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E-Book

Cornelia Goethe

AutorSigrid Damm
VerlagInsel Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783458741992
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR


<p>Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P.E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.</p>

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Leseprobe

Der Oktober des Jahres 1765 naht. Der Bruder wird auf die Universität geschickt. Cornelia bleibt zurück. Drei lange Jahre. Der tägliche Umgang, das solidarische Miteinander jäh beendet. Die Schwester in die Universitätsstadt nachzuholen, verspricht der Bruder vor der Abreise. Jugendlich-naive Verschwörung? Beruhigungsformel, um die Trennung zu überwinden, gedankenlos dahingesagt? Geheime Ahnung, radikal wird die Gleichheit zerbrechen, zwei Leben, ein männliches, ein weibliches? Der Grund, warum er das Elternhaus verlassen darf, ist sein Geschlecht. Zärtlich-geschwisterliche Geste also, nicht Wahrhabenwollen der Lebenstatsachen, deshalb: ich werde dich nachholen, du wirst die gleiche Chance haben wie ich. Den Weggang nach Leipzig hat Goethe später als Befreiung gesehen. »Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer seyn, als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den October herannahen sah.« Kaum zu zähmende Freude und das Wissen, die Schwester dazulassen, ausgeliefert dem, was er selbst als Bedrängung und Überschattung seiner Kindheit und Jugend empfand.

Das Mädchen allein. Der Bruder bleibt Bezugspunkt von Cornelias Existenz, Hoffnungsspiegel geheimer, noch nicht verschütteter Lebenswünsche. Innere Kräfte müssen Cornelia zugewachsen sein. Sie arbeitet an sich. Das Versprechen des Bruders ist scheinbar eine ihr Individuum organisierende Kraft. Phantastischer Traumraum, der die Tür im Frankfurter Haus am Hirschgraben einen Spalt zur Welt hin öffnet. Welthunger, der niemals gestillt werden wird.

Als der Bruder nach Jahren zurückkehrt, sieht er befremdet auf die Schwester. Sein Rollenverhalten ist festgelegt. Weib und Mann, getrennte Sphären; Rousseau, die Welt und eigene Erfahrungen mit Mädchen haben das Ihrige getan. Wenn Goethe jemals als Junge sich in die Schwester hineinversetzte, ihren Wünschen nachspürte, sie mit empfand, sie förderte – er wird das nicht mehr tun. Die Beziehung zu Frauen hat eine andere Grundlage. Auch zur Schwester. Cornelia wird verwiesen. Nach dieser ungestümen kindlich-jugendlichen Gleichheit, nach der Erweckung ihrer Ansprüche. Wie bitter.

Aber nehmen wir nichts vorweg.

Heiter beginnt alles zunächst. Nach der Trennung Briefe, die hin- und hergehen, Ersatz für Gespräch. Bogen voll, die Feder fliegt über das Papier, im Sächsischen, im Hessischen. Zusammenfalten, siegeln. Frankfurt–Leipzig. Leipzig–Frankfurt. Die Illusion von Nähe. Der Sechzehnjährige, die Fünfzehnjährige. »Liebste Schwester«, »liebes Schwestergen«; »Mein kleines gutes, gutes, mein bonbon«, schreibt der Bruder. »Guten Tag meine kleine hochgelahrte«. »Närrgen«, »Engelgen«, »kluge Schwester«, »kleines Mädgen« nennt er sie zärtlich und versichert ihr, daß kein anderes Frauenzimmer in Leipzig sie, Cornelia, ihm ersetzen könne. »Ich gehe manchmahl in die Comödie. Ich wünschte daß ich dich mitnehmen könte«, am 6. Dezember, einen Tag vor ihrem Geburtstag. Er ersehnt also ihre Gegenwart. Und auch Cornelias Briefe, die er immer wieder herausfordert, möglichst viele, möglichst lange, genaue Beschreibungen aller Vorkommnisse des Frankfurter Lebens, bedeuten ihm Aufheben der Fremdheit, Ersatz für heimatlich und familiär Gewohntes, dessen er entbehrt. »Es ist heute des Großpapas Geburtstag«, notiert er am 12. Dezember 1765 abends um acht, »du wirst sitzen und schmaußen, mitlerweile ich armer Mensch mit einem Gänse Flügelgen und einer Semmel zufrieden seyn muß. Doch ich will mich vergnügen, indem ich an dich schreibe.«

Um sich zu »erlustigen«, schreibt Goethe der Schwester lange Briefe. »Ich habe eben jetzo Lust mich mit dir zu unterreden; und eben diese Lust bewegt mich an dich zu schreiben.«

»Thue desgleichen«, bittet er. Vertraulichkeit: »zehen« ist es, »also ein bißgen spät und demohngeachtet habe ich im Sinne ein wenig mit dir zu schwätzen«, am Ostertag 1766. Ein andermal: »Es ist spät. Hör, die Glocke des Rathhauses läutet zweymahl, es ist halb zwölf. Die Katzen miauen wie toll … Leb wohl, ich gehe ins Bett. Morgen sprechen wir noch miteinander.« Dies immer wieder. Ungezwungenes Plaudern, deutsch, englisch, französisch, dichterische Versuche dazwischen, Leseeindrücke, Urteile über Leute, über Sitten und viel über die sächsischen Mädchen. Und Ansprachen an die Schwester. Briefe, oft zehn Seiten und mehr, manchmal über eine Woche hin verfaßt, tagebuchartig. Liebenswürdig, knabenhaft überheblich, ein besserwisserisches Studentchen, die eigene Gewichtigkeit wird überernst betont, im nächsten Moment durch Ironie aufgehoben. Dreizehn solcher Briefe schreibt der junge Goethe aus Leipzig, über hundert Seiten. Sie sind erhalten geblieben, Goethe hat sie nicht vernichtet, wie so viele Jugendzeugnisse. Er bekam sie aus dem Nachlaß seiner Mutter und benutzte sie für seine Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«. In Weimar liegen die Handschriften heute.

Cornelias Briefe aber, an Zahl vermutlich mehr, sind verbrannt. Der Bruder überantwortet sie wie so viele andere dem Feuer. Er spricht vom ästhetischen Genuß beim Anblick einer langsam ins Grünliche übergehenden Flamme hinter den Gittern des Kamins. Die Briefe der Schwester versinken in ein Nichts. Ein schrecklicher Verlust. Um Cornelias willen. Denn diese ihre Schreiben an den Bruder in Leipzig sind wohl die einzigen, in denen sie Leben aufbaut. Sie sucht noch ihr Ich, füllt die leeren weißen Wände ihres Frauenzimmers mit Buchstaben.

Eine Spekulation, sind doch die Briefe verloren! Aber in jenen anderen, denen des Bruders, ist sie, Cornelia, vorhanden. Aus den Antworten Goethes, seinen Ermahnungen, Verboten und Geboten löst die Schwester sich, wird Gestalt. Lebendig, schön, wenn wir wollen, wenn wir bereit sind, sie zu sehen. Nur die Anstrengung unserer Phantasie kann den Briefen Goethes jene zweite Dimension geben, die Adressatin aus ihnen heraustreten lassen.

Zugleich bleibt sie gefangen, ist Objekt brüderlich zärtlich formender, fordernder Liebe. Goethes Narzißmus frappiert. Hinter seinen heiter-spielerisch verführenden Worten wird die Tragödie sichtbar. Schuldzuweisungen wären verfehlt. Es ist die Welt, die Goethe formt; liebend-patriarchalisch überträgt er das auf die Schwester. Wir können es verfolgen, in allen Briefen, sich steigernd bis zum Höhepunkt des dreizehnten und letzten Briefes. Da liegt die autoritäre Struktur bloß.

Andeutungen in dieser Richtung gibt es bereits im ersten Brief. »Liebes Schwestergen«, heißt es am 12. Oktober 1765, kurz nach der Ankunft in Leipzig. »Es wäre unbillig wenn ich nicht auch an dich dencken wollte. id est es wäre die größte Ungerechtigkeit die jemahls ein Student, seit der Zeit da Adams Kinder auf Universität gehen, begangen hätte; wenn ich an dich zu schreiben unterließe.« Zwei Monate später dann, am 6. Dezember: »Sey stoltz darauf Schwester, daß ich dir ein Stück der Zeit schencke die ich so nothwendig brauche.« Das Wort von der Zeit kehrt dann immer wieder. »Du hast Zeit dazu.« – »Schreibe bald und mehr wie du getan hast, schrieb ich dir nicht auch 3 halbe Bögen und habe weniger Zeit wie du …« – »Du schreibst immer so kurtze Briefe … Ich habe so viel zu thun und schreibe so lange Briefe.« Dann die Anweisung, wie er Cornelias Briefe »wünsche«: »lang, akkurat, voll der geringfügigsten Umstände«. Immer wieder kommt er darauf zurück. »Du hast nichts zu thun, da kannst du dich hinsetzen und zirkeln, ich aber muß alles in Eile thun.«

Vorwurf für Cornelias nicht selbstgewähltes Leben: die überflüssige Zeit, die sie, ins Haus gesperrt, hat, eine Auszeichnung. Und die Verkehrung: seine Zeit als Opfer, als Geschenk für sie. »Neige dich«, fährt er im Brief vom 6. Dezember fort, »für diese Ehre die ich dir anthue, tief, noch tiefer, ich sehe gern wenn du artig bist, noch ein wenig! Genug! Gehorsamer Diener. Lachst du etwann Närrgen, daß ich in einem so hohen Tone spreche. Lache nur.«

Und er gibt ihr die Erklärung. Kaum eineinhalb Monate ist der Sechzehnjährige da Student. »Wir Gelehrten«, schreibt er, »achten – was! Meinst du etwa 10 rh. nicht. Nein wir gelehrten achten euch andern Mädgen so – so wie Monaden. Warrlich seitdem ich gelernt habe daß mann ein Sonnestäubgen in einige 1000 teilgen teilen könne, seitdem sage ich, schäm ich mich daß ich jemahls einem Mädgen zugefallen gegangen binn, die vielleicht nicht gewußt hat, das es thiergen giebt, die auf einer Nadelspitze einen Menuet tanzen können.«

Wissen, aufregend und neu, Eindringen in bisher unbekannte Bereiche, führt zur Erhebung über das andere Geschlecht, diese Macht, einzig auf Grund der Männlichkeit erworben, wird unreflektiert zum verdienten Privileg, die davon Ausgeschlossenen sind die minderen Wesen, zu denen man sich hinabneigt. »Doch daß du siehst wie brüderlich ich handle«, schließt der Brief, »so will ich dir auf deine närrischen Briefe antworten.«

Der Bruder wird es nicht unterlassen, der Schwester immer wieder bewußtzumachen: »Ihr andern kleine Mädgen könnt nicht so weit sehen, wie wir Poeten.« Am 12. Oktober 1765. 1766, am Ende einer Abhandlung in einem Brief an Cornelia: »… diese Aufklärung ist nicht für Dich, sondern für einen Mann, der über diese Gegenstände und diese Vorkommnisse nachdenkt, der davon etwas hat.«

Warum schreibt er dann? Die Schwester ist das seit der Kindheit ihm vertraute weibliche Wesen. Hinter ihr stehen Freundinnen, Frankfurter Mädchen. Auch für sie sind die Briefe gedacht. »Ihr sollt mich auch lieb haben, und alle Tage wünschen: o wäre er doch bald bey uns.« Durch seine Schreiben möchte er anwesend sein, Einfluß nehmen. Immer wieder Grüße, Küsse, Komplimente....

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