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Wie Kleeblätter im Wind

Eine Familienerzählung

AutorLüchinger-Frey Marie-Helen
VerlagEdition 381
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl420 Seiten
ISBN9783952476666
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie drei Familien aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen über Jahrzehnte hinweg ihr Schicksal meistern und auf Umwegen über Italien und Frankreich schließlich in Zürich aufeinandertreffen, davon erzählt diese historische Novelle. Die Erzählung basiert vorwiegend auf Familienberichten, alten Zeitungsartikeln, Nachforschungen in Archiven und Erinnerungen. Das aufregende Zeitgeschehen im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bildet die Kulisse für die Schilderung spannender Lebenswege in atmosphärisch dichter Umgebung. Diese anregende Familienerzählung wird jene Leser begeistern, die sich für außergewöhnliche Lebensentwürfe mit einer Spur Romantik interessieren. Der Autorin gelingt es, ein bildreiches Potpourri jener Zeit zu zeichnen, das fesselt bis zur letzten Seite.

Marie-Helen Lüchinger-Frey wuchs in Küsnacht bei Zürich im Kreise einer großen Familie auf. An der Universität Zürich schloss sie ihr Studium in Psychologie und Pädagogik mit dem Lizenziat ab und spezialisierte sich später auf die Themen Hirntraining und Neurofeedback-Therapie. Sie ist verheiratet und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Seit ihrer Kindheit ist das Erzählen ihre große Passion. Dabei legt sie besonderen Wert auf die sorgfältige Beschreibung der Menschen und deren Geschichten.

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Leseprobe

FAMILIE SAGELSDORFF


Von den beiden Küsnachter Kirchtürmen läutete es elf Uhr. Hin und wieder glitt ein Auto die weiss verschneite Seestrasse entlang. Immer noch schneite es sanft. In der gemütlichen Dreizimmerwohnung, die zwischen der Seestrasse und dem Seepark am Horn lag, duftete es zart nach Zimtplätzchen.

»Henning! Komm doch bitte mal!« Marias energische Stimme weckte ihn aus seinen Träumereien. Er blies den feinen, leicht nach Karamell duftenden Tabak in die Luft. Sorgfältig legte er die Pfeife mit dem bemalten Porzellankopf auf das Salontischchen, auf dem der winzige Christbaum stand. Diese Pfeife stammte noch von seinem Grossvater, den er leider kaum gekannt hatte. Ein Geniesser musste er gewesen sein, die Pfeife mit dem langen abgegriffenen Holzstiel zeugte davon. Die Inschrift darauf konnte man jedoch immer noch gut lesen: »Nur einmal im Jahr blüht der Mai, nur einmal im Leben die Liebe.«

Maria stand am Küchentisch und war mit der Weinflasche beschäftigt. Einige Strähnen des grauen, licht gewordenen Haars hatten sich aus der mit einem zarten Netz am Hinterkopf zusammengehaltenen Frisur gelöst. Wieder einmal war der Korken, wie leider so oft, in die kostbare Flüssigkeit geraten.

»Aber Maria, weshalb hast du mich nicht eher gerufen?«, tadelte Henning leise und machte sich an der Schublade der gelb gestrichenen Küchenkombination zu schaffen.

»Immer willst du alles selber machen«, brummte er und klaubte seine speziell für solche Situationen hergestellte Erfindung hervor.

Er setzte sich an den schmalen Küchentisch, der neben dem Kochherd stand. Die Weinflasche nahm er zwischen die Beine und führte geschickt die feinen Drahtgriffe in den Flaschenhals. Am oberen Griff des Drahtgestells öffnete er die drei Drahtzangen und packte den Korken fest. Nun kam der schwierige Teil der Prozedur. Der Korken musste mit Kraft aus dem Hals herausgezogen werden. Das konnte nur gut gehen, wenn er sorgfältig handelte. Maria, die bereits ihren guten blauen Rock und den feinen weissen Pullover trug, war beunruhigt, denn auch Henning war schon bereit für die Gäste. Er trug ein weisses Hemd, darüber einen ärmellosen Pullover in Grau, dazu die gute Hose, ebenfalls in Grau, und den blauen Siegelring am Finger. So sah er immer noch gut aus mit seinem vollen grauen, nach hinten gekämmten Haar, auch mit 77 Jahren, dachte Maria und schaute zufrieden auf ihren Mann. Wenn er sass, konnte sie ihm besser über die Schultern schauen. Maria war deutlich kleiner als Henning, der eher gross gewachsen war und breite Schultern hatte. Ihr Gesicht war fein geschnitten, und ihre Figur immer noch schlank und beweglich. Schnell packte sie ein Küchentuch und legte es Henning auf den Schoss, zur Sicherheit, man konnte ja nie wissen. Maria war von klein auf aufmerksam und weitsichtig gewesen. Sie hatte eine praktische Wachsamkeit und eine kluge, manchmal geradezu schlaue Lebenshaltung entwickelt, die ihr schon oft in brenzligen Situationen geholfen hatte. Henning war gelassen, ein nachdenklicher Mensch. Seine grossen, breiten Hände arbeiteten geschickt. Es würde auch diesmal gut gehen, das spürte sie. Und da! Der Korken war glücklich gezogen – so wie er eben auch Zähne ziehen konnte, denn Henning war Zahnarzt.

Alljährlich am Stephanstag luden Maria und Henning ihre Familie zum Mittagessen ein. Das Blümchenservice mit dem Goldrand machte sich gut auf der weissen Tischdecke, und die sorgfältig gerichteten Salatteller waren auch schon bereit. Auf den Vorspeisetellern fanden sich Karottensalat, Rote Beete, wie Maria den Randensalat nannte, und grüner Salat sorgfältig platziert. Obenauf hatte sie geschälte Tomatenschnitze gelegt. Wie eine dekorative Spitzendecke hatte sie rohes Sauerkraut über die farbige Rohkost verteilt. Einige Tropfen ihrer selbst entwickelten, heiss begehrten Salatsauce wurden darübergeträufelt. Sie bestand aus Zitronensaft, etwas Salz, wenig Senf, einer halben Knoblauchzehe, etwas Milch oder Milchwasser und feinem Öl. Der »Zwölferlei-Salat«, ein ganz spezieller Kartoffelsalat, den sie jedes Jahr in den »zwölf heiligen Nächten« nach alter Familientradition servieren wollte, war ebenfalls bereit. Wurde er zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar gegessen, würde er Glück für das neue Jahr bringen. Ihre Kinder liebten nicht nur dieses Gericht, sondern auch den Gedanken dahinter. Zwölf Zutaten, für jeden Monat eine, gehörten dazu: Kartoffeln in mundgerechte Stücke geschnitten, Salz, Öl, Zitronensaft, kleine frische Apfelstücke und Essiggurkenrädchen, entweder Karotten oder geriebener frischer Sellerie, Petersilie, wenn sie hatte, und wenn sie keine mehr hatte, musste sie ein anderes Gewürz verwenden, dann natürlich Zwiebeln, kleine Stücke eines hart gekochten Eis und Knoblauch. Zum Schluss, als zwölfter und wichtigster Bestandteil: Mohn. Die kleinen schwarzen Mohnsamen waren wichtig für jene Kleinigkeit, die das Leben versüsst: Kleingeld. Maria lächelte, als sie ihren Zwölferlei-Salat kurz prüfte. Sie hatte ihn in das grosse Schlafzimmer hinter den Fensterladen in die Kühle gestellt. Er roch unglaublich gut!

Schon klingelte es an der Tür. Henning kam aus dem Bad, wo er noch schnell einen Blick in den Spiegel geworfen hatte. Die Rasur war perfekt, und die blaue Fliege, die das Leuchten seiner blauen Augen verstärkte, sass richtig. Zufrieden mit seinem Äusseren, öffnete er die Tür. Das Fest konnte für ihn beginnen.

Helen und Ralph mit ihren Familien begrüssten die Eltern herzlich. Die Enkelkinder stürmten fröhlich ins Wohnzimmer, um den kleinen Christbaum zu bewundern, der so ganz anders geschmückt war als der eigene. Die winzigen Männlein aus Glasperlen und die kleinen Kugeln in allen Farben waren zauberhaft.

»Ich habe ein winziges Engelein entdeckt«, rief eines und ein anderes betastete sorgfältig die Silberfäden, die von den grünen Ästchen hingen. Die kleine Wohnung war voller Leben und Plaudern. Der Zwölferlei-Salat wurde aufgetragen, und der kalte Truthahn dazu gereicht. Helen hatte sich neben ihre Mutter gesetzt und genoss den Salat. Bei ihren Eltern zu essen und verwöhnt zu werden war für sie immer ein wunderbarer Anlass.

»Mama, hast du noch etwas Salat übrig?«, fragte sie nun leise.

Maria lächelte zufrieden: »Ja, freilich. Ich habe noch auf die Seite gelegt!« Sie verschwand im Schlafzimmer und kam mit ihrem Vorrat zurück. Helen genoss diese Extrazuwendung und betrachtete glücklich die ganze Gesellschaft. Ein Lächeln spielte um ihre vollen Lippen. Ihr Blick wanderte zu den Eltern, die alles so schön gerichtet hatten.

Sie werden langsam weiss, dachte sie und wurde etwas wehmütig.

Es wurde schweizerdeutsch, oft aber hochdeutsch gesprochen, denn Henning und Maria sprachen Deutsch, auch wenn sie schon seit mehreren Jahrzehnten in der Schweiz lebten und längst Schweizer geworden waren.

Am Abend nach dem fröhlichen Fest sassen Maria und Henning noch eine Weile in der Stube. Maria hatte die roten Kerzen am Christbaum angezündet. Sie freuten sich gemeinsam, dass alles gut gegangen war. Es war kein Brotkrümelchen übrig geblieben, und es wurde erzählt und diskutiert. Die Kinder waren angenehm gewesen.

Zum Glück, dachte Henning. Manchmal wurde es ihm nämlich zu viel. Für ihn hätte man sich die Mühe für diese Einladung nicht machen müssen. Aber er wusste, dass seine Maria eine ausgesprochen gesellige Frau war und an Traditionen festhielt. Und – wenn er es sich genau überlegte – er war stolz darauf, seine Familie festlich einladen zu können.

Vom nahen Kirchturm her hörte er die Glocken zehn Uhr schlagen. Maria war bereits ins Bad gegangen und kam nun, um ihm den Gutenachtkuss zu geben. Seit sie hier in Küsnacht in der Dreizimmerwohnung wohnten, schliefen sie nicht mehr im selben Zimmer. Unruhiges Schlafen hatte sie zu oft gestört. So hatten sie entschieden, dass Maria im geräumigen Ehezimmer mit dem alten Ehebett blieb. Da fühlte sie sich wohl und da war auch genügend Platz für ihre Nähmaschine. Sie war noch nicht elektrisch betrieben und wurde mit einem Pedal bedient. Maria nähte gerne und geschickt. Sie fertigte zu Weihnachten immer Puppenkleider für ihre Enkelinnen an. In den Schubladen des Frisiertisches mit der Marmorplatte und den drei Spiegeln bewahrte sie ihre Stoffe auf, aber auch Pullover und Blusen und in dem Kästchen, das vor dem Spiegel stand, ihren Schmuck. Es war nur wenig, aber sie war zufrieden. Hier durften die Enkelinnen die Ketten betrachten und sich umlegen. Das hellblaue Frisiermäntelchen hing über der Stuhllehne vor der Frisierkommode. Im herrlich geräumigen Schrank neben dem Ehebett, der ebenfalls aus heller Eiche war, hatte sie ihre Kleider und Kostüme, wie man die Jupes mit passender Jacke nannte, aufgehängt. Auch Hennings gute Kleider hingen hier. Im Holz der Möbel waren geometrische Intarsien aus dunklerem Holz eingelegt. An der mittleren Schranktüre befand sich der Kristallspiegel. Da konnte sie sich von Kopf bis Fuss betrachten, wenn sie ihr Hütchen aufsetzte. Dieses Zimmer war zu ihrem kleinen Reich geworden. Henning hatte das Studio bezogen und es sich auf seine Weise gemütlich gemacht. Sein...

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