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Das Leben nehmen

Suizid in der Moderne

AutorThomas Macho
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl536 Seiten
ISBN9783518752128
Altersgruppe12 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
»Der Selbstmord«, schrieb Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk, erscheint »als die Quintessenz der Moderne«. Und in der Tat: Nachdem der Versuch, sich das Leben zu nehmen, über Jahrhunderte als Sünde oder Ausdruck einer psychischen Krankheit betrachtet, in einigen Ländern sogar strafrechtlich sanktioniert wurde, vollzieht sich seit dem 20. Jahrhundert ein tiefgreifender Wandel, der zur Entstehung einer neuen Sterbekultur beigetragen hat. Der eigene Tod gilt immer häufiger als »Projekt«, das vom Individuum selbst zu gestalten und zu verantworten ist. Wer sich das Leben nimmt, will es nicht mehr nur auslöschen, sondern auch ergreifen und ihm neue Bedeutung geben.

Thomas Macho erzählt die facettenreiche Geschichte des Suizids in der Moderne und zeichnet dessen Umwertung in den verschiedensten kulturellen Feldern nach: in der Politik (Suizid als Protest und Attentat), im Recht (Entkriminalisierung des Suizids), in der Medizin (Sterbehilfe) sowie in der Philosophie, der Kunst und den Medien. Er geht zurück zu den kulturellen Wurzeln des Suizids, liest Tagebücher, schaut Filme, betrachtet Kunstwerke, studiert reale Fallgeschichten und zeigt insbesondere, welche Resonanzeffekte sich zwischen den unterschiedlichen Freitodmotiven ergeben. Seine Diagnose: Wir leben in zunehmend suizidfaszinierten Zeiten.

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<p>Thomas Macho, geboren 1952, war von 1993 bis 2016 Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Gegenwärtig leitet er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.</p>

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Leseprobe

Einleitung


»So erscheint der Selbstmord als die
Quintessenz der Moderne.«

Walter Benjamin1

1.


In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene und durchaus großformatige Charakterisierungen des gegenwärtigen Zeitalters publiziert worden. Ihnen zufolge leben wir in einer Zeit des Zorns und der Ungeduld,2 in einer Welt der Müdigkeit und Erschöpfung,3 der Beschleunigung und Akzeleration,4 der neuen Kriege und des Kampfs der Kulturen,5 in einer Gesellschaft der Angst,6 des Narzissmus7 oder der Unruhe.8 Auch die älteren Begriffe der Säkularisierung – neuerdings im Widerstreit mit der ebenfalls behaupteten Wiederkehr der Religionen –, der Postmoderne oder der digitalen Revolution sind keineswegs vom Tisch, wenn es darum geht, die Epochensignatur der Moderne zu beschreiben. Als einer der größten und folgenreichsten Umbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts müsste indes auch ein Wandel betrachtet werden, der zwar in verschiedenen Aspekten untersucht und diskutiert, aber noch selten in übergreifender Perspektive thematisiert wurde: die radikale Umwertung des Suizids. Viele Jahrhunderte lang wurde der Suizid als schwere Sünde, sogar als »Doppelmord« – nämlich an Seele und Körper –, als Verbrechen, das streng bestraft wurde, nicht allein durch Verstümmelung und Verscharrung der Leichen, sondern beispielsweise auch durch Beschlagnahmung des Familienvermögens, zumindest aber als Effekt des Wahnsinns und als Krankheit bewertet. Während der Suizid noch in der Antike mit Ehre assoziiert werden konnte, erschien er spätestens seit Beginn der Herrschaft der christlichen Religion als Schande und finales Versagen. In einem erst vor wenigen Jahren publizierten Brief an Carl Schmitt vom 27. April 1976 beklagte Hans Blumenberg, »dass wir die pagane Sakramentalisierung des Selbstmords in unerreichbare Ferne gerückt haben. Man muß da aber nicht nur an Seneca denken, sondern auch an Masada und Warschau. Am erstaunlichsten ist, dass dieser Zug der ›Modernität‹ noch nie sonst beschrieben worden ist.«9 Lediglich Walter Benjamin hatte bereits in seinen Baudelaire-Studien bemerkt, die Moderne stehe »im Zeichen des Selbstmords«, der »das Siegel unter ein heroisches Wollen« setze; der Suizid sei schlicht »die Eroberung der Moderne im Bereiche der Leidenschaften«.10

Die Frage nach dem Suizid ist ein zentrales Leitmotiv der Moderne. Seit dem Fin de Siècle, spätestens aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hat sich die radikale Umwertung des Suizids – einerseits als Prozess der Enttabuisierung, andererseits als Verbreitung einer emanzipatorischen »Selbsttechnik« – auf mehreren kulturellen Feldern vollzogen: als Protest in der Politik, als Strategie des Anschlags und Attentats in neueren Erscheinungsformen des bewaffneten Konflikts, als Grundthema der Philosophie und der Künste, in Literatur, Malerei und Film. Suizid und Suizidversuch wurden entkriminalisiert, im Vereinigten Königreich erst ab 1961; rechtlich liberalisiert wurden verschiedene Formen der Sterbehilfe und des assistierten Suizids in der medizinischen Praxis. Auch in den Wissenschaften vollzog sich eine Umwertung des Suizids. Die Drucklegung von Émile Durkheims Le Suicide von 1897, oft verglichen mit Sigmund Freuds Traumdeutung (1900), eroberte das Thema für die Sozialwissenschaften; kulturkritische Betrachtungen, wie sie noch Tomáš Masaryk, der spätere Präsident der Tschechoslowakei, mit Der Selbstmord als sociale Massenerscheinung der modernen Civilisation (1881) vorgelegt hatte, wurden zunehmend von Argumentationen verdrängt, die sich auf Statistiken und empirische Daten stützten. Durkheim unterschied vier elementare Typen des Suizids: den egoistischen, den altruistischen, den anomischen und den fatalistischen; und er formulierte eine Theorie des »sozialen Todes« als Korrelation zwischen Suiziden und den Bindungskräften einer Gemeinschaft. Zu den Pionieren der psychiatrischen Suizidforschung gehörte Jean-Étienne Esquirol, ein Schüler Philippe Pinels. In seinem Werk Des maladies mentales, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Die Geisteskrankheiten in Beziehung zur Medizin und Staatsarzneikunde (1838), unterschied er Suizide aus Leidenschaft und Suizide nach einem Mord, er bezog sich auf Jahreszeiten, Klima, Alter und Geschlecht als mögliche Ursachen eines Suizids, sowie auf Maßnahmen zur Vorbeugung und Therapie.11 Esquirol stützte seine Darstellung nur selten auf Zahlen, vielmehr vorrangig auf Fallgeschichten. Und in gewisser Hinsicht ist es bis heute dabei geblieben: Soziologen kommentieren Statistiken, Psychologen besprechen Fallgeschichten. Nur der Brückenschlag zwischen Statistik und Fallgeschichte will nach wie vor nicht recht gelingen.

Als eigenständige Disziplin wurde die Suizidforschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Noch 1938 beklagte der Psychiater und Psychoanalytiker Karl Menninger in Man Against Himself – ein Jahr vor dem Freitod Sigmund Freuds, der dabei von seinem Arzt und Freund Max Schur begleitet wurde12 – die wissenschaftliche Tabuisierung der Frage. Angesichts hoher Suizidzahlen

 

sollte man annehmen, daß ein weitverbreitetes Interesse an diesem Thema besteht, daß viele Untersuchungen und Forschungsprojekte im Gange sind, daß unsere medizinischen Zeitschriften und unsere Bibliotheken Bücher über das Thema enthalten. Dem ist nicht so. Es gibt Romane, Dramen, Legenden in Fülle, die sich mit Selbstmord befassen – Selbstmord in der Phantasie. Aber die wissenschaftliche Literatur darüber ist überraschend spärlich. Dies ist, wie ich meine, ein weiterer Beweis für das auf dem Gegenstand lastende Tabu, ein Tabu, das mit heftig verdrängten Emotionen zu tun hat. Die Menschen lieben es nicht, ernsthaft und realistisch über den Selbstmord nachzudenken.13

 

Im Jahr 1948 gründete der Psychiater und Individualpsychologe Erwin Ringel eine der weltweit ersten Einrichtungen zur Suizidprävention in Wien; damals hieß diese – unter dem Dach der Wiener Caritas angesiedelte – Beratungspraxis schlicht »Lebensmüdenfürsorge«. Sie hatte eine Vorläuferin: die »Lebensmüdenstelle« der »Ethischen Gemeinde Wien«, die 1928 von Wilhelm Börner gegründet und bis 1939 mit zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, darunter August Aichhorn, Charlotte Bühler, Rudolf Dreikurs oder Viktor Frankl, geführt wurde.14 1975 wurde Erwin Ringels »Lebensmüdenfürsorge« in ein zeitgemäßes und kirchenunabhängiges Kriseninterventionszentrum umgewandelt, das bis heute besteht.15 Die Differenz zwischen den beiden Begriffen »Lebensmüdenfürsorge« und »Krisenintervention« spiegelt einen Mentalitätswandel, der interpretationsbedürftig ist: »Lebensmüdigkeit« bezeichnet ja eine psychische Verfassung, die allmählich – am Ende eines langen Prozesses – erreicht wird und nur mehr schwer beeinflusst werden kann. Der Begriff »Krise« wurde dagegen schon in der griechischen Antike von der Gerichtssprache – krísis bedeutete ursprünglich die Entscheidung, das Urteil – in die ärztliche Terminologie eingeführt; als Krise galt der an bestimmten Tagen erreichte Zeitpunkt im Krankheitsverlauf, an dem eine Veränderung zur Genesung oder zum Tod eintritt. In diesem Sinne betonte Hippokrates im ersten Buch der Epidemien, dass »die Krisen zum Leben oder zum Tode führen oder entscheidende Wendungen zum Besseren oder Schlimmeren bringen werden«.16 In einer Krise kann interveniert werden, Fürsorglichkeit wird dagegen mit affektiver Zuwendung assoziiert. Der ältere Begriff zielte auf Personen und deren Betreuung, der neuere Begriff könnte hingegen viele Arten von heiklen Situationen – politische, ökonomische oder strukturelle Krisen als Entscheidungsmomente einer Entwicklung – betreffen. Offene Frage: Warum sind so viele Wörter mit dem Präfix »für« aus unserem alltäglichen Sprachschatz verschwunden oder haben pejorative Bedeutungsverschiebungen erlitten? Warum sind »Fürsorger« oder »Fürsprecher« so unbeliebt? Werden sie vielleicht mit Vormundschaft, Paternalismus und Entmündigung verknüpft?

Im Jahr 1960 wurde die International Association for Suicide Prevention (IASP) gegründet, 1968 die American Association of Suicidology (AAS) in den USA, vier Jahre später die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Während Erwin Ringel im deutschsprachigen Raum – als erster Präsident der IASP – eine führende Position einnahm, war es in den USA der klinische Psychologe Edwin S. Shneidman, der – als Mitbegründer des Los Angeles Suicide Prevention Center und von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1988 als erster Professor für Thanatologie an der University of California in Los Angeles – die Etablierung der Suizidologie als eigene Wissenschaft nachhaltig förderte. Zunächst reüssierte die Suizidologie freilich als therapeutische Fachdisziplin zur Prävention und Verhinderung von Suiziden. Zu dieser Orientierung hatten auch Ringels Forschungen über das »präsuizidale Syndrom« – mit den drei relevanten Merkmalen der Einengung, Aggressionsumkehr und Suizidphantasie – beigetragen. Aber wie können Motive oder Fragen verstanden und interpretiert werden, wenn vorrangig...

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