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E-Book

Wie Schule funktioniert

Schüler, Lehrer, Eltern im Lernprozess

AutorPeter J. Brenner
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl268 Seiten
ISBN9783170228580
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Ohne Unterlass werden in der deutschen Bildungsdiskussion die Pisa-Ergebnisse und mit ihnen die Frage der Bildungsgerechtigkeit hin und her gewendet. Dabei gerät aus dem Blick, dass die Schule mit lebendigen Menschen zu tun hat: mit Schülern, Lehrern und auch mit den Eltern der 'bildungsfernen' und 'bildungsnahen' Schichten. Sie alle, Schüler, Lehrer, Eltern sind maßgeblich daran beteiligt, ob Schule funktioniert oder nicht. Denn zur Schule gehören nicht nur die spektakulären Tests mit den großen Schlagzeilen. Zur Schule gehört ebenso der Alltag im Klassenzimmer, im Lehrerzimmer und auf dem Pausenhof; zur Schule gehören die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen in der Überflussgesellschaft, die Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung, die Lehrer- und die Elternverbände mit ihren politischen Einflussmöglichkeiten. Das Buch handelt von dem unentwirrbaren Beziehungsgeflecht von großer Politik und Schulalltag, von statistischen Zahlen und alltäglicher Wirklichkeit, von großen Ansprüchen und kleinen Erfolgen, von eingängigen Slogans und widerstreitenden Interessen. Es beschreibt die Wege und Irrwege der jüngsten Entwicklungen im deutschen Schulwesen und es will zeigen, wie trotz allem Schule für alle Beteiligten zum Lernprozess werden kann.

Prof. Dr. Peter Brenner lehrt an der Carl von Linde-Akademie der TU München.

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Leseprobe

Veränderte Kindheit

Kindheit sieht aber heute auch anders aus als noch vor dreißig Jahren. Eine der wichtigsten Veränderungen ist wohl die, dass die Grenze zwischen der Welt der Kinder und Jugendlichen einerseits und der Erwachsenenwelt andererseits wieder fließend werden. Wahrscheinlich ist die Beobachtung richtig, dass in der modernen Gesellschaft die Kluft zwischen den Generationen geringer geworden ist. Der Vorsprung der älteren vor der jüngeren Generation ist geschrumpft; Alte und Junge sehen sich gleichermaßen ratlos vor den gleichen Problemen einer Gesellschaft, die weder die einen noch die anderen durchschauen oder gar beherrschen. (Giesecke, Freizeiterziehung, 237)

Seit den späten achtziger Jahren hat die deutsche Pädagogik diese Beobachtungen in ein Konzept der „Veränderten Kindheit“ gefasst und daraus weitreichende theoretische wie praktische Folgerungen gezogen. Die neuere Pädagogik hat den Merkmalen dieser Entwicklung einige Aufmerksamkeit geschenkt und damit soziale Prozesse theoretisch zu beschreiben versucht, deren Auswirkungen jedem Lehrer aus dem Klassenzimmer täglich gegenwärtig sind. Die Kindheit habe sich, so sagt man, verändert, weil sich die umgebenden Lebensverhältnisse verändert hätten: Die Familienverhältnisse seien anders geworden; das Freizeit- und besonders das Medienangebot für Kinder habe sich radikal verändert, die Erziehungsnormen seien im Wandel begriffen und schließlich sei die Gesellschaft multikulturell geprägt.

In der Summe könne man davon ausgehen, dass „ein Prozeß zunehmender Diversifikation von Kindheitsmustern ein herausragendes Merkmal der heutigen Kindheit zu sein scheint“. (Fölling-Albers, Kindheit, 57) Das alles wird richtig sein und heute noch mehr zutreffen als seinerzeit; es klingt dramatisch und ist es vielleicht auch. Aber diese sozialen und familiären Verhältnisse sind durchaus nicht so neu, wie es den Propagandisten der „veränderten Kindheit“ erscheinen mag. Bei nüchterner Betrachtung ist es eigentlich nichts Neues, dass sich „Kindheit“ verändert: die Kindheit in der Wilhelminischen Zeit war eine andere als die der Weimarer Republik, und die unterschied sich von der des Dritten Reichs. Und die defizitären Kindheitsmuster, die man heute glaubt feststellen zu können, finden in manchem Detail eine erstaunliche, längst vergessene Parallele in den Lebensbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Möglicherweise haben die Veränderungen gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Qualität; das liegt nahe. Die Veränderungsprozesse beschleunigen sich und sie haben die Gestalt eines „Modernisierungsschubs“, und man wird damit rechnen müssen, dass dieser dramatischere Auswirkungen auf die Schule hat als die gesellschaftlichen Problemlagen vergangener Jahrzehnte. (Fölling-Albers, Bedingungen, 127)

Aber „veränderte Kindheit“ hat es immer gegeben; diese Einsicht ist trivial. Bei näherer Betrachtung wird man vielleicht zu dem Schluss kommen müssen, dass sich weniger die Kindheit als vielmehr die Auffassung von Schule geändert hat. Die Vorstellung, dass sich aus der „veränderten Kindheit“ „neue Aufgaben für die Grundschule“ ergäben, ist vielleicht die entscheidende Neuerung: Nicht nur, so lautete der einhellige Tenor, muss die Grundschule auf diese Veränderungen pädagogisch-didaktisch reagieren, um ihrem Unterrichtszweck entsprechen zu können; es seien ihr auch „neue, erweiterte Aufgaben zugewachsen“. (Fölling-Albers, Kindheit, 59)

Mit der Einigung darüber, dass es so ist, ist freilich noch längst nicht gesagt, dass die Schule diesen neuen Aufgaben auch gerecht werden könne. Die entsprechenden Warnungen werden gerne überhört. Die Schulpädagogik und ihr folgend die Bildungspolitik neigen dazu, aus meist ungesicherten und oft veralteten empirischen Befunden Aufgabenzuweisungen an die Schule abzuleiten; und sie neigen auch zu einer einseitigen Wahrnehmung der Veränderungen nach dem Muster der „Verlustkindheit“. (Schorch, Grundschulpädagogik, 55–59) Daraus haben sich mannigfache Fehlentwicklungen in der jüngeren Schulpraxis ergeben – sie haben ihre Wurzel in der Vorstellung, die Schule könne kompensatorisch Modernisierungsverluste bei Kindern auffangen, indem sie ihnen „kindgerechte“ Angebote mache.

In Hinsicht auf Medien- und Konsummöglichkeiten hat sich die Kindheit sicher radikal verändert. In anderer Hinsicht aber hat sich eher die Auffassung von Kindheit und Schule geändert als die soziale Wirklichkeit der Kinder. Die neue Pädagogik beschreibt die „veränderte Kindheit“ am liebsten unter Aspekten des Verfalls, der Bedrohung und der Verwahrlosung. Kinder erscheinen in dieser Sicht als potenzielle Opfer einer neuen Gefährdungslage, die im besonderen Maße definiert ist durch ökonomische Verarmung und den Verfall der Kleinfamilie. Selbstverständlich prägen die veränderten soziokulturellen Bedingungen die Verhaltens- und Persönlichkeitsmuster der Kinder und Jugendlichen in einem erheblichen Maße. Die veränderte Kindheit ist zunächst als ein verändertes Verhalten der Kinder, zumal in der Schule, wahrzunehmen. Das muss sich nicht immer nur als Devianz oder auffälliges Verhalten im Klassenzimmer bemerkbar machen.

Veränderte Kindheit besteht möglicherweise vor allem darin, dass die Erwachsenen- und Pädagogenwelt toleranter oder nachlässiger geworden ist. In Deutschland heißt das, dass Kindern und Jugendlichen größere ökonomische und soziale Freiheiten zugestanden werden. Kinder können in dieser Gesellschaft als selbständige Konsumenten auftreten, und sie spielen als solche in den Kalkulationen der Wirtschaftsunternehmen eine erhebliche Rolle; sie können als Träger politischer Rechte agieren ebenso wie sie als Propagandisten für parteipolitische Vorstellungen eingesetzt werden.

Zunächst muss über die Rollen von Kindern und Erwachsenen neu nachgedacht werden. Das Konzept „Kindheit“ und das Konzept „Erwachsenheit“ haben ihre Trennschärfe verloren. (Fölling-Albers, Bedingungen, 130) Wenn tatsächlich die Grenzen zwischen den Lebensaltern verschwinden, dann wäre die „Kindheit“ nur eine kurze Phase in der Geschichte Westeuropas gewesen: jene Zeitspanne seit dem Zeitalter Rousseaus, der Mitte des 18. Jahrhunderts, in der die Kindheit als eigenwertige Lebensphase entdeckt wird, bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert. Neil Postman hat jedenfalls die amerikanische Entwicklung der Kindheit in diesem Sinne gedeutet: als „Verschwinden der Kindheit“; und er hat mit dieser These große Aufmerksamkeit gefunden. Der Trend scheint eindeutig zu sein: Kinder nehmen immer stärker an der Lebensform der Erwachsenen teil, allerdings ist auch der umgekehrte Effekt zu beobachten: Erwachsene infantilisieren sich selbst zusehends. (Postman, Kindheit, 115–136) Das lässt sich bei jeder Fahrt mit dem Intercity-Express beobachten: Schul- und Vorschulkinder sind technisch ausgerüstet auf einem Niveau, das vor einer Generation schon aus Kostengründen nur den Erwachsenen, auch ihnen nicht allen, vorbehalten blieb; und umgekehrt machen die Erwachsenen mit den gleichen Geräten das Gleiche, was auch die Kinder machen: sie spielen.

So eindeutig freilich ist die Entwicklung nicht, wie sie gelegentlich gedeutet wird. Ein Blick auf die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik zeigte vielmehr eine merkwürdige Zweideutigkeit in der Auffassung dieser Lebenskonzeption. Die Verlängerung der Jugendzeit in beide Richtungen wurde schon in den sechziger Jahren festgestellt: Die früher einsetzende Pubertät verkürzt die Kindheit, gleichzeitig wird der Erwachsenenstatus mit der abgeschlossenen Ausbildung und der Unabhängigkeit vom Elternhaus immer später erreicht. (Schulz, Freizeitverhalten, 202) Hellmut Becker hatte schon vor einem halben Jahrhundert das Problem der Jugendlichen prägnant formuliert, dass sie „auf Grund der Vorverlegung der physischen und der Rückverlegung der geistigen Reife nicht in der Lage sind, ihre physische Reife geistig und sittlich zu bewältigen“. (Becker, Erwachsenenbildung, 30) Auf der einen Seite stehen die faktischen, meist ökonomischen Konzessionen gegenüber den neuen, nur in einer Überflussgesellschaft formulierbaren Ansprüchen; auf der anderen die Reifeverzögerungen durch eine Pädagogik der Betreuung und Fürsorge, welche die Kinder und Jugendlichen vorsätzlich am Mündigwerden hindert.

Dramatisch verändert haben sich die Schulkindheit und sicher auch die Herausforderungen an die Schule durch die Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte. Historisch gesehen ist auch das nicht neu. Deutschland hat schon in der Zeit um 1900 eine massive Arbeitsimmigration – vor allem ins Ruhrgebiet – erfahren, die in keiner erkennbaren Weise zu sozialen Verwerfungen geführt und die in der Schulgeschichte keine Spuren hinterlassen hat. Und auch die Integration von zehn Millionen Vertriebenen in die bundesrepublikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit ist weitgehend reibungslos und ohne schulpolitische Friktionen verlaufen.

In der aktuellen Situation wird man hingegen die Migration als eines der wichtigsten Problemfelder des deutschen Schulwesens betrachten müssen. Die erste Pisa-Studie hat ins öffentliche Bewusstsein gerückt, dass die Integration von Kindern mit „Migrationshintergrund“ in der deutschen Schule gescheitert und dass damit ihre Integration in die Gesellschaft vom Scheitern bedroht ist. Diese Befunde wurden zunächst nur sehr zögernd und abwehrend wahrgenommen, dann aber mit einem politischen Übereifer zum Anlass von allerlei Maßnahmen und Reformforderungen genommen. Effektiv waren die Maßnahmen der „Ausländerpädagogik“ offensichtlich nicht, und es besteht Anlass zu der Vermutung, dass sie in vielen...

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