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Vor-Urteile

Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können | Mit zahlreichen s/w-Abbildungen

AutorAnthony G. Greenwald, Mahzarin R. Banaji
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783423426992
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Unser geheimes Schubladendenken Kaum ein Mensch ist in der Lage, die kulturellen Prägungen, denen er von klein auf ausgesetzt war, abzulegen, ob es nun Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, Sexualität, Behinderungen oder sozialen Status betrifft. Auch wenn wir es abstreiten: Der durch sie entstandene »blinde Fleck« in unserem Gehirn verhindert, dass wir anderen unvoreingenommen begegnen. Das aber können wir uns zumindest bewusst machen und dagegen angehen.

Mahzarin R. Banaji, Jg. 1956, geboren in Indien, kam nach dem Studium der Psychologie in Hyderabad 1980 als Doktorandin an die Ohio State University, wo Anthony Greenwald ihr Doktorvater wurde. Von 1986 bis 2001 lehrte sie an der Yale University, seit 2001 ist sie Professorin für Psychologie in Harvard.

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Leseprobe

1
Mentale Programmfehler


Ein gewöhnlicher Tag auf einem Campus. Studenten und Professoren der experimentellen Psychologie strömen in einen Vorlesungssaal, um den Gastvortrag eines renommierten Wissenschaftlers anzuhören: Wie nimmt das Gehirn die physische Welt wahr? Weder sein Tweed-Jackett noch sein zerzaustes Haar lässt ahnen, was er seinen Zuhörern zumuten wird. Einige Minuten nach Beginn seines Vortrags sagt er nüchtern: »Wie Sie deutlich sehen, haben die beiden Tischplatten exakt die gleiche Form und Größe.«

Stirnrunzelnd oder verlegen lächelnd rutschen die Zuhörer auf ihren Sitzen hin und her: Wie jeder deutlich sehen kann, ist der Redner komplett auf dem Holzweg. Manche legen den Kopf schräg, um auszuprobieren, ob eine andere Perspektive weiterhilft. Einige fragen sich, ob sie sich einen Vortrag, der mit so einem Unsinn beginnt, noch weiter antun sollen.

Die Ungläubigen werden kalt erwischt, als sich der Redner daranmacht, seine dreiste Behauptung zu beweisen. Er legt eine neue Folie auf den Overhead-Projektor, auf der nichts als ein rotes Parallelogramm abgebildet ist. Er legt sie so hin, dass sich die Figur exakt mit den Umrisslinien der linken Tischplatte deckt. Dann dreht er die Folie im Uhrzeigersinn und verschiebt das Parallelogramm so, dass es über der Tischplatte auf der rechten Seite liegt, ebenfalls exakt deckungsgleich. Erst geht ein Raunen durch den Saal, als er das Parallelogramm immer wieder hin und her schiebt, dann bricht Gelächter aus. Der Redner deutet nur ein kurzes Lächeln an, bevor er seinen Vortrag darüber fortsetzt, wie visuelle Reize vom Auge aufgenommen, ans Gehirn weitergeleitet und im Bewusstsein ausgewertet werden.

Noch skeptisch? Überzeugen Sie sich selbst. Nehmen Sie ein durchscheinendes Papier, pausen Sie den Umriss einer der beiden Tischplatten ab und schieben Sie diese Zeichnung auf die andere Tischplatte. Sollte sich die erste Tischplatte dabei nicht als deckungsgleich mit der zweiten erweisen, ist nur eine Erklärung möglich: Sie haben ungenau durchgepaust. Die beiden Tischplatten sind in Form und Größe tatsächlich identisch. Aber wie ist das möglich?

Visuelle Programmfehler


Sie sind soeben – wie auch wir – einer optischen Täuschung aufgesessen: dem Versagen unseres Gehirns, zwei Objekte so zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Fehlleistungen dieser Art nennen wir im Folgenden mentale Programmfehler – festgefügte Denkgewohnheiten, die zu irrigen Wahrnehmungen, Erinnerungen, Urteilen und Entscheidungen führen.1

Die optische Täuschung der sogenannten »Shepard-Tische« verdankt diesen Namen ihrem Schöpfer, dem genialen Kognitionspsychologen Roger Shepard, der begeistert die Kunst betreibt, für Verblüffung zu sorgen. Wenn wir die Bilder der beiden Tischplatten betrachten, werden sie faktisch als gleichförmige und gleich große Figuren auf der Netzhaut unserer Augen abgebildet. Mit anderen Worten: Die Retina »sieht« die Tischplatten noch richtig. Aber wenn diese Sinnesreize ins Sehzentrum des Gehirns weitergeleitet werden, das räumliche Tiefe wahrnimmt, beginnt das Problem.

Die irrige Wahrnehmung, dass die beiden Tischplatten völlig unterschiedliche Formen aufweisen, kommt dadurch zustande, dass unser Gehirn das zweidimensionale Bild, das auf dem Papier und auf der Netzhaut vorhanden ist, automatisch in ein dreidimensionales Bild von Tischplatten umwandelt, wie sie in der natürlichen Welt sein müssen. Mit anderen Worten: Unser Gehirn projiziert in die zweidimensionale Szenerie automatisch die dritte Dimension der räumlichen Tiefe hinein – eine Illusion, die unser denkendes Bewusstsein akzeptiert, ohne sie zu hinterfragen. Es lässt sich sogar so sehr täuschen, dass wir die Versicherung des Redners, dass beide Tischplatten deckungsgleich seien, als blanken Unfug zurückweisen.

Die natürliche Selektion hat die Gehirne von Menschen und anderen hoch entwickelten Organismen mit der Fähigkeit ausgestattet, sich in der dreidimensionalen Welt erfolgreich zurechtzufinden. Da unser Gehirn seine Erfahrungen nur in der 3-D-Welt gesammelt hat, korrigiert es das wahrgenommene zweidimensionale Bild der Tischplatten so, dass sie uns als Objekte der herkömmlichen dreidimensionalen Welt erscheinen.2

Anders als man erwarten könnte, stellt dieser Wahrnehmungsfehler keine dürftige Anpassung an die Umwelt dar, sondern einen Triumph der Evolution: Die Shepard-Tische demonstrieren den Erfolg eines visuellen Systems, das sich effizient an die Herausforderung angepasst hat, mithilfe der zweidimensionalen Oberfläche der Netzhaut im Auge die dreidimensionale Außenwelt wahrzunehmen. Das Gehirn vertraut auf seine automatische Interpretation der Daten so fest, dass, so Shepard, »jedes Wissen oder Verständnis, das wir auf intellektueller Ebene zu der optischen Täuschung erlangen können, deren Wirkung kaum schmälern kann.« Schauen Sie sich die Tische erneut an: Obwohl Ihnen inzwischen klar ist, dass die Platten identisch sind, wirkt die Illusion unvermindert fort.3

Auch wenn diese Erfahrung verwirrend anmutet, so illustriert sie doch anschaulich eine herausragende Eigenschaft des Gehirns: Unser Verstand erledigt einen großen Teil seiner Aufgaben automatisch, unbewusst und ohne Willensanstrengung. Das beschwört in Ihnen vielleicht das Bild des bärtigen, Zigarren rauchenden Sigmund Freud herauf, von dem zu Recht behauptet wird, er habe den Begriff »unbewusst« im alltäglichen Gebrauch verankert. Allerdings hat sich in dem Jahrhundert, das auf seine bahnbrechenden Beobachtungen folgte, das Verständnis unbewusster Abläufe in der menschlichen Psyche deutlich verändert. Freud zeichnete das Bild eines allgegenwärtigen Unbewussten, in dem vielschichtige Motive wirken, die wichtige Aspekte unserer Psyche und unseres Verhaltens prägen, vom Traum über die Erinnerung und den Wahn bis hin zur gesamten Zivilisation. Heute haben seine Anschauungen, die sich einer wissenschaftlichen Überprüfung noch immer entziehen, viel von ihrem einstigen Einfluss darauf eingebüßt, wie wir unbewusste mentale Vorgänge verstehen.

Das moderne Konzept der unbewussten Gehirntätigkeit ist einer anderen historischen Figur zuzuschreiben, die allerdings deutlich weniger bekannt ist. Der deutsche Physiker und Physiologe Hermann von Helmholtz (1821–1894) versuchte, mit dem Begriff des unbewussten Schlusses zu erklären, wie optische Täuschungen wie die der Shepard-Tische funktionieren.4 Er versuchte, die Mittel zu beschreiben, mit denen das Gehirn aus physikalischen Daten die bewussten Wahrnehmungen erzeugt, die unsere normalen subjektiven Erfahrungen des »Sehens« ausmachen. Unser Sehsystem lässt sich von einem simplen zweidimensionalen Bildnis deshalb täuschen, weil es in einem unbewussten mentalen Akt die 2-D-Figur auf der Netzhaut durch die bewusst wahrgenommene 3-D-Figur des Objektes ersetzt, das im betreffenden Bild dargestellt ist.

Machen Sie im Folgenden einen Selbstversuch: Lesen Sie die unten stehenden 16 Wörter aufmerksam durch und merken Sie sich möglichst viele. Sie müssen sie später in einer weiter hinten abgedruckten Liste wiedererkennen.

Ameise

Spinne

Fühler

Netz

Fliege

Gift

schleimig

krabbeln

Biene

Flügel

Käfer

klein

Stich

Schreck

Wespe

wuselig

Zunächst folgt aber eine weitere verblüffende optische Täuschung, die ebenfalls auf einem unbewussten Schluss beruht: Schauen Sie sich auf dem unten abgebildeten Schachbrett mit dem Zylinder die beiden Quadrate A und B genau an: Sie sind beide gleich dunkel gefärbt. Sie glauben es nicht? Nehmen Sie ein Stück lichtundurchlässiges Papier, mit dem Sie die gesamte Abbildung abdecken können, markieren Sie mit einem Punkt die Stellen, an denen die Quadrate A und B sitzen, und stoßen Sie mit einem Stift in die Punkte Löcher hinein, die so klein sind, dass Sie durch sie hindurch nur einen Ausschnitt aus den betreffenden Quadraten sehen. Vergleichen Sie nun die Graustufen in den Löchern. Ohne die übrige Abbildung erkennen Sie deutlich, dass beide identisch sind.

Schuld an dieser Täuschung ist wieder ein unbewusster Schluss, ein mentaler Programmfehler, der das Bild in unserer Wahrnehmung automatisch verfälscht. Wie kommt diese bemerkenswerte Fehlleistung zustande? Verantwortlich sind mehrere Details des abgebildeten Schachbretts. Wenden wir uns zunächst denen mit der größten Wirkung zu: Das Quadrat B liegt inmitten von mehreren dunklen Feldern, die es wegen des Farbkontrastes heller erscheinen lassen, als es in Wahrheit ist. Und umgekehrt liegt das Quadrat A inmitten heller Felder, die es entsprechend dunkler wirken lassen. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Schatten des Zylinders, der einige Felder, darunter B, in ein dunkleres Licht taucht. Diesen dunkleren Ton gleicht unser Gehirn automatisch wieder aus, sodass uns Quadrat B in der bewussten Wahrnehmung heller erscheint, als es in Wahrheit ist.

Wie bei den Shepard-Tischen sind auch bei dieser Täuschung die Mechanismen am Werk, denen wir es verdanken, dass wir unsere Umwelt erfolgreich visuell wahrnehmen und entschlüsseln können. Dieses Schachbrettbild stammt von dem Forscher Ted Adelson, der sich am Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit der visuellen Wahrnehmung befasst. Er schreibt dazu: »Wie bei vielen optischen Täuschungen offenbart dieser Effekt vielmehr den Erfolg statt eines Versagens des visuellen Systems. Der Gesichtssinn taugt nicht besonders gut als physikalisches...

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