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Chillen unterm Sorgenbaum

Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen Ein verhaltens- und hypnotherapeutisches Behandlungsmanual

AutorAndrea Kaindl
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783849780999
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
'Alles im Kopf' nennt Andrea Kaindl ihr detailliert beschriebenes Manual für Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen, das kognitiv-verhaltenstherapeutische und hypnosystemische Interventionen zusammenführt. Kinder und Jugendliche erlernen damit Strategien und Einstellungen, die einen achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper in den Mittelpunkt stellen und Wohlbefinden und Freude in den Alltag zurückkehren lassen. Andrea Kaindl entwickelt aus den biologischen Grundlagen kindlicher Schmerzstörungen sowie deren Pathophysiologie griffige biopsychosoziale Schmerzmodelle. Für die Therapie chronischer Schmerzen beschreibt sie ein Programm, das mithilfe der beigefügten Arbeitsmaterialien direkt umgesetzt werden kann. Neben Anamnese und Psychoedukation umfasst es sechs therapeutische Einheiten sowie zwei Elternabende. Die Sitzungen können sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting durchgeführt werden. Jede Einheit enthält einen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Teil sowie eine inhaltlich darauf abgestimmte Trance. Schmerztagebücher und Fragebögen halten den Erfolg direkt nach Beendigung der Therapie sowie nach der Katamnese nach einem halben Jahr fest.

Andrea Kaindl, Dipl-Psych.; Fort- und Weiterbildungen in Hypnotherapie (M. E. G.), Psychoonkologie (Deutsche Krebsgesellschaft) und spezieller Schmerzpsychotherapie (Deutsche Schmerzgesellschaft), seit 2014 angestellt in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums Dritter Orden, München. Arbeitsschwerpunkte: Schmerzpsychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Psychosomatik, Psychoonkologie.

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Leseprobe

1   Grundlagen


1.1  Schmerz – was ist das?


Jeder Mensch kennt Schmerzen und hat sie im Laufe seines Lebens schon in unterschiedlichen Formen erfahren. Dennoch fällt es schwer, Schmerzen adäquat zu beschreiben und ihre Intensität zu messen – Schmerzen und die dadurch entstehenden Beeinträchtigungen sind ein hoch subjektives Erleben.

Dies spiegelt auch die Definition der International Association for the Study of Pain (IASP) wider: »An unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.« Die IASP weist darauf hin, dass jeder Schmerz subjektiv ist. Wir können auch Schmerzen empfinden, wenn keinerlei Gewebeschädigung vorliegt. Die Definition von Schmerz sollte also unabhängig von einer Noxe, einem pathogenen Stimulus, erfolgen. Auch wenn es in den meisten Fällen körperliche Ursachen gibt, sollte Schmerz immer als psychologischer Zustand begriffen werden (iasp-pain.org).

Jensen (2012) beschreibt die Verarbeitung von potenziellen Schmerzreizen beginnend in der Peripherie bis in verschiedene Re gionen des zentralen Nervensystems. Erst im Gehirn erhält der Schmerzreiz seine affektiven und emotionalen Komponenten, erst dort erfolgt die kognitive Bewertung und das Auslösen einer »Alarmreaktion«. Das Zusammenspiel all dieser Zentren in der sogenannten »Schmerzmatrix« erzeugt das subjektive Schmerzerleben, wie es in der Definition der IASP beschrieben ist (Jensen 2012, S. 24 ff.).

Die Verarbeitung der Schmerzreize auf den verschiedenen Ebenen des Nervensystems und der Einfluss psychologischer Faktoren darauf spielt eine entscheidende Rolle dabei, ob ein zunächst akuter Schmerz chronisch wird. Aus diesem Grund kommt den psychologischen Behandlungsverfahren eine so hohe Bedeutung in der Prävention und Therapie chronischer Schmerzen zu.

Das Ausmaß und die Formen chronischer Schmerzen im Kindesund Jugendalter sowie deren Behandlungsmöglichkeiten möchte ich im Folgenden detailliert darstellen.

1.2  Häufigkeit chronischer Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen


Chronische oder wiederkehrende Schmerzen sind unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland weit verbreitet.

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) aus dem Jahr 2007 befragte dazu die Eltern von 3- bis 10-jährigen Kindern (Fremdeinschätzung) und Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren (Selbstauskunft). So ergaben sich folgende Zahlen: 30,6 % der Kinder und 52,9 % der Jugendlichen litten unter wiederkehrenden Schmerzen. 54,1 % der Kinder mit wiederkehrenden Schmerzen waren deshalb beim Arzt gewesen, 36,7 % nahmen gegen die Schmerzen Medikamente ein. Unter den Jugendlichen mit wiederkehrenden Schmerzen waren 35,9 % beim Arzt gewesen, 46,7 % nahmen dagegen Medikamente ein (Ellert, Neuhauser u. Roth 2007).

Am häufigsten wurden dabei Kopf- und Bauchschmerzen genannt. Es ergab sich eine 3-Monats-Prävalenz für Kopfschmerzen bei den Kindern von 56 %, bei den Jugendlichen von 78 %. Die 3-Monats-Prävalenz für Bauchschmerzen betrug bei den Kindern 63 %, bei den Jugendlichen 60 %. Die Häufigkeit von Kopfschmerzen nahm mit dem Alter zu.

Albers und Kollegen (2015) berichten in einem Übersichtsartikel über die Prävalenzen primärer Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: »38 % bis 84 % der Kinder bzw. Jugendlichen berichten über Kopfschmerzen in den letzten drei oder sechs Monaten. (…) Häufige Kopfschmerzen (mindestens wöchentlich) werden von etwa 4 % bis 10 % der Kinder berichtet.« Die großen Differenzen in den Angaben der einzelnen Studien sind dabei auf methodische Unterschiede zurückzuführen. Es scheint allerdings valide Daten zu einem zeitlichen Anstieg der Kopfschmerzprävalenz für Kinder und Jugendliche zu geben (ebd., S. 602). Als Risikofaktoren werden Stress, Rauchen, Koffeinkonsum und dysfunktionale Muskelspannung genannt. »Interventionen sollten deshalb versuchen, diese Risikofaktoren zu minimieren« (ebd., S. 606).

Eine Studie zu den gesundheitlichen Belastungen von Münchner Gymnasiasten (Selbsteinschätzung mithilfe einer Beschwerdenliste) zeigte, dass 83,1 % der befragten Jugendlichen mindestens einmal im Monat unter Kopfschmerzen litten. Davon hatten 30,1 % der Befragten eine Migräne oder wahrscheinliche Migräne, während 68,5 % über Spannungskopfschmerzen oder wahrscheinliche Spannungskopfschmerzen klagten. Es ergaben sich höhere Kopfschmerzprävalenzen für Mädchen als für Jungen. Auch waren bei den Münchner Gymnasiasten die Kopfschmerzprävalenzen höher als bei anderen Stichproben von Jugendlichen (Milde-Busch et al. 2012).

Groß und Warschburger (2012) geben Prävalenzraten für wiederkehrende Bauchschmerzen von bis zu 30,8 % an. Mädchen sind dabei häufiger betroffen als Jungen. Wahrscheinlich gibt es zwei Altersgipfel in der Häufigkeit funktioneller Bauchschmerzen: Die Zahlen sind am höchsten für das Alter zwischen 4 und 6 Jahren und zwischen 7 und 12 Jahren (Gulewitsch et al. 2012).

Muskuloskelettale Schmerzen gehören ebenfalls zu den häufigen Schmerzerfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Dabei leiden jüngere Kinder unter 10 Jahren häufiger unter Schmerzen der unteren Extremitäten (Prävalenz 36 %), während Jugendliche häufiger über Rückenschmerzen klagen (Prävalenz 49 %) (Haas 2009).

Eine Längsschnittstudie von van Gessel und Kollegen (2011) an 9- bis 14-Jährigen beobachtete den Verlauf der Schmerzsymptome über 4 Jahre: Während zu Beginn der Erhebungen mehr als 53 % der Kinder zwischen 9 und 14 Jahren unter wiederkehrenden Schmerzen in Kopf, Bauch oder Rücken litten, waren es zum letzten Messzeitpunkt schon 62 % der Kinder. Je älter die Kinder waren, desto höher war das Risiko für wiederkehrende Schmerzen. Mädchen litten nicht nur häufiger an Schmerzen als Jungen, die Schmerzintensität steigerte sich bei ihnen auch stärker. Kinder, die Schmerzen in mehreren Körperbereichen hatten, fühlten sich durch die Kopfschmerzen am meisten beeinträchtigt.

Ungefähr 3 % aller Kinder und Jugendlichen sind von chronischen Schmerzen so geplagt, dass es zu massiven Beeinträchtigungen hinsichtlich des Schulbesuchs, der Freizeitaktivitäten und Sozialkontakte kommt. Dazu leiden diese Patienten häufig zusätzlich unter Schlafstörungen und Erschöpfung oder auch emotionalen Problemen (Zernikow et al. 2012).

Die Autoren der KiGGS-Studie ziehen die Schlussfolgerung, »dass Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen ein ernst zu nehmendes Problem darstellen« (Ellert, Neuhauser u. Roth 2007). Sie stellen deshalb die Frage, »wann (…) Chronifizierungen beginnen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Präventionsarbeit mit Kindern ergeben« (ebd., S. 717).

Da Kinder und Jugendliche am häufigsten unter chronischen sogenannten primären Schmerzen (Kopf-, Bauch- und muskuloskelettalen Schmerzen) leiden, werden diese in den nächsten Abschnitten genauer betrachtet.

1.3  Primäre Kopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter


Wie aus den oben angeführten Studien ersichtlich ist, sind Kopfschmerzen weitverbreitet unter Kindern und Jugendlichen. Bei der Bestimmung der Prävalenz wird allerdings häufig nicht unterschieden, ob es sich dabei um primäre oder sekundäre Kopfschmerzen handelt. Primäre Kopfschmerzen gelten als eigenständige Erkrankung, während sekundäre Kopfschmerzen Symptom einer anderen zugrunde liegenden Störung, z. B. akuter oder chronischer Infekte, Verletzungen, Fehlsichtigkeit oder orthopädischer Probleme, sind. In der klinischen Praxis ist die Diagnostik primärer Kopfschmerzen deshalb immer auch eine Ausschlussdiagnostik. Die genaue Anamnese hat eine besonders große Bedeutung. Die International Headache Society (IHS) gibt Richtlinien zur Klassifikation primärer Kopfschmerzen an. Dazu gehören bei Kindern vor allem die Migräne und Kopfschmerzen vom Spannungstyp, während andere Kopfschmerzformen im Kindes- und Jugendalter nur untergeordnete Bedeutung haben (Gaul 2015).

1.3.1  Symptomatik, Pathophysiologie und Therapie von Migräne

Julia ist 17 Jahre alt, lebt mit beiden Eltern und ihrem jüngeren Bruder zusammen und besucht die 12. Klasse des Gymnasiums. Sie ist eine sehr gute und beliebte Schülerin, die sich für vieles interessiert. Nach dem Abitur möchte sie Psychologie studieren.

In ihrer Freizeit engagiert sie sich in der Jugendarbeit bei den Pfadfindern, wo sie einmal pro Woche eine Gruppenstunde für Jüngere anbietet und Vorstandsfunktonen in ihrem Pfadfinderstamm übernimmt. Seit dem Herbst 2015 hilft sie im Flüchtlingswohnheim ihres Wohnortes und organisiert dort die Kinderbetreuung während der Deutschkurse für die Erwachsenen. Schon seit vielen Jahren hat sie Klavierunterricht, sie übt regelmäßig und gern.

Julia bezeichnet sich selbst als »Perfektionistin« und als »harmoniesüchtig«: Konflikte in Familie und Freundeskreis belasten sie sehr.

Ihre erste Migräneattacke hatte sie im Alter von...

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