4. Anstiftung zum Glücklichsein
Wie werde ich glücklich?« Diese Frage stellen sich die Menschen vermutlich schon, seitdem sie von den Bäumen heruntergeklettert sind. Aristippos von Kyrene (435 v. Chr. bis ca. 355 v. Chr.) war vermutlich der erste Philosoph, der eine komplette Glücksphilosophie entworfen hat und die sich kurz so zusammenfassen lässt: Der Weg zum Glück ist die Lust zu maximieren und dem Schmerz auszuweichen.
»Was ist Glück?«, fragen wir Mütter uns manchmal, wenn eine kinderlose Kollegin perfekt gekleidet davon berichtet, dass sie heute noch ihren Kosmetikerin-Gutschein einlöst, danach ins Theater zu einer Uraufführung geht und hinterher bei einem Sternekoch noch das neueste vegane Gericht ausprobiert – mit einem »sehr interessanten Typen« aus der anderen Abteilung vom Nebengebäude. Fragen über Fragen, die sich mir stellen, während ich nach der Arbeit noch zum Supermarkt hetze, einen Streit der Kinder nach dem Abholen von Kita und Hort schlichte, zwischen Hausaufgabenbetreuung und Mannbetreuung (SMS von IHM: »Wird später im Büro, der Chef hat einen Knall, ich kündige gleich!« SMS von MIR: »Schlaf erst einmal eine Nacht darüber, lass uns sprechen, nichts überstürzen!«) versuche, die Quadratur des Kreises beim Kochen (gesund und wohlschmeckend) zu lösen, die Waschmaschine befülle, ausgelaufene Milch aus dem Kühlschrank putze und noch schnell eine Mail des Elternbeirats beantworte – während sich meine kinderlose Kollegin wohl gerade aufgehübscht von der Kosmetikerin in das Theater zur Uraufführung begibt und sich intellektuell und ohne Sabberflecken an einem Kleidungsstück mit dem Kollegen vom Nebengebäude über die aufregenden Hauptdarsteller unterhält.
Ist sie glücklicher als ich? Hm, wer sollte das entscheiden, es gibt ja keinen »Glücksdetektor« analog zum Lügendetektor, obwohl Studien immer wieder versuchen, das Glück zu messen. Demnach leben die glücklichsten Deutschen in Süddeutschland, die unglücklichsten im Osten. Einige behaupten, das Glück liege in unseren Genen, andere sagen, es sei hausgemacht. Und wohl jede hat schon mal darüber diskutiert, ob Geld glücklich macht oder nicht. Eine Untersuchung stellte fest, dass Familie an Weihnachten glücklich macht – aber ob das auch für die restlichen 364 Tage im Jahr gilt, darüber schweigt sich die Studie aus.
Ich jedenfalls bin unglücklich, wenn ich an meine kinderlose Kollegin denke, die umwerfend gutaussehend wohl gerade im Sternerestaurant speist, während ich kaum mehr vor Müdigkeit die Augen aufhalten kann und in Schlabberhosen mit erstickender Stimme ins Kinderzimmer rufe: »Ist jetzt nicht endlich mal Ruhe?!«
Nicht dass jetzt der Eindruck entsteht, ich würde die kinderlose Kollegin beneiden – es handelt sich keineswegs um einen Eindruck, sondern um eine Tatsache! Wie gerne würde ich auch mal nachts schlafen, ohne nicht mindestens einmal ins Kinderzimmer gerufen zu werden, weil Bast, der Bär, einen Alptraum hatte und Eva mich deshalb zum Trösten braucht. Wie gerne würde ich zur Kosmetikerin und zum Essen ins Sternerestaurant gehen, wie gerne würde ich in der Theaterpause ein Glas Sekt trinken, wie gerne würde ich dieses und jenes tun und ganz einfach einmal in Ruhe all die wunderbaren Dinge genießen, die es außerhalb eines Mutterlebens noch gibt!
Neidisch liege ich nachts neben meinem schnarchenden Mann wach im Bett, nachdem mich Bast, der Bär, bzw. Eva aus dem ersten Schlaf gerissen hat, während die kinderlose Kollegin vielleicht gerade noch den schönsten Teil des Abends erlebt und eine heiße Nacht mit dem interessanten Kollegen aus dem Nebengebäude verbringt …
Was würde ich so ohne Anhang nicht alles tun! Ich würde Seminare in gesunder Ernährung belegen, zur Kosmetikerin und ins Theater gehen und in der Badewanne zu einem Glas Rotwein philosophische Abhandlungen über Glück lesen. Stunden, Tage und Wochen würde ich mit der körperlichen, geistigen und seelischen Pflege meiner selbst verbringen! Kein Mann, der sagt: »Kannst du ausnahmsweise heute mal aufstehen für die Kinder?« Kein Streitschlichterdasein mehr morgens um halb sieben. Kein Gehetze mehr zum Büro, weil wir nach dem Frühstück zum gefühlten millionsten Mal eins der Handys der Kinder suchen. Keine Überstunden mehr, um die von kranken Kindern verursachten Arbeitsausfälle wieder hereinzuholen. Keine Mordgelüste mehr, weil der Mann trotz Absprache immer noch im Büro hockt, während ich dringend zum Elternabend wegmüsste. Ja, keine Elternabende an Schulen mehr, das wäre ja alleine schon wunder-wunder-wunderbar!
Nachdem ich endlich über meinen Träumen eingeschlafen bin, weckt mich Bast, der Bär, bzw. Eva noch einmal. »Der ist so traurig, der Bast. Der hat Alpträume und kann nicht schlafen!«, sagt Eva, an meinem Bett stehend.
»Dann sag ihm, dass ich auch unglücklich bin!«, herrsche ich meine Tochter an, obwohl ich doch weiß, dass Bast, der Bär, eins zu eins für Evas Gefühle und Befindlichkeiten steht. Selbst im Schlafdelirium schäme ich mich dafür, meine Tochter so im Stich zu lassen, wenn sie traurig ist.
»Warum bist du unglücklich?«, fragt Eva fürsorglich und setzt sich zu mir an die Bettkante. Um Gottes willen! Jetzt dränge ich Eva auch noch in eine Erwachsenenrolle. Wir Eltern sind schließlich dazu da, den Kleinen eine glückliche Kindheit zu ermöglichen, und dürfen nicht umgekehrt von ihnen erwarten, dass sie uns trösten und bemuttern. Das ist schlicht unfair und zieht womöglich lebenslängliche psychoanalytische Therapien nach sich!
»Ich bin unglücklich, weil … es ist einfach so viel im Job! Aber mach dir keine Sorgen, Eva, ich krieg das schon hin!«
»Jetzt bin ich aber froh«, sagt Eva. »Ich hab schon gemeint, du bist wegen mir unglücklich!«
Oh Gott, das Kind hat die Wahrheit erkannt. Ich hatte von einer Welt ohne meine Kinder geträumt.
Ich stehe auf, betüddele Bast, den Bär, Eva schläft ein, ich wanke ins Bett zurück und kann jetzt erst recht nicht mehr einschlafen. Mit roten Augen werde ich morgen ins Büro kommen. Meine kinderlose Kollegin wird von ihrem Ausgehabend schwärmen, meine Kinder werden ein tiefes Gefühl des Verlassenseins empfinden und mein Mann sich zu Recht beklagen, dass ich so garstig bin. Nie, nie, nie hätte ich mit meinem Neid und Egoismus eine Familie gründen dürfen!
»Gut schaust du aus!«, sagt mein Mann am nächsten Morgen. Ich dachte ja immer, Farbenblindheit überträgt sich über das Y-Chromosom, aber offenbar auch die Tränensäcke-grauer-Teint-rote-Augen-Ignoranz.
»Mama! Du bist die beste auf der Welt«, ruft Eva, nachdem wir ihr Handy gefunden haben. »Und weißt du was, Bast darf jetzt nicht mehr bei mir schlafen, der macht immer bloß einen Zirkus in der Nacht!«
»Mama«, sagt Lukas später im Auto, »wir sind eine richtig glückliche Familie!«
Wie kommen die denn heute um Himmels willen alle auf so etwas?
Aber ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, und ich hetze zur Arbeit.
An der Kaffeemaschine im Büro steht eine verheulte Kollegin mit roten Augen. Die Uraufführung war scheiße, das Essen war scheiße, und vor allem dieser Typ war so scheiße, wie ich mir das als glückliche Ehefrau und Mutter ja gar nicht vorstellen kann. Will der sie doch bloß ins Bett abschleppen und sagt dann noch, ihr sei hoffentlich klar, dass alles ganz unverbindlich sei, Familie sei das Letzte, was er wolle. Die Kollegin schneuzt sich, ehe sie wieder in Tränen ausbricht. Und dann wäre sie dumme Kuh trotzdem noch mit ihm ins Bett gestiegen, wie blöd sei sie eigentlich, und das war dann auch so scheiße wie die Uraufführung und das Essen.
Und weil sie jetzt eh schon bei der Wahrheit sei – ich könne ja gar nicht wissen, wie sehr sie mich beneide, um meinen Mann, um die Kinder, um das stets um mich herumtobende Leben, wohingegen ihr Dasein so aufregend wie das einer Tiefseemuschel sei, von Theaterabenden alle halbe Jahre einmal abgesehen. Keiner stelle ihr unbequeme Fragen, keiner bringe sie noch aus der Fassung, keiner weit und breit würde noch von ihrer Schönheit sprechen, wenn sie einmal nicht mehr sei. Würde ich denn überhaupt wissen, was für ein Glück ich habe mit meiner Familie?
Ich stammle und versuche, ein paar Nachteile aufzuzählen, wie die nächtlichen Störungen, aber ich halte inne und nehme die Kollegin einfach in den Arm, um sie zu trösten. Sie hat recht.
Sollen doch Philosophen immer wieder mühevoll seit zwei Jahrhunderten Alltagsfragen aus ihrer Disziplin ausklammern! Philosophie ist in diesem Sinne auch nur eine Variante des Fluchtreflexes der Männer vor Wickeln, Spülen und anderen Banalitäten. Ich weiß einfach, auch wenn ich sonst nichts weiß, dass Kinder glücklich machen. Die Freude, sie wachsen zu sehen, ist nicht käuflich. Und die täglichen Überraschungen mit den Kleinen – selbst die negativen – heben mein Dasein aus einer zweidimensionalen Ebene in einen vierdimensionalen Raum, wie die neuen Physiker ihn beschreiben. Ich lebe die Quadratur des Kreises zwischen Job, Kinder, Partner und Haushalt – und habe nur ein Problem: Das Glück des bunten Lebens inmitten des Durcheinanders dabei zu übersehen. Vielleicht geht es Ihnen im Alltag ähnlich. Dann halten Sie einmal kurz inne und öffnen Ihre Augen dafür. Ich für meinen Teil muss mich für jetzt aber verabschieden. Mir fallen die Augen zu. Ich muss schlafen. Bast, der Bär, wurde nach der stundenweisen Verbannung...