Abzeichen H für Handlungsorientierung
„Es ist außerordentlich schwierig und anstrengend, sich der inneren und äußeren Ablenkungen voll bewusst zu werden; doch nur durch das Verstehen ihrer Natur und ihrer Wirkungsweise und nicht, indem man sie ablehnt, findet man jene umfassende Konzentration.“
Krishnamurti
Das Abzeichen H für Handlungsorientierung möchte ich mit folgender Mentalübung einleiten:
Atmen Sie tief durch und schließen Sie die Augen. Sie konzentrieren sich auf Ihren Atem. Sie spüren, wie die Luft in Ihre Lungen einfließt und ganz langsam wieder Ihren Körper verlässt. Auf diesen Ablauf konzentrieren Sie sich bitte mindestens fünf Mal, wobei Sie Ihre Augen geschlossen halten und die Augäpfel leicht um circa 20 Grad nach oben drehen. Dann zählen Sie langsam rückwärts von 5 zu 1. Jetzt sind Sie entspannt und können sich wahlweise in folgende Situationen hineindenken:
Sie stehen vor einem Publikum mit etwa 20 Kollegen und müssen eine Präsentation machen. Oder Sie sind auf einem Elternabend und müssen ein Projekt vorstellen, welches die Mitarbeit der anderen Eltern erfordert. Die Thematik ist Ihnen sowohl bei der Präsentation als auch bei dem Projekt bekannt und Sie haben die Fakten auf einem Papier stehen. Egal für welche Situation Sie sich entscheiden, Sie müssen mit Zwischenfragen aus dem Publikum rechnen, die von Ihnen spontan zu beantworten sind. Bitte achten Sie genau auf Ihre Gedanken, Gefühle und auf Ihre körperlich anklingenden Reaktionen. Beobachten Sie sich selbst ganz genau und notieren Sie sofort nach der Übung Ihre Eindrücke.
Eindrücke:
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Was fällt Ihnen auf? Wie viele Ihrer Beobachtungen beziehen sich auf das tatsächliche Thema und wie viele auf „Nebenschauplätze“? Mit Nebenschauplätzen meine ich Überlegungen wie: „Was denken die Zuhörer?“, „Wie komme ich an?“ bis zu „Wie sitzt mein Haar?“
Stellen Sie sich Ihr Gehirn vor, welches mit einer Aufgabe beschäftigt ist. In unserem Beispiel ist es das Thema. Dieses Thema kann vollkommen vielseitig sein. Es könnte die oben in der Mentalaufgabe angeführte Präsentation oder Projektvorstellung sein, es könnte eine beliebige Rede sein oder auch einfach nur die Teilnahme an einer regen Diskussion. Diese Darstellung können Sie auf alle Alltagssituationen beziehen, in denen Sie sich verbal ausdrücken sollen.
Ihr Gehirn arbeitet an dem Thema, welches Sie den Zuhörern vermitteln sollen. Wenn nun die oben angeführten Nebenschauplätze mit den entsprechenden Fragestellungen dazukommen, dann beginnt unser Problem. Wie Sie dann erkennen können, ist das Gehirn geteilt. Für Sie bedeutet das, dass Sie NICHT mehr mit dem ganzen Kopf am Thema sind, sondern nur noch die halbe Kraft zur Verfügung haben. Die andere Hälfte beschäftigt sich intensiv mit der Lage, in der Sie sich gerade befinden. Hier sind selbstverständlich auch einfache Feststellungen gemeint, wie z.B.:
„Jetzt stehe ich hier und alle schauen mich an.“
„Ob die wohl mitmachen werden?“
„Die schauen alle grimmig.“
„Ich will das alles gar nicht!“
„Ich weiß gar nicht, wie ich auf die Zuhörer wirke.“
„Was denken die über mich?“
„Hätte ich mich mal besser nicht darauf eingelassen!“
Diese Reihe an typischen Gedankengängen können Sie beliebig aus Ihrer eigenen Erfahrung ergänzen und möglicherweise finden Sie auch noch vergleichbare Sätze in der eigenen Sammlung der aufgeschriebenen Eindrücke. Sie möchten eine freie Rede optimal präsentieren, arbeiten aber nur mit dem halben Gehirn an dem Inhalt, den Sie den Zuhörern vermitteln wollen. Wie soll das gehen?
Ihr persönlicher Anspruch an sich selbst ist hoch. Sie vergleichen Ihre Leistung mit der beobachteten Leistung anderer Redner. Sie haben die große Sorge, einen Blackout zu erleiden und sich zu blamieren, aber Sie leisten sich den Luxus, nur mit einem halben Gehirn zu arbeiten. Wie soll Ihnen denn da eine passende Antwort für die Zwischenfragen einfallen? Falls Sie sich dann auch schon beim Aufrufen des Fragenden Gedanken machen wie: „Hoffentlich fragt er jetzt nichts Kompliziertes.“ Oder „Was mache ich, wenn ich die Frage nicht beantworten kann?“, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie auch tatsächlich an solch einer Frage scheitern. Sie würden nie mit gutem Gefühl Ihr Auto von einem Mechaniker reparieren lassen, der nebenbei noch die Zeitung liest. Da würde doch ganz schnell ein Zweifel in Ihnen aufkommen, ob der Mechaniker das auch alles so richtig macht und nichts vergisst. Genauso laufen Sie große Gefahr, etwas zu vergessen oder den Anschluss zum Thema zu verlieren, wenn Sie sich durch innere Dialoge oder Fragen vom Präsentationsthema ablenken lassen.
Es gibt Studien aus dem Bereich des Sports, die diese Zusammenhänge sehr deutlich machen. Eine dieser Studien beschäftigt sich mit Tennisspielern, die bei Spielbeginn vollkommen in ihrer Handlungsorientierung sind und sich einfach nur auf die Handlung, sprich das Tennisspielen, konzentrieren. Irgendwann gerät einer der Spieler ins Hintertreffen und zeitgleich in eine Lageorientierung. Das bedeutet, er beginnt über seine Lage, in der er sich befindet, nachzudenken: „Wie viele Punkte fehlen mir?“, „Kann ich das noch aufholen?“, „Was passiert, wenn ich dieses Spiel verliere?“ usw. Er konzentriert sich nicht mehr auf die Handlung, sondern ist mit einem Teil seiner Konzentration in der Lageorientierung. In den Videosequenzen, die verschiedene Tennisspieler dieser Studie zeigen, kann man ein weiteres Abfallen der Leistung beobachten. Die Spieler, die weiter in der Lageorientierung verweilen, werden das Spiel ganz klar verlieren. Nur die Tennisspieler, die es schaffen, durch eine höhere Konzentrationsleistung aus der Lage wieder in die reine Handlungsorientierung zu kommen, können das Ruder noch mal herumreißen und das Match doch noch gewinnen. In den einzelnen Videos der Spieler ist es tatsächlich möglich, die einzelnen Wendepunkte im Spielverlauf zu erkennen.
Kommen wir wieder auf unsere Thematik der freien Rede oder der Argumentation zurück. Sie kennen nun das Problem, mit dem wir Menschen aufgrund unseres Gehirns leben müssen. Dort, wo die Aufmerksamkeit hingeht, da findet auch die Arbeit des Gehirns statt. Wird diese Aufmerksamkeit geteilt, werden die Ergebnisse der Arbeit auch nur entsprechend mager ausfallen.
Verschärft wird diese Tatsache noch durch den Faktor der Emotion. Nehmen wir einmal an, dass Sie in einer Diskussion von einem anderen Teilnehmer beleidigt wurden. Bei Ihnen kommt Wut hoch. Oder Sie reagieren mit Traurigkeit über diese Bemerkung. In diesen Momenten wird das Gehirn in unserem Schaubild mit Emotionen geflutet, was zur Folge haben kann, dass sich die Teilungslinie komplett aus dem Schaubild schiebt, und zwar zugunsten der Lage. Das Thema ist dann komplett aus dem Gehirn draußen und Sie befinden sich nur noch in der Lageorientierung. Wahrscheinlich führt das bei Ihnen dann zum gefürchteten Blackout!
Im Alltag kennen Sie sicherlich die Situation, dass ein Ausspruch Sie trifft und Sie zunächst nichts erwidern können. Sie sind einfach sprachlos über diese Unverschämtheit, fühlen sich tief getroffen oder gedemütigt. So gerne würden Sie Demjenigen oder Derjenigen eine passende Antwort präsentieren, nur leider ist Ihr Kopf leer und Ihr Mund öffnet sich noch nicht einmal. Etwas später sitzen Sie im Auto auf dem Heimweg und es fallen Ihnen circa 100 Antworten ein, die alle sehr passend gewesen wären. Keine dieser Antworten ist so komplex, dass Sie nie darauf gekommen wären. Nein, es sind einfache Worte, die aber gesessen hätten! Kommt Ihnen diese Situation bekannt vor?
Das ist der gefühlte Alltag mit der Handlungs- und Lageorientierung! Kaum haben Sie den Schauplatz gewechselt, Ihre Emotionen wieder etwas geglättet, schon fallen Ihnen die notwendigen Antworten ein! Sogar mehrere Antworten sprudeln aus Ihrem Kopf!
Worin liegt die Lösung? Sie müssen lernen, mit der Funktion Ihres Gehirns umzugehen. Beginnen Sie in der nächsten Situation, die der oben beschriebenen ähnelt! Konzentrieren Sie sich auf Ihren inneren Dialog. Halten Sie dieses innere Gespräch, in dem Sie sich über das Verhalten Ihres Gegenübers entrüsten, minimal. Sagen Sie sich SOFORT selbst, dass Sie später beleidigt, wütend oder traurig sein können und konzentrieren Sie sich auf das vor Ihnen ablaufende Gespräch. Wenn Sie den Anschluss verlieren, dann haben Sie verloren! Natürlich benötigen Sie dafür Übung, aber allein die Tatsache sich darüber im Klaren zu sein, wann Ihr Gehirn halbiert wird und dass nur ein Entgegenrudern Sie rettet, macht bereits einen Zugang zur Veränderung frei.
Sie dürfen...