Bemerkenswerterweise bestand das etwa 7.000 - 12.000 Mann starke Eroberungsheer der Muslime, welches im Jahr 711 n. Chr. ohne große Widerstände fast die gesamte Iberische Halbinsel eroberte, zum größten Teil nicht aus Arabern sondern aus nordafrikanischen Berbern.[19] Wie ist es unter dieser Voraussetzung also zu erklären, dass die in der Einleitung postulierte arabisch-islamische Kultur der andalusischen Gesellschaft ihr Gesicht gab?
Insgesamt setzte sich die muslimische Bevölkerung aus folgenden, im Verlauf der Geschichte um Macht und Einfluss ringenden Gruppen zusammen:
1. Aus einer kleinen, aber dominanten arabischen Elite, die unter den Umayyaden zunächst ein Emirat errichtete (756 n. Chr.), das schließlich im Jahr 929 n. Chr. zum Kalifat mit Hauptsitz in Córdoba ausgerufen wurde.[20]
2. Aus den zahlenmäßig stärkeren und militärisch bedeutenden Berbern, die selbst erst kurz zuvor unter muslimische Herrschaft gefallen waren, die neue Religion angenommen hatten und kulturell wenig mit ihren arabischen Führern gemein hatten.[21]
3. Aus einer Bevölkerungsmehrheit von konvertierten Neumuslimen und Nachkommen aus gemischten Ehen, den sog. Muwalladūn, die von den arabischen Muslimen ihrer christlichen Abstammung und häufigen Tätigkeit als Diener wegen oft abwertend als „Slaven“ bezeichnet wurden.[22]
Jessica A. Coope sieht in der Konversion einheimischer Christen und ebenso Juden zum Islam einen religiösen und kulturellen Assimilationsprozess hin zu einer neuen Gruppenidentität, dem „der Wunsch volle gesellschaftliche und rechtliche Anerkennung in der Gemeinschaft zu genießen“[23], zu Grunde lag. Neben dem formellen Akt der Konversion spielten weiter reichende Fragen, wie die nach der rituellen Reinheit unbeschnittener Konvertiten für Rechtsgelehrte eine nicht unwichtige Rolle, welche das Ansehen der Konvertierten nachhaltig beeinflusste.
Demnach erfolgte die Islamisierung durch Konversion hauptsächlich aus ökonomischen Beweggründen, was Coope daran festmacht, dass hauptsächlich Männer, die um Erfolg im öffentlichen Leben wetteiferten, diesen Schritt taten und nur in äußerst seltenen Fällen Frauen.[24] Assimilation durch Islamisierung ging der Akkulturation durch Arabisierung, ein Prozess der sich über mehrere Generationen erstreckt, also voraus.
Auch Thomas Glick macht deutlich, dass es bei der Konversion breiter Bevölkerungsschichten zum Islam keinesfalls zu einer Mischung mit der arabischen Minderheit kam. Auch die fortschreitende Arabisierung in der gesamten Gesellschaft nivellierte die sozialen Unterschiede keineswegs. Vielmehr entstand eine komplett neuartige Gesellschaftsstruktur, in der die arabischen Herrscher selbst ins Hintertreffen gerieten:
„Therefore, in such areas [...], where Arabs were outnumbered
by indigenous peoples of markedly different culture, political life
was typified by competion for power among Muslim groups.“[25]
Kennzeichnend für die muslimische Bevölkerung ist nach Glick eine tribal geprägte Gesellschaftsordnung nach Clanzugehörigkeit. Demnach mussten neu konvertierte – wohlgemerkt männliche – Muslime um die Patronage eines arabischen Stammes ersuchen, welcher fortan als ihr maulan fungierte. Der aufgenommene muwālin war zwar nicht automatisch vollwertiges Mitglied des Clans, jedoch übernahm auf diese Weise die einheimische, konvertierende Bevölkerung zunehmend die Strukturen ihrer Eroberer.[26] Geht man allerdings von der enormen Zahl an Konversionen aus, die Richard Bulliet anhand der Genealogie der Namenszusätze berechnet hat[27], ist es unwahrscheinlich, dass das tribale Netz zu deren Aufnahme fähig gewesen wäre. Glick geht daher davon aus, dass sich Konvertierende ganz unbefangen Namenszusätze zulegten, um sich mit einem prestigeträchtigen Clan zu assoziieren, ja sogar arabisierte Christen übernahmen demnach die arabische, patrilineale Namensgebung.[28] Ein Indiz dafür, dass Eheschließungen für die gesellschaftliche Stellung und den sozialen Aufstieg im ausgehenden 10. Jahrhundert an Bedeutung verloren.[29]
David Wasserstein wiederum beschreibt eine die unterschiedlichen ethnischen, muslimischen Bevölkerungsgruppen einigende, spezifisch andalusische Identität als „charakterisiert durch den Islam als Religion, Arabisch als Kultursprache, sowohl Arabisch als auch Romanisch als Umgangssprachen, und al-Andalus als ihr Territorium“[30]. Jedoch steht diese Ansicht in Diskrepanz zum Verlauf der Geschichte. Denn mit dem Niedergang des arabischen Umayyaden-Kalifats stand als Konsequenz der erwähnten sozialen Umwälzungen das Aufbrechen des inneren Zusammenhalts von al-Andalus entlang der innermuslimischen ethnischen Linien hin zu konfessionalisierten Kleinstaaten (so die gängige wörtliche Übersetzung der Bezeichnung mulūk aṭ-ṭawāʾif).
Bemerkenswerterweise wird in der Form, in der sowohl Coope als auch Wasserstein von Identität sprechen, die Ambivalenz des Begriffs deutlich. Coope verwendet Identität als gruppenspezifisches Zugehörigkeitsmerkmal, an dem sich die verschiedenen Gesellschaftsgruppen klar unterscheiden lassen. Indikator für die jeweilige Identität bzw. Gruppenzugehörigkeit ist für Coope demnach die Religionszugehörigkeit – ein Aspekt dessen Valenz durch Konversion variabel ist.[31]
Wasserstein definiert hingegen eine andalusische Identität, die individuelle Gruppenzugehörigkeit transzendiert, und postuliert in dem Sinne das Dach, welches die Gesellschaft eint. Diese Vorstellung scheint stark an das modernen Staaten zu Grunde liegende Konstrukt von Nationalität und Staatsangehörigkeit angelehnt und dem Beispiel al-Andalus weder angemessen noch zeitgemäß zu sein.
In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, kurz auf die andalusische Šuʿūbīya einzugehen, eine Randerscheinung, die sich im 11. Jahrhundert in einem einzigen wütenden Pamphlet des Muwallad Ibn Ġarsīya/García manifestierte, in welchem er „die Slaven, Byzantiner und alle Nichtaraber (ʿağam) glorifizierte.“[32] Der Begriff der Šuʿūbīya geht auf den Koranvers 49, 13 zurück:
„Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (indem wir euch)
von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen
ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht,
damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse)
untereinander kennt. [...] Als der Vornehmste gilt bei Gott derjenige
von euch, der am frömmsten ist. Gott weiß Bescheid und ist (über alles)
wohl unterrichtet / yā-ayyuhā an-nāsu innā ḫalaqnākum min ḏakarin
wa-unṯā wa-ǧaʿalnākum šuʿūban wa-qabāʾila li-taʿārafū inna akramakum
ʿinda Allāhi atqākum inna Allāha ʿalīmun ḫabīrun“.[33]
Wobei für die Anhänger der Šuʿūbīya im ursprünglichen, persischen Kontext gemäß Roy Mottahedeh „šuʿūb für ein Volk stand, dessen Identität territorial festgelegt war, und qabāʾil für ein Volk stand, dessen Identität genealogisch festgelegt war.“[34] Diese Differenzierung bringt den vorliegenden Unterschied zwischen durch die Eroberung unter muslimische Herrschaft geratenen und konvertierten Völkern sowie arabisch-muslimischen Stämmen auf den Punkt, den es in den Augen der Bewegung hin zur Gleichstellung aller Muslime zu gestalten galt. Auch der im Jahr 880 n. Chr. beginnende Aufstand des Muwallad Ibn Ḥafṣūn gegen den Emir von Córdoba wird in der Literatur meist als Erhebung der einheimischen Landbevölkerung gegen die arabisch dominierte Herrschaft aus eben diesem Motiv gedeutet.[35]
Um auf den arabisch-islamischen Charakter Andalusiens zurückzukommen, spielte Identität im Sinne von Abstammung und Religionszugehörigkeit und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung also eine bedeutende Rolle. Die rechtliche Dimension dieser sozialen Interdependenzen werden wir im Anschluss ins Zentrum unserer Betrachtung...