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Wie wichtig ist Achtsamkeit in der familiären Kindererziehung? Eine Untersuchung zur subjektiven Sicht der Eltern

AutorSonja Gross
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783668279896
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Achtsamkeit ist die Haltung der eigenen Person, aber auch anderen gegenüber. Das Konzept der Achtsamkeit hat eine lange Geschichte: Es stammt aus der buddhistischen Philosophie, wird inzwischen aber auch in der Psychologie breit rezipiert und gewinnt in der Erziehungswissenschaft zunehmend an Beachtung. In diesem Buch untersucht die Autorin, welche Bedeutung Eltern der Achtsamkeit im Kontext der familiären Kindererziehung beimessen und lenkt damit den Fokus auf die Perspektive der Eltern. Die Analyse basiert auf einer empirischen Untersuchung der Autorin, deren Ergebnisse sie vor dem Hintergrund vorliegender Erkenntnisse skizziert und einordnet. Aus dem Inhalt: - Geschichte der Achtsamkeit; - Achtsamkeit in der Erziehung; - Familie und Erziehung; - Einflussfaktoren erfolgreicher familiärer Erziehung; - Subjektive Bedeutung von Achtsamkeit

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Leseprobe

2. Achtsamkeit


 

2.1 Geschichte der Achtsamkeit


 

2.1.1 Achtsamkeit oder Sati


 

Wer kennt das nicht: Ständig wiederkehrende Gedanken, Vorstellungen, Ängste, Erinnerungen oder Sorgen? Das in der Einleitung beschriebene Gefühl, noch 148713 Mails abrufen und die Welt retten zu müssen, gepaart mit dem Verlangen, im Moment bei sich zu sein. „Unser Geist wird häufig von allen möglichen Gedanken und Vorstellungen fortgetragen. Manchmal verweilen wir in der Vergangenheit, dann planen wir die Zukunft, alles läuft durcheinander. Abgelenkt, zerstreut und verwirrt entfernen wir uns von der unmittelbaren Wirklichkeit vor uns“ (Ricard 2013, S. 49). Achtsamkeit ist das genaue Gegenteil davon. Achtsamkeit bedeutet vollkommen gegenwärtig zu sein und wird auch definiert als „absichtsvolle Aufmerksamkeit auf das bewusste Erleben im gegenwärtigen Moment“ (vgl. Kabat-Zinn 2013, S. 5). Es handelt sich dabei um die „Fähigkeit sich des gegenwärtigen Geisteszustandes bewusst zu sein“. Deshalb wird Achtsamkeit auch als „Zustand vollkommener Einfachheit“ beschrieben, wobei das Ziel darin besteht, seine Gedankenwelt und mit ihr schliesslich die Gefühlswelt und Emotionen unter Kontrolle zu behalten (vgl. Richard 2013, S. 50-53).

 

Mit dem Wort „Achtsamkeit“ oder im Englischen „Mindfulness“ wird das Wort „sati“ aus der Sprache Pali bzw. „smriti“ das Synonym in Sanskrit, in dem die älteste vollständige Sammlung buddhistischer Texte geschrieben ist, übersetzt (vgl. Wallace 2013, S. 21/Bodhi 2013, S. 43). Der Oxford English Dictionary (2014) definiert Achtsamkeit „mit Verweis auf Yoga-Philosophie und Buddhismus“ als „im Moment vollständig gegenwärtig sein, während man sich dieser Gegenwärtigkeit bewusst ist und die volle Aufmerksamkeit darauf richtet“ (online). Sucht man nach der deutschen Übersetzung von „Mindfulness“ im online Wörterbuch LEO (vgl. online), so schlägt es „Achtsamkeit“ oder „Aufmerksamkeit“ vor. Umgekehrt, bei der Übersetzung von „Achtsamkeit“ in die englische Sprache, werden folgende Substantive zur Übersetzung angeboten: Attentiveness, care, mindfulness und regardfulness (ebd.). Dies kann als erster Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Begriff keineswegs eindeutig zu bestimmen ist.

 

Das Pali-Wort „sati“ hatte ursprünglich die Bedeutung „Gedächtnis“ (vgl. Bodhi 2013, S. 37). Das als Synonym geltende Wort in Sanskrit, „Smriti“, wird im Sanskrit-Wörterbuch in entsprechender Übereinstimmung übersetzt als „Erinnerung, Rückbesinnung, Gedenken, in Erinnerung rufen…Gedächtnis“ (vgl. Monier 2005, S. 140). Nach Wallace (2013) beinhaltet Achtsamkeit nach dem buddhistischen Verständnis daher „die Fähigkeit zur Erinnerung, etwas im Gedächtnis zu behalten und nicht zu vergessen“ (vgl. S. 21). Jedoch gibt es auch kritische Stimmen, die zu bedenken geben, dass bereits Buddha diesem alten Begriff in seinen Lehren eine neue Bedeutung gegeben hätte (vgl. Bodhi 2013, S. 37). Der Gründer der Pali Text Society Rhys David (1910) war der Erste, der sati mit „Achtsamkeit“ übersetzt hat. Er sah von Anfang an die neue Konnotation, die das Wort über die Zeit bekommen hatte und sah die Bedeutung mehr in „sich ins Bewusstsein rufen“ und „Gewahrsein“ (nach Bodhi 2013, S. 44).

 

Wallace (2013) betont die Notwendigkeit der Berücksichtigung, dass es nicht die „eine“ richtige Definition gibt. Es gibt keine Sprache, in der sich ein Wort aus sich selbst heraus definiert – erst durch gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse und vor einem Kontext wird die Bedeutung vergeben (vgl. S. 21). So überrascht es nicht, dass eine ganze Reihe weiterer Definitionen und Auslegungen der buddhistischen Lehren koexistieren. Im Deutschen kann „achtsam“ umgangssprachlich auch „schonend, vorsichtig, behutsam, sorgsam, rücksichtsvoll oder fürsorglich“ bedeuten (vgl. Bodhi 2013, S. 57).

 

Die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Achtsamkeit vermitteln leicht den Eindruck widerspruchsfreier Definitionen. Vor allem in der im Westen entstandenen und verbreiteten Literatur zu Achtsamkeit werden in den Definitionen immer dieselben Eckpunkte, auf die in Kapitel 2.1.3. näher eingegangen wird, genannt. Je weiter die Forscherin mit ihren Recherchen vorankam und je mehr sie sich mit den Texten der buddhistischen Gelehrten befasste, desto mehr Kontroversen um den Begriff bzw. die Lehre „sati“, übersetzt als „Achtsamkeit“, tauchten dabei auf. In der medizinischen und psychologischen Gesundheitsforschung scheint es eine stille Übereinkunft darüber zu geben, wie Achtsamkeit aufzufassen ist. Obwohl in allen wissenschaftlichen und therapeutischen Publikationen immer wieder auf die buddhistischen Wurzeln verwiesen wird, scheinen sie sich nicht ohne weiteres mit der ursprünglichen buddhistischen Auslegung von Achtsamkeit zu decken, wobei anzumerken ist, dass es „die“ buddhistische Auslegung auch gar nicht gibt, da sich über viele Jahrhunderte verschiedene Strömungen herausgebildet haben (vgl. Fisher 1997, S. 126). Der Verweis bzw. die Ableitung der Definition aus dem Buddhismus ist insofern wichtig, als in den Trainings- und Interventionsprogrammen die entsprechenden Übungen und Techniken Verwendung finden bzw. Verwendung finden sollten.

 

Um ein Verständnis für die verschiedenen Definitionen von Achtsamkeit zu entwickeln und daraus eine eigene, dem Gegenstand angemessene Definition zu formulieren, werden im ersten Teil dieses Kapitels die verschiedenen Perspektiven auf das Thema erläutert. Dazu gehören auf der einen Seite die über Jahrtausende entwickelte buddhistische Tradition (Kap. 2.1.2) und auf der anderen Seite die klinische, wissenschaftliche Epistemologie (vgl. Williams & Kabat-Zinn 2013, S. 11/ Kap. 2.1.3). Im zweiten Teil wird die psychologische Definition unter Einbezug buddhistischer Gelehrter und Religionswissenschaftler kritisch diskutiert (Kap. 2.2.), um Achtsamkeit schliesslich vor dem Hintergrund pädagogischer Kontexte vorzustellen (Kap. 2.3.).

 

2.1.2 Achtsamkeit im Buddhismus


 

Buddha, der erkannt hat, dass alles Geschaffene vergänglich ist, mahnte zur unablässigen Achtsamkeit. „Die Buddha-Natur ist – vor allem anderen – Achtsamkeit. Die Übung der Achtsamkeit ist die Übung, den Buddha im gegenwärtigen Moment zu Leben zu erwecken. Sie ist der wahre Buddha“ (Thich Nhat Hanh 2000, S. 181). Achtsamkeit ist der bedeutendste Teil des bekanntesten Systems der buddhistischen Meditation, der sogenannten „Satipatthana“, und steht bei allen klassischen Systemen der buddhistischen Meditation im Zentrum (vgl. Bodhi 2013, S. 37ff.). Jedoch muss betont werden, dass Achtsamkeit im Buddhismus mehr ist als eine reine Meditationsübung. „Achtsamkeit ist eine universale Haltung, ihre eigentliche Realisierung findet im Alltag statt und nicht in der isolierten Übungssituation auf dem Meditationskissen“ (Imm 2009, S. 31).

 

Die Lehre von Buddha, die als „dhamma“ bezeichnet wird, besteht nicht aus einer Reihe von Lehrsätzen, an die man glauben soll, vielmehr handelt es sich um Grundsätze und Übungen, die den Menschen von Leid befreien und auf der Suche nach Glück unterstützen sollen. Achtsamkeit erhält einen besonderen Stellenwert, da Buddha sie in den Achtfachen Pfad und als die vierte der vier edlen Wahrheiten in seine Lehre aufnahm. Die Reden des Buddha wurden vier Jahrhunderte lang mündlich bewahrt und von einer Generation zur nächsten Generation der Rezitatoren überliefert, bevor sie schliesslich in der sogenannten frühen Sammlung, dem Pali-Nikaya, verschriftlicht wurden (vgl. Bodhi 2013, S. 39). Der bekannteste Text über die Achtsamkeitspraxis, das „Satipatthana-Sutta“, beginnt mit einem Ausruf, der sowohl das Ziel als auch die Methode der Achtsamkeitsübung beschreibt:

 

„Der einzige Weg ist dies, o Mönche, zur Läuterung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Schwinden von Schmerz und Trübsal, zur Gewinnung der rechten Methode, zur Verwirklichung des Nibbana, nämlich die vier Grundlagen der Achtsamkeit. Welche vier? Da weilt, o Mönche, der Mönch beim Körper in Betrachtung des Körpers, … bei den Gefühlen in Betrachtung der Gefühle, … beim Geist in Betrachtung des Geistes, …. Bei den Erscheinungen in Betrachtung der Erscheinungen, eifrig, wissensklar und achtsam […]“ (Bodhi 2013, S. 40f nach DN (Digha-Nikaya 22.1 (II 290; LDB 335)).

 

Achtsamkeit wird darin als Methode zur Überwindung von Schmerz und Trübsal und zur Erreichung des Nibbana beschrieben. Achtsamkeit kommt in vier Bereichen zum Ausdruck, nämlich beim Köper, den Gefühlen, dem Geist und den Erscheinungen. Diesen soll „eifrig, wissensklar und achtsam“ begegnet werden. Achtsamkeit ist somit „die menschliche Haltung“ gegenüber diesen Objekten (vgl. Bodhi 2013, S. 49). „Eifrig“ bezeichnet die Stärke, die Energie und Motivation, mit der die Achtsamkeit ausgeübt wird. Achtsamkeit und Wissensklarheit werden ausserdem in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt. Achtsamkeit (sati) und Wissensklarheit (sampajanna) werden häufig zusammen gebraucht, wobei Achtsamkeit als „klares Gewahrsein des Feldes der Erscheinungen“ beschrieben wird, während Wissensklarheit das kognitive Element bildet, durch welches das Feld interpretiert und die Phänomene in einen sinnvollen Kontext gesetzt werden (vgl. a.a.O. 2013, S. 42).

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