2 Stärken
»Starkes gedeiht von selbst.«
Ovid (43 v. Chr.-17 n. Chr.), römischer Epiker
2.1 Bestleistung versus Mittelmaß
Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen. Die Schwächen werden gern umschrieben mit Begriffen wie z. B.: »Lernfelder«, »Entwicklungspotenzial«, oder »weniger ausgeprägte Fähigkeiten«. Das klingt zweifellos freundlich, trifft aber nicht unbedingt den Kern der Sache. Warum soll jemand Energie aufwenden, um seine Schwächen auszubügeln? Warum wird »Entwicklungspotenzial« ausgerechnet im Bereich der Schwächen gesehen? Derselbe Aufwand an Kraft und Motivation, investiert im Bereich der Stärken, führt zu deutlich besseren Ergebnissen, zu schnelleren Erfolgen und damit zu einem Flow1, den jeder von uns kennt und schätzt. Wenn etwas gut läuft, wir unsere Stärken einsetzen und das Gefühl des Gelingens haben, sind wir im Idealfall sogar in der Lage, andere Personen mitzureißen und am Entwicklungsfortschritt zu beteiligen.
Völlig anders sieht es im Bereich der Schwächen aus. Ein Beispiel: Schon als Kind hatte ich Schwierigkeiten, beim Singen den richtigen Ton zu treffen, und das hat sich bis heute nicht geändert. Versuche meiner Eltern, mir Instrumente nahezubringen, scheiterten kläglich. Ich war weder in der Lage, Noten in die richtigen Griffe und Töne umzusetzen, noch frei zu musizieren und dabei etwas Wohlklingendes zu erzeugen. Ich erinnere mich deutlich an das Gefühl, etwas nicht zu können, den damit verbundenen Frust, die Hürde, nach einiger Zeit mal wieder einen Versuch zu unternehmen, und – selbstredend – die Entwicklung von Vermeidungsstrategien. Warum sollte ich mich plagen und Zeit investieren für etwas, was anderen schon damals deutlich leichter fiel? Mir war klar, dass ich mit hohem Aufwand bestenfalls Mittelmaß werden würde. Und darauf hatte ich keine Lust.
Diese Erinnerungen sind noch heute, mehr als 50 Jahre später, sehr präsent. So ist aus den damaligen kindlichen oder jugendlichen, teilweise unbewussten Reaktionen allmählich die Erkenntnis entstanden, dass es richtig Spaß macht, in den Stärken zu leben und zu arbeiten.
Sie werden also in diesem Kapitel ein klares Plädoyer dafür finden, eigene Stärken zu reflektieren, die Stärken anderer Menschen bewusster wahrzunehmen und diese Erkenntnisse für Managementaufgaben zu nutzen.
2.2 Bedeutung von Stärken
Die Frage nach dem »Warum?« ist schnell beantwortet: Personen, die in ihren jeweiligen Stärken angesprochen und eingesetzt werden, fühlen sich wohl, erledigen ihre Arbeit motiviert und lernen schnell und mühelos dazu. Sie entwickeln sich persönlich weiter und erleben eine selbstverständliche Leichtigkeit in Bereichen, in denen sich andere schwertun.
Der Punkt ist, als Führungskraft damit professionell umzugehen. Das beginnt mit der Wahrnehmung von Stärken, ohne diese gleich zu bewerten. Das Unterbewusstsein reagiert hier schnell mit Abwehr, Neid oder Über- bzw. Unterlegenheitsgefühlen. Doch darum darf es nicht gehen. Wichtiger ist: Welche Stärken braucht ein Team, um die Arbeit erfolgreich zu erledigen? Welche Personen bringen welche Stärken ein? Und sind Sie als Führungskraft in der Lage, sowohl diese Stärken zu würdigen als auch Verständnis für die Unterschiedlichkeit der einzelnen Personen zu fördern? Es ist durchaus üblich, dass Mitglieder eines Teams sich vergleichen und gegenseitig mit Missgunst beäugen. Klarheit in der Kommunikation des Managers besteht in einem solchen Fall darin, die Aufgaben transparent zuzuteilen und diesen Vorgang allen gegenüber zu erläutern. Damit wird im Idealfall jede Person in ihren Stärken angesprochen. Wenn es die Führungskraft dann noch schafft, den Wert von Unterschiedlichkeit hervorzuheben, wird das den konstruktiven Umgang miteinander sehr fördern.
2.3 Modell der 10 Intelligenzen
Zur Erläuterung werde ich das Modell der »10 Intelligenzen« nutzen, welches in seinen Grundlagen von dem amerikanischen Psychologen Howard Gardner 1983 vorgestellt und in Deutschland u. a. von den Autoren Alexander Christiani und Frank M. Scheelen weiterentwickelt und mit Anleitungen zu praktischen Umsetzungen veröffentlicht wurde (Christiani, 2002).
Bis zu Gardners Erkenntnissen, also in den 1960/70er Jahren, galt vor allem bei amerikanischen Psychologen die Devise: »Try harder!« Gemeint war, dass jeder Mensch alles erreichen kann, wenn er nur fest genug will und unablässig immer wieder an sich arbeitet. Außer Acht gelassen wurden dabei sowohl die Erkenntnis des Römers Ovid, die oben angeführt wurde, als auch meine persönlichen Erfahrungen mit dem Musizieren. Wie erwähnt, sorgte Howard Gardner dann für Erläuterungen, die unumstößlich die Unterschiedlichkeit von menschlichen Veranlagungen belegten. Auslöser waren die Neurochirurgen, die systematisch Menschen untersucht haben, welche durch Unfälle Hirnschädigungen erlitten hatten. Es wurde deutlich, dass bestimmte Regionen des Hirns für bestimmte Fähigkeiten zuständig sind. Wird eine solche Region durch einen äußeren Einfluss wie z. B. einen Unfall geschädigt, ist dies mit dem Verlust der dort verankerten Fähigkeit verbunden. Zwar können andere Hirnbereiche einspringen und den Verlust teilweise ausgleichen, aber es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu einem vollständigen Ersatz reichen. So entstand das Modell der »10 Intelligenzen«, mit dem bestimmte Fähigkeiten trennscharf beschrieben werden ( Abb. 7).
Abb. 7: Die »10 Intelligenzen«
Nachfolgend werden die Definitionen vorgestellt und mit praktischen Beispielen aus dem Führungsalltag hinterlegt. Falls Sie dieses oder ein ähnliches Modell bereits kennen: Überspringen Sie einfach diesen Bereich und lesen das Kapitel 2.8, in dem es um die praktische Anwendung geht.
2.3.1 Sprachliche Intelligenz
Die »Sprachliche Intelligenz« bezeichnet ganz allgemein die Fähigkeit zum Umgang mit Sprache. Dazu gehören das gesprochene sowie das geschriebene Wort ebenso wie die Möglichkeit, schnell eine Fremdsprache zu lernen und sich im Ausland sprachlich sicher zu bewegen. Der bewusste Umgang mit Mundarten ist genauso kennzeichnend wie die Freude daran, mit gut gewählten Worten und lupenreiner Grammatik andere Menschen zu erreichen. Damit ist der Rahmen gesteckt für die Führungsaufgabe: Sie müssen als Manager nicht unbedingt das Sprachgenie sein, aber wenn Sie in Ihren Reihen eine solche Person haben: Geben Sie ihr die Möglichkeit, im Team oder nach außen hin zu reden, Ausarbeitungen zu verfassen oder mit ausländischen Partnern zu kommunizieren. Selbst wenn die fachlichen Inhalte im Schwerpunkt eher nicht bei dieser Person liegen: Manchmal ist Sprache extrem wichtig, und der Fachmann oder die Fachfrau sollte der sprachlich versierten Person zuarbeiten.
2.3.2 Logisch-mathematische Intelligenz
Die »Logisch-mathematische Intelligenz« ist die Freude daran, in komplexen Zusammenhängen zu denken, diese zu durchdringen und anderen verständlich zu machen. Haben Sie eine Vorstellung von »n-dimensionalen Räumen«? Dann dürfen Sie diesen Punkt für sich verbuchen. Aber es bleibt nicht bei der reinen Mathematik, sondern betrifft z. B. auch umfangreiche logisch aufgebaute Argumentationsketten oder die Analyse anspruchsvoller Prozesse in einem Unternehmen mit dem Ziel, diese zu automatisieren. IT-nahe Tätigkeiten bis hin zu Programmierung fallen in diese Kategorie. Für ein ingenieurwissenschaftliches Studium oder eine berufliche Tätigkeit in diesem Umfeld sollte diese Fähigkeit deutlich gegeben sein, sonst hält sich die Freude an der Arbeit in Grenzen.
2.3.3 Assoziativ-kreative Intelligenz
»Assoziativ-kreative Intelligenz« besteht ganz wesentlich aus ausgeprägter Wahrnehmung (ohne Bewertung!), der zunächst zweckneutralen Speicherung verschiedenster Sinneseindrücke sowie der Verknüpfung zu neuen, überraschend-ungewöhnlichen Ergebnissen. So ist ein kreativer Mensch z. B. in der Lage, anhand eines aktuell wahrgenommenen Geruchs über die Erinnerung an eine Farbe und die Aussage irgendeiner Person ein Werbeplakat zu entwerfen, auf das man mit logisch-strukturiertem Vorgehen niemals gekommen wäre. Kreative Menschen werden in Teams oft als störend...