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Zweigeschlechtlichkeit als Norm? Das Dogma der Zweigeschlechtlichkeit und seine gesellschaftlichen und individuellen Auswirkungen am Beispiel der Intersexualität

AutorMary Jirsak
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl111 Seiten
ISBN9783638570657
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 2,3, Fachhochschule Kiel (Soziale Arbeit und Gesundheit), 105 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen, die Koppelung der Geschlechtsrolle an das körperliche Geschlecht und die starre Dichotomie des Geschlechtersystems haben starke Auswirkungen auf unsere Realität. Jedoch ist auch die Sicht auf die biologische Geschlechtlichkeit komplex, wie die wechselnden Definitionen im Laufe der Geschichte zeigen. Heute gelten andere Faktoren als 'Beweis' für das Geschlecht eines Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten. Die starre Festlegung von Menschen auf zwei Geschlechter mit all den daran geknüpften Erwartungen führt oft zu einer Entwicklungsbeschränkung für die einzelnen Individuen, schlimmstenfalls - wie in dieser Arbeit berichtet - zu gravierenden Verletzungen und Traumatisierungen. Daher ist es für notwendig, sich gerade im sozialpädagogischen Feld kontinuierlich mit Normen und Zuschreibungen auseinanderzusetzen. Aus den genannten Gründen setzt sich diese Arbeit mit Intersexualität und den Auswirkungen der Geschlechterdichotomie auseinander und untersucht sie anhand der These der Autorin, dass es sich bei ihr um ein Normensystem und ein Dogma handelt. Nach einer kurzen Einführung zu Definition und Häufigkeit von Intersexualität wird die Ausprägung der Zweigeschlechtlichkeit als politische, rechtliche, soziale und kulturelle Norm betrachtet. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den medizinischen und gesundheitlichen Aspekten der Intersexualität. Die meisten intersexuellen Menschen haben Erfahrungen mit medizinischer Einordnung, Eingriffen und Behandlungen und leiden teilweise massiv unter ihren körperlichen und seelischen Folgen. Die folgenreiche Zuweisung eines Geschlechts findet in den Kliniken statt und wird im Allgemeinen von ÄrztInnen vorgenommen. Daher richten sich Kritik und Forderungen der Betroffenen auch zunächst an diese. Breiten Raum nehmen persönliche Erfahrungen erwachsener Intersexueller ein. Auch das Selbsthilfesystem und die aktuelle medizinische Situation werden betrachtet. Im weiteren Kapiteln geht es um die psychosozialen Auswirkungen der Zweigeschlechtlichkeitsnorm auf die Betroffenen und die Konsequenzen für die Sozialarbeit. Zum Schluss wird die Frage betrachtet, inwiefern soziales und biologisches Geschlecht immer neu konstruiert werden und was hieraus folgt. Dabei wirft die Autorin einen polemischen Blick auf die Reproduktion von Rollenstereotypen in verbreiteten natur- und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen.

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Leseprobe

Einleitung


 

Als ich vor ca. drei Jahren zum ersten Mal den Begriff Intersexualität hörte, war ich zunächst erstaunt darüber, dass es offensichtlich weit mehr Menschen gibt, die körperlich zwischen den bekannten Geschlechtern stehen, als ich erwartet hätte – und später entsetzt, als ich von den körperlichen und psychischen Verletzungen erfuhr, die intersexuelle Menschen erleiden mussten und noch müssen. Damals reifte die Idee in mir, mich in meiner Diplomarbeit mit dem Thema zu beschäftigen, weil ich es für wichtig halte, dass SozialpädagogInnen sich mit Diskriminierungen jeder Art auseinandersetzen und sich Wissen über unsichtbare Minderheiten aneignen, um ihnen in ihrer Arbeit gerecht werden zu können.

 

Die Einteilung der Menschheit in Männer und Frauen, die Koppelung der Geschlechtsrolle an das körperliche Geschlecht und die starre Dichotomie des Geschlechtersystems haben starke Auswirkungen auf unsere Realität. Jedoch ist auch die Sicht auf die biologische Geschlechtlichkeit komplex, wie die wechselnden Definitionen im Lauf der Geschichte zeigen (vgl. Kap. 2.3 und 7.2). Heute gelten andere Faktoren als „Beweis“ für das Geschlecht eines Menschen als noch vor einigen Jahrzehnten. Fausto-Sterling beschreibt dies anhand der Geschlechtsüberprüfung bei Olympiateilnehmerinnen:

 

„Bis 1968 wurden Olympia-Teilnehmerinnen oft gebeten, sich nackt vor einem Untersuchungsgremium zur Schau zu stellen. Brüste und eine Vagina reichten aus, die eigene Weiblichkeit zu beweisen. Aber viele Frauen beschwerten sich, dass diese Methode entwürdigend war. Unter anderem, weil sich diese Beschwerden häuften, entschied das IOC, vom modernen, ‚wissenschaftlichen’ Chromosomentest Gebrauch zu machen.“[1]

 

Seit 1968 wird die Geschlechtszugehörigkeit mit einem Chromsomentest überprüft. Ein solcher Test führte auch bei der spanischen Hürdenläuferin Maria Patiño 1988 zum Ausschluss vom spanischen Olympiateam.[2] Weil Patiño Y-Chromosomen in ihren Zellen hatte, konnte sie nach Ansicht des IOC keine Frau sein, obwohl sie äußerlich weiblich aussah und auch ihr ganzes bisheriges Leben als Frau verbracht hatte. Weitergehende Untersuchungen wurden angestellt, und die ÄrztInnen teilten ihr mit, dass sie weder Eierstöcke noch Uterus hatte, dafür verbargen sich innerhalb ihrer Schamlippen Hoden. Eine Athletin, die keine Frau war, durfte nicht an den Wettkämpfen teilnehmen, obwohl sie mit der Kraft einer Frau ausgestattet war. Als sie trotz des Drucks spanischer Sportfunktionäre, das Ergebnis zu verheimlichen und eine Verletzung vorzutäuschen, an die Öffentlichkeit ging, „brach Patiños Leben zusammen“[3]. Sie musste ihre Wohnung im nationalen Athletik-Zentrum verlassen, frühere Titel wurden ihr aberkannt, ihr Freund verließ sie und ihr Stipendium wurde widerrufen. Es gelang ihr nach jahrelangem Kampf, wieder in das Olympiateam zu kommen. Die polnische Sprinterin Ewa Klobukowska hatte ihre Goldmedaille von Tokio zurückgeben müssen, weil bei ihr nachträglich ein XXY-Chromosomensatz festgestellt wurde.[4] Im Jahr 2000 wurden die olympischen Geschlechtstests nach jahrelanger Kritik abgeschafft, jedoch werden sie bei anderen Wettkämpfen weiterhin durchgeführt, z. B. 2002 bei der Volleyball-Weltmeisterschaft in Deutschland.[5] Seit 2004 sind transsexuelle SportlerInnen bei der Olympiade zugelassen, allerdings nur, wenn sie besondere Voraussetzungen erfüllen: die Entfernung der Eierstöcke bzw. Hoden und mindestens zweijährige Hormongaben. Aktuell ist es also vor allem der Hormonstatus, der über das olympische Geschlecht entscheidet.[6] Auch dies könnte sich wieder ändern, mehr sich die Androgynität von Menschen offenbart. Intersexuelle Menschen sind weiterhin von einer Karriere im Spitzensport ausgeschlossen – vermutlich deshalb, weil es keine Untersu-chungsmethode gibt, die alle Menschen eindeutig einem Geschlecht zuweisen kann.

 

Wie man an dieser Entwicklung sehen kann, besteht noch nicht einmal Einigkeit darüber, wie das körperliche Geschlecht (sex) zweifelsfrei bestimmt werden kann - die Indikatoren wechseln. Umso schwieriger dürfte es sein, eine Person bereits nach ihrer Geburt auf ein rechtliches und soziales Geschlecht (gender) festzulegen. Der US-amerikanische Psychologe und Sexualforscher John Money und die Psychiaterin Anke A. Ehrhardt waren davon überzeugt, dass gender unabhängig vom körperlichen Geschlecht besteht und ausschließlich sozialisationsbedingt ist[7] - eine These, die schnell aufgenommen wurde und sich vor allem in der Frauenbewegung verbreitete.

 

Money sah eine Möglichkeit, sie zu beweisen, als sich die Eltern eines kleinen Jungen an ihn wandten, dessen Penis bei einem Eingriff wegen einer Vorhautverengung durch die Verwendung eines defekten Gerätes zerstört worden war. Da Money davon überzeugt war, dass eine Sozialisation zum anderen Geschlecht bis zum Alter von 18 Monaten möglich ist, empfahl er ihnen, das Kind als Tochter aufzuziehen und ihm sein eigentliches Geschlecht zu verheimlichen. Brenda Reimer, wie die neue Tochter genannt wurde, bekam weibliche Hormone und wuchs als Mädchen auf. Sie fügte sich jedoch nicht in ihre Rolle, benahm sich „wie ein Junge“, wurde eine Außenseiterin und hatte Probleme in der Schule. Money sah das Experiment dennoch als Erfolg. Auch ihre Familie litt unter der Situation. Als der Vater Brenda mit 14 Jahren aufklärte, nahm sie den Namen David an und ließ sich operativ einen Penis herstellen. David Reimer hat sein Trauma jedoch nie überwunden und sich mit 38 Jahren das Leben genommen.[8]

 

Ob diese schrecklichen Folgen einer unfreiwilligen „Geschlechtsumwandlung“[9] auch beweisen, dass geschlechtstypisches Verhalten und Geschlechtsidentität vor allem oder auch biologisch determiniert sind, wie einige AutorInnen meinen[10], kann meiner Ansicht nach nicht geklärt werden. Die Eltern wussten ja, dass sie einen Sohn geboren hatten, und könnten dies dem Kind unfreiwillig gespiegelt haben.[11] (Auf die Entwicklung der Geschlechtstypisierung, die Unterteilung der Geschlechtlichkeit in sex und gender und die Frage, ob Geschlecht konstruiert ist, werde ich in dieser Arbeit noch ausführlicher eingehen.) Zudem wurde Brenda mit Hormonen behandelt, ohne über die Ursachen aufgeklärt zu sein, und hatte keine Vagina wie andere Mädchen.

 

Für den intersexuellen Aktivisten Michel Reiter zeigt die Geschichte von David Reimer, dass es nicht möglich ist, einem Menschen ein Geschlecht zuzuweisen. Intersexuelle sind für ihn/sie ein eigenes Geschlecht, und eine Zwangszuweisung führt zu einer Zerstörung der Identität. „Eine Assimilation Intersexueller in eines der beiden Geschlechter funktioniert nicht“.[12]

 

Die Festlegung von Menschen auf zwei Geschlechter mit all den daran geknüpften Erwartungen führt meiner Meinung nach oft zu einer Entwicklungsbeschränkung für die einzelnen Individuen, schlimmstenfalls – wie in der Geschichte von David Reimer oder denen von intersexuellen Menschen, von denen ich in dieser Arbeit berichten will, zu gravierenden Verletzungen und Traumatisierungen. Daher halte ich es für notwendig, sich gerade im sozialpädagogischen Feld kontinuierlich mit Normen und Zuschreibungen auseinanderzusetzen und den eigenen Horizont zu erweitern. In vielen Bereichen, z. B. der Jugendarbeit, sind Methoden geschlechtssensibler Arbeit bereits eingeführt. Die Theorien der geschlechtsspezifischen Sozialisation bringen jedoch auch Annahmen hervor, die u. U. weiter verfestigt werden[13], und geschlechtstypisches Verhalten wird verallgemeinert (vgl. Kap. 7).

 

Aus den genannten Gründen setze ich mich in dieser Arbeit mit Intersexualität und den Auswirkungen der Geschlechterdichotomie auseinander und untersuche sie anhand meiner These, dass es sich bei ihr um ein Normensystem und ein Dogma handelt.

 

Zur Struktur der Arbeit

 

Im ersten Kapitel gebe ich eine kurze Einführung, was und wie häufig Intersexualität ist (1.1 und 1.2), und inwiefern sie sich von Transsexualität und Transgender abgrenzt (1.3).

 

Im zweiten Kapitel untersuche ich nach einem Blick auf die Geschlechtstypisierung (2.1) die Ausprägung der Zweigeschlechtlichkeit als politische, rechtliche, soziale und kulturelle Norm (2.2 und 2.3).

 

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den medizinischen und gesundheitlichen Aspekten der Intersexualität. Ich habe mich diesen Fragen trotz der meiner Ansicht nach berechtigten Kritik an ihrer Einordnung als „Störung“ aus folgenden Gründen so ausführlich gewidmet:

 

1. Es ist nach wie vor kaum bekannt, was Intersexualität genau ist. Daher gehe ich in Kapitel 3.1 zunächst auf die geschlechtliche Entwicklung ein.

2. Die meisten intersexuellen Menschen haben Erfahrungen mit medizinischer Einordnung (Kap. 3.2), Eingriffen und Behandlungen und leiden massiv unter ihren körperlichen und seelischen Folgen (3.3 bis 3.5).

3. Die folgenreiche Zuweisung eines Geschlechts findet in den Kliniken statt und wird im Allgemeinen von ÄrztInnen vorgenommen. Daher richten sich Kritik und...

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