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E-Book

Wenn Sonne und Mond Zweifel hätten

Gestalttherapie als spirituelle Suche

AutorStephen Schoen
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl124 Seiten
ISBN9783741200229
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Dieses Buch handelt von der spirituellen Dimension des Kontaktes zwischen Therapeut*innen und Klient*innen, besonders aus der Perspektive der Gestalttherapie. »Und bitte, lasst es mich gleich am Anfang sagen, falls Euch diese religiöse Wortwahl überraschen sollte: Habt Geduld mit mir! Wie Monsieur Jourdain in Molières Theaterstück, der sehr verwundert war, festzustellen, dass er sein ganzes Leben lang ?Prosa geredet? hatte, könnte es für Euch Therapeut*innen und Klient*innen verblüffend sein, wenn Ihr erkennt, dass Ihr in Eurer Therapie ?immer etwas Spirituelles? tut.« Neben dem vorliegenden Buch sind von Stephen Schoen in der Edition GIK im Peter Hammer Verlag in deutscher Sprache erschienen: »Die Nähe zum Tod macht großzügig: Ein Therapeut als Helfer im Hospiz« (2006) sowie sein Therapie-Roman »Greenacres« (2002).

Stephen Schoen, Psychiater und Gestalttherapeut in freier Praxis in San Rafael/ Kalifornien. Zu seinen Lehrern gehörten Fritz Perls, Harry Stuck Sullivan, Milton Erickson und Gregory Bateson, mit dem ihn eine Freundschaft verband. Er lehrt seit vielen Jahren Gestalttherapie in den USA und in (Ost-) Europa. Zahlreiche Fachartikel zu Theorie und Praxis der Gestalttherapie. Buchveröffentlichungen u.a. »Die Nähe zum Tod macht großzügig: Ein Therapeut als Helfer im Hospiz« (2006) sowie sein Therapie-Roman »Greenacres« (2002).

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Leseprobe

Einleitung

Die sechs Aufsätze in diesem Buch sind Früchte der Erfahrungen meines bisherigen Lebens. Sie alle handeln von einem bestimmten Verständnis menschlicher Erfahrung. Vielleicht ist der Leser daher interessiert, mehr über mich und die Menschen zu erfahren, die mein eigenes Leben geprägt haben.

Meine Eltern waren Juden der gehobenen Mittelschicht. Sie lebten in der New Yorker Geschäftswelt und versorgten mich mit allen materiellen Annehmlichkeiten, taten sich jedoch schwer, was meine emotionale Entwicklung betraf. Mein Vater war seinem Wesen nach ein gutmütiger Junggeselle und der Rolle des Ehemanns oder Vaters nicht sonderlich verpflichtet. Meine Mutter hingegen verhielt sich mir gegenüber, als ihrem einzigen Sohn, um so besitzergreifender. Ich konnte meinen eigenen Interessen nachgehen und widmete mich der Musik und der Literatur, aber ich hatte kaum ein Gespür für guten Kontakt mit anderen und nur wenig Vertrauen zu meinem eigenen Gefühlsleben. Rückblickend fällt es mir leicht, zu sehen, wie damals, als ich in Harvard studierte, mein Interesse an William Blake (»Energie ist ewige Freude«) und wenig später an Krishnamurtis tiefgreifend ökologischer Botschaft (»Sein bedeutet: In-Beziehung-Sein«) mich erwachen ließ. Doch die tiefere Bedeutung dieser Männer, mit denen mich von Anfang an eine natürliche Verwandtschaft verband, lag in ihrer Lebensfreude, die nichts Besitzergreifendes hatte. Diese Lebensfreude bejahte das Selbst und transzendierte gleichzeitig ein fixiertes Ich. Mir wurde klar, was mir in meiner Entwicklung immer gefehlt hatte: ein nährender Kontakt mit meinen Eltern. Aber es ging mir nicht darum, nun das wiederherzurichten, was ich als Kind vermisst hatte. Statt dessen begann ich, nach einer inwendigen Fülle zu suchen, die sich unablässig erneuern würde.

Ich meine damit nicht, dass ich persönliche Beziehungen zu vermeiden suchte, indem ich mich in transzendente Erfahrungen flüchtete (obwohl so etwas tatsächlich vorkommt). Nein, gerade weil mein Zugang zu persönlichen Beziehungen so erschreckend eingeschränkt war, machte ich mich auf die Suche nach einem Psychotherapeuten. Ich war damals Anfang zwanzig und unterrichtete Englische Literatur an einer Universität in Washington, D. C. Zur selben Zeit hatte ich das Glück, in New York ein persönliches Gespräch mit Krishnamurti führen zu können (er war damals noch nicht so berühmt und empfing Einzelne auf Anfrage auch persönlich). In guter Blakescher Manier ermutigte Krishnamurti mich, meinen Impulsen zu trauen. »Wie aufregend! Sie haben noch alles mögliche zu entdecken.« Und warum – so meinte er – sollte ich mir nicht eine Freundin suchen und eine mögliche Ablehnung riskieren? »Wer weiß? Sie könnten eine Menge über Ihre eigene Stärke lernen.« Was mich an ihm am meisten beeindruckte, war seine feurige Intensität, die – durchdringend und doch nicht greifbar – ein Feuer in mir entfachte. Diese Intensität, das spürte ich, entsprang einem spirituellen oder mystischen Zentrum. (»Spirituell« ist ein grundlegender Begriff für den Bereich des Transzendenten; »mystisch« bedeutet Einheit mit dem Zustand der Transzendenz. Ich gebrauche beide Begriffe gleichwertig und beziehe mich hier nicht auf theologische Dogmen).

Während der folgenden Jahre eröffnete mir die Psychotherapie die Freiheit befriedigender Beziehungen und ich begann, mich für diesen Beruf zu interessieren.

Doch meine neue Freiheit bekräftigte in mir auch die Bedeutung einer zentralen, ungebundenen Realität »jenseits des Ich«, die in Krishnamurti selbst deutlich wurde und die der orientalische Mystizismus in besonderer Weise zu ergründen schien. Insofern war ich auf einer in unserer Zeit ganz üblichen Pilgerschaft. Wenige Generationen zuvor hatten in Deutschland Karlfried Graf von Dürckheim und Eugen Herrigel das Japanische Zen entdeckt, und Hermann Hesse hatte seine »Reise in den Osten« unternommen. Kurz darauf schrieben in den Vereinigten Staaten Alan Watts und Huston Smith brillante Beiträge über buddhistisches Denken. Und heute kommen viele Schüler der Lehren Buddhas und Lao Tses aus Europa oder Amerika (und unter den Amerikanern häufig aus einer jüdischen Tradition). Es ist, als ob die buddhistische Meditation und das Gewahrsein des Tao vielen westlichen Menschen heute die Erkenntnis der alten jüdisch-christlichen Botschaft erleichtert: »Das Reich Gottes ist inwendig in Euch.«

Mein eigener Eintritt in die Welt der Psychiatrie jedoch ließ für den transzendenten Bereich nur wenig Raum. Ich begann meine Ausbildung bei Harry Stack Sullivan in Washington; seine Schule betonte die strukturierende Kraft interpersoneller Beziehungen in unserem Leben. Natürlich stimmte ich mit seinem Fokus überein, ebenso wie mit seiner Sichtweise der unendlichen Vielseitigkeit der Persönlichkeit, die in jedem neuen zwischenmenschlichen Feld neue Qualitäten annimmt. Doch Sullivans eher trockene und schwierige Analyse der »Felder« zielte auf die unpersönliche Präzision der Physik ab. Was ich bei ihm vermisste, war die lyrische Freiheit Blakes und die Mischung aus psychologischer und spiritueller Feinsinnigkeit etwa der Literatur Rilkes und Kafkas. Meine berufliche Situation spitzte sich zu, als ich fünf Jahre später nach San Franzisko ging, um meine Ausbildung am Langley Porter Neuropsychiatric Institute fortzusetzen. Meine Lehrer dort waren traditionelle Psychoanalytiker, die das Individuum als einen komplexen Mechanismus libidinöser Energie betrachteten. Was war aus dem Kontakt geworden, wie ich ihn von Krishnamurti her kannte? Was war aus der reichen und uneingeschränkten Erfahrung geworden?

Und dann, während der sechziger Jahre machte ich zwei Entdeckungen, Zwillingsentdeckungen. Ich las Martin Buber. In seinem Buch »Ich und Du«1 ging es um das Zwischenmenschliche, genau wie bei Sullivan. Aber im Unterschied zu Sullivan zielte Buber auf spirituelle und poetische Präzision ab. Sein Verständnis des »Zwischenmenschlichen« machte etwas sehr deutlich: Die unendliche innere Freiheit des Buddhismus und des Tao beginnt mit jener Freiheit in der Beziehung, die alle Kategorien transzendiert; und gerade so, wie unbegrenzte innere Freiheit traditionell als mystisch bezeichnet wird, beschreibt Bubers Ich-Du einen interpersonellen Mystizismus. Es ist transzendent, aber auch diesseitig und konkret. Es erscheint in tiefgründig offenen persönlichen Beziehungen; und es bildet untrüglich den geheiligten Grund, in dem Psychotherapie wurzelt.

Zur selben Zeit entdeckte ich wie schon gesagt – eine psychotherapeutische Schule, die von eben dieser Lebensqualität sprach, die Gestalttherapie. Diese Schule berücksichtigte auch die »kreative Leere« (Fritz Perls) im Klienten, die der »erfüllten Leere« des Buddha vergleichbar ist. Gestalttherapie betrachtete Erfahrung als etwas, das größer ist als die Summe ihrer analysierbaren Teile, sei es hinsichtlich ihres Ursprungs oder ihres Fortgangs. Erfahrung ist einmalig, jedes Mal und immer wieder. »Erfahrung« und »Erfahrender« sind identisch, deshalb gibt es kein davon trennbares, beständiges »Ich«. Die Gestalttechniken versuchen darüber hinaus, eine Art der Verbindung zum anderen zu stärken, die im mystischen Sinne unbeschreiblich ist.

Natürlich kann man mich fragen: »Wenn du all diese Weisheit in der Gestalttherapie gefunden hast, also innerhalb des psychiatrischen Bereichs, warum willst du sie dann noch mit alten spirituellen Traditionen vergleichen? Und warum überhaupt den Begriff ›spirituell‹ dafür verwenden«?

Meine Betonung dieses Vergleichs bringt in der Tat eine persönliche Neigung zum Ausdruck. Mit glücklichem Schrecken habe ich erkannt, dass die Einsichten der jüdischen, der christlichen und der orientalischen Mystiker (Buber, Meister Eckhart, Lao Tse) auf dieselbe, nicht kategorisierbare Wahrheit hinweisen. Was mich zu diesem weitläufigen Vergleich führte, war eine spezielle Ironie meiner eigenen Erfahrung. Die hervorragendsten Gestalt-Lehrer, die ich in der modernen Psychiatrie kennen gelernt habe, waren überhaupt keine so genannten Gestalt-Lehrer. Einer von ihnen war der Psychologieforscher Gregory Bateson, dessen systemische Sicht der Interaktion den Begriff des Gestaltgewahrseins präzisierte und der erkannte, dass »das Muster, das [alles Lebende] verbindet«, gleichzeitig mysteriös und gesetzmäßig ist. Seine Aussage: »Nichts geschieht niemals« war sein Beitrag zum Gestaltbegriff der »kreativen Leere«. Bateson stellte mich einem anderen ausgezeichneten Lehrer vor, dem Hypnotherapeuten Milton Erickson, der seine enormen intuitiven Fähigkeiten nutzte, um die unbewusste Intelligenz seiner Patienten zu erreichen – mit dem selben Ziel, das Gestalttherapeuten veranlasst, sich dem auftauchenden Gewahrsein ihrer Klienten zuzuwenden, nämlich einen größeren Reichtum der Erfahrung zu ermöglichen. Sowohl Bateson als auch Erickson hatten einen Sinn für die Unbegrenztheit unserer Tiefe, der ihnen den Horizont spiritueller Weisheit eröffnete.

Vielleicht aber sind diese »nicht gestaltischen Gestalt-Lehrer« gar keine solche Ironie. Es liegt in der Natur tiefgreifender Einsichten,...

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