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E-Book

Versichert, verraten, verkauft

Wie Versicherungen mit unserem Geld umgehen

AutorLeo Müller
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783843710466
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Ihren Kunden versprechen sie Sorglosigkeit, doch ihre eigenen Finanzrisiken haben sie nicht im Griff. Eine hinterlistige Verkaufsmaschine und untaugliche Finanzprodukte haben die Versicherungskonzerne groß gemacht, jetzt stecken sie in der Krise: zu geringe Kapitalpuffer, Riesenlöcher in den Bilanzen, Schwindler-Investments, Halunken an der Verkaufsfront und gefangen in der Zinsfalle. Für Millionen Bürger ist Gefahr in Verzug: Viele Lebensversicherer werden sich nur noch auf Kosten ihrer Kunden sanieren können.

Leo Müller, Autor des Wirtschaftsmagazins Bilanz, ist Experte für Finanzkriminalität. Bereits beim Stern, bei Cash, Capital und der Financial Times Deutschland hat er zahlreiche Wirtschaftsskandale enthüllt. Müller schrieb Tatort Zürich, er ist Dozent am Studiengang Economic Crime Investigation der Hochschule Luzern und lebt mit seiner Familie bei Zürich.

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Leseprobe

EINLEITUNG


Dieses Buch handelt von einer atemberaubenden Geschichte. Es erzählt, wie die Versicherungskonzerne es schafften, 824 Milliarden Euro an Kundengeldern einzusammeln, wie sie damit ihre Glaspaläste erbauten und wie sie schließlich erfolgstrunken einen Overkill produzierten, aus dem ein Großrisiko für ihre Unternehmen, aber auch für ihre Kunden erwächst.

Es ist eine Geschichte des Aufstiegs und eine Geschichte des Abstiegs. Der Weg nach oben wurde in den Bürotürmen der Konzerne sichtbar. 29 Stockwerke und 108 Meter hoch ist das Victoria-Haus in Düsseldorf. Im Berliner Treptower residiert die Allianz: 32 Stockwerke, 125 Meter. Die Nürnberger Versicherungsgruppe im Business Tower Nürnberg: 34 Etagen und 135 Meter. Der Düsseldorfer ARAG-Tower misst 125 Meter und 32 Stockwerke. Der Vertriebskonzern AWD, heute als Swiss Life Select firmierend, hat ein Domizil im KölnTurm, einem modernen Skyscraper mit 43 Stockwerken auf 143 Metern. Und der Ergo-Konzern nutzt in Mannheim den gläsernen Victoria-Turm: 98 Meter und 27 Etagen.

Hoch oben schweben die Manager der Versicherungskonzerne über dem gewöhnlichen Leben der Wirtschaftsmetropolen. Sie können hinunterschauen auf die Wohn- und Arbeitsquartiere ihrer Kundschaft. Dort unten ziehen ihre Verkäufer von Haus zu Haus, von Betrieb zu Betrieb, mit schönen Prospekten im Koffer und immer neuen »Finanzprodukten« im Angebot. Vermittler, Vertreter, Makler, Finanzberater – sie haben unterschiedliche Visitenkarten, und auf den Deckblättern ihrer Prospekte stehen unterschiedliche Firmensignets und Markenlogos. Sie grasen alle ab, die noch nicht unterschrieben haben. Manchen schwatzen sie sogar einen zweiten oder dritten Vertrag auf, andere animieren sie dazu, alte Verträge zu kündigen und sogleich wieder neue zu unterzeichnen. Den Ahnungslosen verkaufen sie Einstiegsprodukte, und den bereits Frustrierten versprechen sie das neue, viel bessere Produkt: dynamisch, flexibel, mit Kapitalschutz und Sorglos-Garantie. Fast jeden Erwachsenen haben sie erfasst, mit einer Sachversicherung, einer Krankenversicherung, vor allem aber mit ihren Altersvorsorgeprodukten: Lebensversicherungspolicen, Riester-Verträge, Vorsorgefonds. Ihr einziges Ziel, wie es ein Ex-Vermittler offenbarte: »Den Kunden volldröhnen, bis er unterschreibt oder bis man rausgeworfen wird.«1

Viele Kunden hatten ein ungutes Gefühl dabei, als sie eine Police unterschrieben. Aber warum haben sie es dennoch getan? Wie haben es die Assekuranzkonzerne geschafft, 80 Millionen Deutschen mehr als 90 Millionen Lebensversicherungspolicen zu verkaufen, allein mit Lebensversicherungen 824 Milliarden Euro an Kundengeldern anzuhäufen und mit fondsgebunden Policen nochmals 78 Milliarden Euro? Warum zahlen die Kunden trotzdem fleißig ihre Beiträge, die sich in den Kassen der Versicherungskonzerne, Pensionsfonds und Pensionskassen im Jahr 2013 auf über 90 Milliarden Euro steigerten?2

Bei nüchterner Analyse der Verträge ist dies im Nachhinein oftmals kaum noch zu verstehen. So mies, so lausig sind die finanziellen Resultate, und schon allein die Zahl der Kündigungen spricht Bände: 50 bis 80 Prozent aller Langfristanlagen wurden vorzeitig mit Verlust aufgelöst. In der Regel mussten die Kunden dabei beachtliche Schäden in Kauf nehmen.3 Dieses Finanzmysterium ist nicht zu verstehen ohne einen Blick in die illustre Geschichte der Vermittlerindustrie, die das Geld der Kunden in die Depots der Versicherungskonzerne geschaufelt hat – eben jene 824 Milliarden Euro, an deren Vermögensverwaltung sich die Unternehmen fortwährend nähren.

Diese Story begann in der Nachkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts mit einem Betrugssystem von gewaltiger Dimension. Es war der Amerikaner Bernie Cornfeld, ein begnadeter Verkäufer, der das System erfunden hatte und mit dem Versprechen eines »Volkskapitalismus« unters Volk brachte: Jedermann, so die Botschaft, sollte künftig reich werden können. Er hatte mit seiner Investors Overseas Services (IOS) die bis heute übliche und marktbeherrschende Verkaufspraxis entwickelt, die unter dem Namen Strukturvertrieb berühmt und berüchtigt wurde. Das System wuchs schwindelerregend rasch und brach mit einem grandiosen Crash zusammen. Er hinterließ Massen an gebeutelten Kunden und arbeitslosen Verkäufern. Es war »das perfekteste Sklavenhaltersystem, das je geschaffen worden war«, urteilte ein Versicherungsmanager nach dem Zusammenbruch des Systems über die IOS. »Ein gewaltiges Schwindelunternehmen«, resümierte ein Autorenteam damals.

Cornfelds IOS endete in einer betrügerischen Pleite, doch seine Idee der Massenverführung lebte weiter. Wie ein Virus infizierte sie das Geschäft der Versicherungsindustrie. Es waren seine besten Verkäufer, die fortan für deutsche Versicherungskonzerne neue Vertriebsstrukturen nach dem IOS-Modell aufbauten. Es waren die Schüler dieser IOS-Haudegen, die dieses Werk fortsetzten und die schließlich bis in die Chefetagen der Konzerne aufstiegen. Und noch heute landen Kundengelder in den Händen von IOS-Veteranen und deren Lehrlingen.

Sie erfanden das Wort »Finanzprodukt«, das seitdem aus dem Geschäft der Assekuranz nicht mehr wegzudenken ist. Damit wurde aus dem mal weitsichtigen, mal spekulativen Investor der Käufer einer Produktkreation, die in den Ideenschmieden der Konzerne entwickelt, gefertigt und mit wohlklingenden Parolen verkauft wurde. Und damit wurde aus dem Investment in verständliche, nachvollziehbare Anlagen eine Hingabe des Ersparten für ein vollmundiges Versprechen künftiger Erträge, wobei eigentlich weder Verkäufer noch Investor verstehen, was mit dem Kundengeld passiert.

Cornfelds Verkaufsparole des »Volkskapitalismus« lebte weiter, in immer neuen Verpackungen wurde das populäre Sorglos-Versprechen als Verkaufsargument eingesetzt, von der Kapitallebensversicherung über die fondsgebundene Lebensversicherung bis hin zu den Riester-Produkten. Sein Konzept funktionierte über Jahrzehnte hinweg und füllte die Kassen mit den verwalteten Vermögen der Versicherungsunternehmen unermesslich – eben mit jenen 824 Milliarden Euro.

Seit dem Crash von Cornfelds IOS kamen die Verkaufsmaschinen der Versicherungskonzerne immer wieder einmal ins Stottern. Die Krisen traten in nahezu jeder Dekade ein, mal wegen einer Marktsättigung, mal wegen eines zunehmenden Misstrauens auf der Käuferseite. Das politische Geschehen förderte einmal unverhofft die Öffnung eines neuen Marktes: die deutsche Wiedervereinigung. Doch immer wieder half die Assekuranzindustrie auch etwas nach. Sie vermochte es regelmäßig, die Politik für ihre Zwecke einzuspannen. So begann ihr Aufstieg mit der Rentenreform Konrad Adenauers im Jahr 1957, so half ihr 1994 die Europäische Kommission mit der Deregulierung der Versicherungsmärkte, und so brachte ihr die Riester-Reform neue Wachstumsimpulse, die in einem modischen Hype endeten. Das Wort »investieren« wurde nun durch »riestern« ersetzt4 – bis die Verkaufskurve mit den Riester-Produkten deutlich nach unten zeigte, die Vertriebsmaschine wieder ins Stottern geriet und viele Kunden ihre Riester-Verträge schließlich auflösten. Viele Kunden waren einfach nur noch verärgert. Nachdem erste kritische Analysen über die Riester-Verträge erschienen waren, fühlten sie sich mit den hochtrabenden Performance-Versprechen veräppelt.

Die Verkaufsroutine wurde immer wieder gestört durch atemberaubende Skandale: Betrugsfälle mit astronomischen Schadenssummen, Fehlinvestments in abstrusen Schwindleranlagen und immer wieder Sexreisen von Verkäufertruppen, die zum Geschäft gehörten wie die Unterschrift unter die Police. Die Skandale erregten die Gemüter und gerieten bald wieder in Vergessenheit. Das Geschäft ging weiter, und auch die Geschichten über die Party-Praktiken besinnungslos enthemmter Versicherungsverkäufer verschwanden wieder in den Zeitungsarchiven.

Im Frühjahr 2011 platzte jedoch der Skandal der Skandale, der so schnell nicht mehr aus den Gedächtnissen zu tilgen war. Unter den Suchwörtern Ergo und Sex liefert die Google-Suchmaschine mehr als 5 Millionen Treffer. Diesmal ging es um die Lustreisen der Vertriebsleute des Ergo-Konzerns. Berichte über Abenteuerreisen der Herren mit steuerlich korrekt abgerechneten »Prostituierten-Dienstleistungen« zeichneten das Bild einer Verkäufertruppe, die alle Hemmungen verloren hatte und jenseits der minimalen Anstandsregeln operierte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Heute erzählen einstige Starverkäufer freimütig von ihren rauschhaften Gemeinschaftserlebnissen und wilden Partys, über platte Gehirnwäsche und geistlose Schulungen bis hin zum Burn-out.

Reflexartig versuchten Ergo-Manager zunächst die Berichterstattung mit Klagen gegen Zeitungsredaktionen und vertuschenden Erklärungen einzudämmen. Als dies nicht mehr gelang, reagierten sie mit einer sogenannten Transparenzoffensive: Es sollte nun so aussehen, als ob der Versicherungskonzern alles schonungslos aufklärte und offenlegte. Auch diese Operation endete in einem atemberaubenden Imagedesaster, dessen Ausmaß die Versicherungsindustrie noch nie erlebt hatte. Der Gipfel der Geschmacklosigkeiten schien erreicht. Doch als das Scheinwerferlicht der...

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