Mütter.

Silia Wiebe, geboren 1977, lebt und arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Sie schreibt u.a. für »Chrismon«, »Stern« und »Brigitte«. Außerdem unterrichtet sie an der Hamburger Akademie für Publizistik und schrieb zusammen mit einer Kollegin »Das Trauerbuch für Eltern«, eine Sammlung Erfahrungsberichte verwaister Mütter und Väter.

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Leseprobe

Vorwort


Meine Mutter steht in ihrem Leinenmantel auf einer Düne auf Norderney. Es stürmt, ihre Haare fliegen im Wind. Sie hält den Griff des rotweiß gestreiften Buggys fest. Neben ihr stehe ich, hellblonde Haare, winzig klein. Ich schaue zu ihr hoch und da passiert es: Eine heftige Windböe wirbelt Sand auf, ängstlich greife ich nach ihrer Hand und in diesem Augenblick reißt der Arm meiner Mutter ab. Was für schaurige erste Sätze in einem Buch über Mütter und Töchter. Aber vermutlich kennen auch Sie diese Träume, in denen Sie Ihre Mutter zu verlieren drohen. Verlustangst, Liebe, Wut, Trauer und Eifersucht sind nur einige der intensiven Gefühle, die wir mit unseren Müttern verbinden.

In meinem Freundeskreis wimmelt es vor komplizierten Mutter-Tochter-Beziehungen. Und auch ich fühlte mich als Kind, soweit ich mich zurückerinnern kann, in meiner Familie oft fremd, wie ein grünes Schaf unter weißen. Grün, weil anders, nicht schlechter, nicht besser, aber nicht wirklich zugehörig. Später trug ich die wunderschönen Ringe mit den bunten Steinen, die meine Mutter in wochenlanger Feinarbeit in ihrer kleinen Werkstatt für mich goldschmiedete, und trotzdem zweifelte ich manchmal an ihrer Liebe. Ehe ich lernte, sie nicht nur als Mutter zu sehen, sondern als ganz normalen Menschen mit Stärken und Schwächen.

Waren meine Konflikte typisch? Wie geht es anderen Töchtern? Gibt es auch vollkommen gelungene Mutter-Tochter-Beziehungen? Ich möchte erwachsenen Töchtern eine Stimme geben und ihre unterschiedlichen Erfahrungen aufschreiben. Im Internet suche ich Wissenschaftler, die sich mit Müttern und Töchtern befassen, und finde die Entwicklungspsychologin Sabrina Sommer, die an der Universität Paderborn über familiäre Beziehungen forscht. Was sie sagt, überrascht mich: Mütter und Töchter haben im Erwachsenenalter in den meisten Fällen eine sehr innige Beziehung. Sie verweist auf die aktuelle Längsschnittstudie Pairfam, die dokumentiert, dass sich Erwachsene mehr mit ihren Müttern als mit ihren Vätern verbunden fühlen und, das verwundert nun nicht mehr, dass Mütter im Alter mehr Unterstützung von ihren Kindern bekommen als Väter. Weil das emotionale Band zwischen ihnen stärker ist. Das wiederum liegt an unserer Kindheit: Mütter verbringen in der Regel nach wie vor mehr Zeit mit ihren Kindern als Väter. Irgendwann zahlt sich das anscheinend aus.

Ich durchforste wissenschaftliche Artikel und stoße auf den renommierten britischen Kinderpsychiater John Bowlby. Er analysierte in seiner dreibändigen Bindungstheorie (1969 bis 1980) die intensive Bindung von Säuglingen an ihre engste Bezugsperson, meistens die Mutter. Als einer der Ersten erkannte er, dass die frühe Trennung von Mutter und Kind, beispielsweise aufgrund eines Klinikaufenthaltes, gravierende seelische Folgen haben kann. Seine Mitarbeiterin Mary Ainsworth entwickelte seine Forschungsergebnisse weiter und belegte in Studien, dass die Feinfühligkeit und Zugewandtheit einer Mutter ihrem Kind gegenüber die Voraussetzung schafft, dass es eine gesunde Bindungsfähigkeit entwickeln kann.

Aber wie ergeht es uns, frage ich mich jetzt, wenn unsere Mütter nicht so zugewandt waren und uns Töchtern nicht das Gefühl vermitteln konnten, uns so zu lieben und zu schätzen, wie wir nun mal sind? Die US-Autorin Peg Streep schreibt im Magazin Psychology Today über nicht geliebte Töchter, zu denen sie auch sich selbst zählt:

»Das Bedürfnis einer Tochter nach der Liebe ihrer Mutter ist eine urtreibende Kraft, und dieses Bedürfnis verringert sich nicht, nur weil die Liebe nicht verfügbar ist. Es koexistiert mit der schrecklichen und Schaden anrichtenden Einsicht, dass die eine Person, die dich ohne Bedingung lieben soll, genau das nicht tut. Der Kampf um Heilung und Bewältigung ist ein gewaltiger. Er betrifft viele, wenn nicht gar alle Teile des Selbst, und besonders unsere Beziehungen.« Und weiter: »Der Sinn hinter der genauen Betrachtung unserer Wunden liegt aber nicht darin zu klagen und die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen angesichts der Mutter-Liebeskarten, die wir nun mal ausgespielt bekamen. Es geht darum, sich ihrer bewusst zu werden. Bewusstsein ist der erste Schritt zur Heilung. Aber nur zu oft akzeptieren wir unser inneres Geschehen einfach, ohne seinen Ursprung zu kennen.« Nicht jammern, weil wir es als Kind schwerer hatten, sondern die Schublade aufziehen, die verletzten Gefühle herausholen, anschauen, annehmen und dann heilen lassen. Leicht gesagt, denke ich, und nehme mir vor, mindestens eine Tochter für mein Buch zu finden, der das gelungen ist.

Nun überlege ich mir Themen, die ich zur Sprache bringen will: Adoption, Unterstützung der Enkel, Krankheit der Tochter, Leistungsdruck in der Kindheit, Kontaktabbruch, Pflege der Mutter, Schuldgefühle, unterschiedliche Ansichten zu moralischen Werten, Suizid, kontroverse Interessen. Über meinen Freundeskreis, über familiäre und berufliche Kontakte, über Internetforen und Fernsehbeiträge suche ich Töchter, die mir zu diesen Themen etwas sagen können. Ich vereinbare Interviewtermine, telefoniere, reise in den Süden und in den Norden Deutschlands, höre zu, staune und schreibe auf.

Mit der 33-jährigen Suleika laufe ich an der Flensburger Förde entlang und höre berührt zu, wie sie über ihre Liebe zu ihrer Geige spricht und darüber, wie sie als Teenager nicht mehr damit klarkam, dass ihr Geigenlehrer zugleich ihr Stiefvater war. Anschließend fahre ich nach Wolfenbüttel zu Karin, die von ihrer leiblichen Mutter als Kleinkind zur Adoption freigegeben wurde und sich mit Mitte sechzig auf die Suche nach ihr machte. Ich möchte wissen, wie es ist, gleich zwei Mütter zu haben, eine leibliche und eine Adoptivmutter. Weil sie ihre leibliche Mutter erst kennenlernte, als diese knapp neunzig war, bitte ich auch Ekkehard, ihren Zwillingsbruder, als einzigen Sohn in meinem Buch zu erzählen. Wie hat er die Mutter in der Kindheit erlebt, nachdem sie seine Schwester weggegeben hatte? Und wie kam er damit zurecht, erst mit vierundsechzig Jahren zu erfahren, dass er ein Zwilling ist? »Wer bin ich, dass ich moralisch über meine Mutter urteile?«, sagt Ekkehard und ich zucke zusammen, weil ich schon oft über meine Mutter urteilte, und zwar in weitaus unbedeutenderen Situationen.

Tagsüber beschäftigen mich die Mütter aus meinem Buch. Abends denke ich über meine eigene Mutterbeziehung nach. Im Urlaub in der Provence – das Manuskript ruht nach fünf Monaten erstmals – greife ich spontan zum Telefon und frage meine Mutter, ob ich ihr fremd war als Kind, ob sie auch das Gefühl hatte, dass ich nicht so richtig zur Familie gehörte. »Du kannst es ehrlich sagen«, schiebe ich mutig und ermutigend hinterher. »Nein«, sagt sie mit fester Stimme. »Ich habe dich von Anfang an geliebt, du bist mein Kind, ich fand dich genau richtig, so wie du warst. Und es tut mir ganz schrecklich leid, dass du das nicht so empfunden hast.« Warum kommt die Wertschätzung manchmal einfach nicht an?

Als Nächstes rufe ich Veruschka auf Hawaii an, die ihre frühe Kindheit mit ihrer alkoholabhängigen Mutter am Strand zwischen Hippies und Dealern verbrachte und heute – weit entfernt von der Mutter – wieder dort lebt. Nach unserem Interview muss ich tief durchatmen. Veruschka hätten die liebevollen Worte meiner Mutter sicher auch gutgetan. Wochen später lerne ich Veruschkas charismatische Mutter kennen. Wir treffen uns in einem Hamburger Café und sogleich spüre ich die Last ihrer Schuldgefühle, als sie über ihre Zeit im Gefängnis erzählt und über ihre letzten Worte an die Tochter (»Mami ist in zwei Stunden zurück!«), ehe sie für Jahre hinter Gittern verschwand. Hinter der großen schwarzen Sonnenbrille, die sie nicht einmal kurz absetzt, erahne ich ihre Tränen.

Je mehr Interviews ich führe, desto besser verstehe ich: Während die eine Tochter wütet, weil die Mutter ungefragt ihren Kleiderschrank aufräumt, verzeiht die andere der Mutter ohne große Worte, dass sie als Baby weggegeben wurde. So unterschiedlich unsere Mutter-Beziehungen sind, so verschieden sind unsere Möglichkeiten, mit unseren Müttern umzugehen. Wir Töchter können nicht beeinflussen, wie wir in der Kindheit von ihnen geprägt wurden. Aber eben doch, was wir aus unseren Prägungen machen.

Über eine Facebook-Gruppe, in der sich Töchter von Kriegskindern über ererbte Traumata austauschen, komme ich in Kontakt...

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