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E-Book

Krank und pleite?

Das deutsche Gesundheitssystem

AutorHartmut Reiners
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl223 Seiten
ISBN9783518747407
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Sind unsere Krankenkassen wirklich pleite? Können wir es uns bald nicht mehr leisten, krank zu werden? Daß unser Gesundheitssystem keine Wohltätigkeitsveranstaltung ist, sondern ein mächtiger Wirtschaftszweig, haben wir längst begriffen. Aber wer profitiert hier eigentlich? Und warum zahlen wir als Versicherte immer mehr drauf? Hartmut Reiners, einer der erfahrensten Gesundheitsökonomen, eilt dem verwirrten Patienten nun zu Hilfe und entlarvt in dieser kritischen Einführung Schritt für Schritt die Mythen unseres Gesundheitssystems. Am Ende werden Sie endlich verstehen, worüber sich die Spezialisten des Gesundheitswesens bei Anne Will, Maybrit Illner oder Frank Plasberg eigentlich streiten. Was in unserem Gesundheitssystem schiefläuft und wie es wirklich reformiert werden könnte, zeigt einer der führenden Gesundheitsökonomen Deutschlands.

<p>Hartmut Reiners war zwischen 1992 und 2010 Referatsleiter Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik im Ministerium f&uuml;r Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie (MAGS) des Landes Brandenburg; zuvor in gleicher Funktion im MAGS Nordrhein-Westfalen. In dieser Eigenschaft war er an der Erarbeitung aller GKV-Reformgesetze seit 1988 beteiligt.</p>

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Leseprobe

Das Gesundheitswesen –
ein besonderer Wirtschaftszweig

Die Probleme und Mängel unseres Gesundheitssystems sind seit jeher ein beliebtes Thema in den deutschen Medien. Berichte über »kranke Kassen« (Süddeutsche Zeitung, 14. 6. 2010) oder ein »krankes System« (Spiegel-Online, 9. 9. 2010) vermitteln den Eindruck, als hätten wir eine marode medizinische Versorgung. Sind ein paar Krankenkassen in eine wirtschaftliche Schieflage geraten, droht gleich eine »Pleitewelle« (Kölner Stadt-Anzeiger, 14. 6. 2010). Die in jeder Legislaturperiode des Bundestages anfallenden Reformen im Gesundheitswesen werden als politisches Krisensymptom interpretiert und die Akteure in der Gesundheitspolitik als »kollektiv verantwortungslos« (Der Spiegel 27/2006) an den Pranger gestellt. Glaubt man diesen leichtfertig in Druck gegebenen Schlagzeilen, dürfte man sich kaum noch zum Arzt trauen oder sich auf die Hilfe der Krankenkassen verlassen können. Für eine solche Verunsicherung gibt es aber keinen wirklichen Anlass. Unser Gesundheitswesen ist nicht schwer erkrankt, auch wenn es schwächelt und behandlungsbedürftig ist. Sicher hat die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) finanzielle Schwierigkeiten, aber die Krankenkassen sind kein Fall für den Insolvenzverwalter. Wir haben nach wie vor, trotz ihrer nicht zu leugnenden Defizite, eine leistungsfähige medizinische Versorgung, deren Qualität sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann. Dennoch müssen ihre Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen dringend modernisiert werden, um den Anforderungen, die sich aus den Entwicklungen in Medizin und Demographie ergeben, gerecht zu werden. Das sind jedoch keine dramatischen Probleme, sondern prinzipiell lösbare politische Aufgaben, die sich mit spezifischen Variationen auch in anderen modernen Volkswirtschaften stellen.

Seit über 30 Jahren werden wir regelmäßig mit neuen Gesetzen zu den Strukturen und Leistungen unseres Gesundheitswesens konfrontiert, die man fälschlich »Gesundheitsreformen« nennt. Bei diesen politischen Operationen geht es vor allem um die Gesetzliche Krankenversicherung, die sich um die medizinische Versorgung kümmert, also mit der Behandlung und Bewältigung von Krankheiten zu tun hat. Was wir allgemein als Gesundheitswesen bezeichnen – Krankenkassen, Arztpraxen, Krankenhäuser usw. – ist daher eigentlich ein »Krankheitswesen«. Die Strukturprobleme dieses Systems lassen sich nicht mit einem Schlag in einer »großen« Reform lösen, sondern haben eine im Prinzip endlose Kette von Gesetzen zur Folge, die das Gesundheitswesen in einzelnen Punkten neu regulieren. Dabei geht es weniger um Ideallösungen als um Kompromisse, deren Halbherzigkeiten und Zugeständnisse an Sonderinteressen die nächste Reform bereits in sich tragen. Dieser Inkrementalismus ist kein Politikversagen, sondern Konsequenz eines komplizierten Sektors mit einer Vielzahl widerstrebender Interessen. Wer also fordert, man müsse endlich mal eine »richtige Gesundheitsreform« machen, beweist nur, dass er oder sie keine Ahnung von der Komplexität der Gesundheitspolitik hat.

Dort geht es primär um die Steuerung eines Wirtschaftszweiges, bei dem im Unterschied zu den meisten anderen Branchen Anpassungsprozesse an sich verändernde Bedingungen nicht vom Markt, sondern aus guten Gründen von der Politik bzw. dem Gesetzgeber geregelt werden. Das deutsche Gesundheitswesen erwirtschaftet mit 260 Mrd. Euro etwa 10,4?% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der Messgröße für die erwirtschafteten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft. Mit je nach Schätzung zwischen 4,5 und 5 Millionen Arbeitsplätzen bildet es zudem die größte Dienstleistungsbranche mit einem sogar noch ausbaufähigen Jobpotenzial. Diese hohe volkswirtschaftliche Bedeutung des Gesundheitswesens ist allerdings keine deutsche Besonderheit. Ein umfassendes medizinisches Versorgungsangebot für alle Bürger gehört zu den Standards moderner Gesellschaften und wurde in der Sozialcharta der EU ausdrücklich als gemeinsames Merkmal seiner Mitgliedsstaaten festgeschrieben. In den EU-Kernländern bewegt sich der Anteil der Gesundheitsausgaben des Bruttoinlandsprodukts zwischen 8,2?% (Finnland) und 11,0?% (Frankreich). Ein ähnliches Niveau haben Australien, Kanada und Japan. Bei den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern wie Polen, Tschechien oder Ungarn liegt diese Quote zwar niedriger (zwischen 6?% und 7,5?%), passt sich jedoch auch dort allmählich der EU-Norm an.

Es ist also nicht nur legitim, sondern absolut notwendig, das Gesundheitswesen als Erwerbszweig und nicht als Wohltätigkeitsveranstaltung zu betrachten. Mutter Teresa und Albert Schweitzer sind keine geeigneten Leitbilder für Pflegekräfte und Ärzte, die mit ihrer hohen Qualifikation gutes Geld verdienen wollen und sollen. Insofern geht die verbreitete Kritik, die Gesundheitspolitik der letzten 30 Jahre habe eine Ökonomisierung des Gesundheitswesens betrieben, an der Sache vorbei. Richtig ist aber, dass die öffentliche Diskussion über Reformen im Gesundheitswesen von einer ökonomistischen Ideologie überlagert wird, die auf die Besonderheiten dieses die Existenz und das Wohlbefinden der Menschen unmittelbar berührenden Wirtschaftszweiges keine Rücksicht nimmt. Mit der unter Ökonomen leider verbreiteten Attitüde »Wenn sich die Realität von unseren Modellen unterscheidet – Pech für die Realität!« werden Patentrezepte der Lehrbuchökonomie propagiert, die sich schon in »normalen« Märkten als nur bedingt tauglich erwiesen haben, im Medizinsystem aber völlig versagen.

So fordern manche Journalisten und Professoren mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung im Gesundheitswesen, ohne einen Gedanken auf die erheblichen Risiken und Nebenwirkungen solcher Therapien zu verschwenden. Sie tun so, als gäbe es keinen wirklichen Unterschied zwischen einer Arztpraxis und einem Supermarkt, nur weil es sich in beiden Fällen um Erwerbsbetriebe handelt. Das Gesundheitswesen tickt jedoch ganz anders als die übrigen Wirtschaftszweige. In ihm herrscht das, was Ökonomen »Marktversagen« nennen. Das für effektive Märkte erforderliche mehr oder weniger gleichgewichtige Zusammenspiel von Angebot und zahlungsfähiger Nachfrage funktioniert hier aus verschiedenen, noch zu erläuternden Gründen nicht. Deshalb wird das Gesundheitswesen in allen modernen Gesellschaften vorwiegend mit öffentlichen Geldern finanziert und politisch reguliert. Ein gewisse Ausnahme bildet in dieser Hinsicht das US-Gesundheitswesen, das aber genau deswegen zu den teuersten und zugleich uneffektivsten der Welt gehört, wie noch zu zeigen sein wird.

Im Unterschied zur Marktsteuerung mit ihren anonymen Mechanismen einer »unsichtbaren Hand« (Adam Smith) bestimmen im Gesundheitswesen politische und damit konkreten Akteuren zuzuordnende Entscheidungen über die Ressourcenverteilung. Natürlich möchten zahlreiche Interessengruppen diesen Prozess in ihrem Sinne lenken und versuchen daher, politische Entscheidungen gezielt zu beeinflussen und die öffentliche Debatte in den Medien zu steuern. Von den knapp 2000 beim Bundestagspräsidenten akkreditierten Lobbyisten kümmern sich nach Recherchen des »Spiegel« (30/2006) weit über 400 allein um die Gesundheitspolitik. Hinzu kommen finanziell bestens ausgestattete Stiftungen und Institute, die mit mediengerecht aufgearbeiteten Meldungen und Berichten die politische Agenda zu bestimmen versuchen. Der ehemalige Sozialminister Norbert Blüm (CDU) hat dieses Phänomen schon vor über 20 Jahren mit dem Bonmot beschrieben, Gesundheitspolitik sei »Schwimmgymnastik im Haifischbecken«. Im Job aller Gesundheitsminister(-innen) ist Ärger garantiert, und der liefert dann zuverlässig und reichlich Stoff für Journalisten und Kabarettisten. Die Gesundheitsminister werden für alle möglichen Unzulänglichkeiten im Gesundheitswesen verantwortlich gemacht, selbst wenn sie im konkreten Fall keine Schuld tragen. Wenn z.?B. ganze Arztgruppen sich bei der Honorarverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) benachteiligt fühlen, wälzen sie ihren Ärger nicht auf die dafür zuständigen, von ihnen selbst gewählten KV-Funktionäre ab, sondern stellen Horst Seehofer, Ulla Schmidt oder wer auch immer das Bundesgesundheitsministerium gerade anführt, an den Pranger. Und wenn in einer ländlichen Region Hausärzte ihre Praxis aus Altersgründen schließen und keine Nachfolger bereitstehen, dann beschweren sich die betroffenen Bürger bei der Landesregierung, obwohl diese über keine wirksamen Instrumente zur Behebung dieses Problems verfügt, weil die Sicherstellung der ambulanten Versorgung Sache der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenkassen ist. Regierungsparteien können mit gesundheitspolitischen Themen Wahlen verlieren, aber nicht gewinnen, während ihre Gesundheitspolitik den Oppositionsparteien in der Regel eine Steilvorlage nach der anderen gibt. Die Gesundheitspolitiker der jeweiligen Regierungskoalition haben sogar innerhalb ihrer Parteien meist wenig Rückhalt, schon weil es bei Reformen im Gesundheitswesen um komplizierte Sachverhalte geht, die in den Wahlkreisen oft nur schwer zu vermitteln sind.

 

Für die Medien sind die Wirrnisse der Gesundheitspolitik ein gefundenes Fressen, weil sie eine gute Gelegenheit bieten, Politiker als unfähig und sich selbst als Hüter der Bürgerinteressen zu präsentieren. Talkshow-Moderatoren können sicher sein, mit diesem Thema gute Quoten zu erzielen, auch wenn dort stets...

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