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E-Book

Wenn die Sonne zerbricht

Das Rätsel Schizophrenie

AutorChristopher Bollas
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783608191806
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
In diesem Buch schildert der erfahrene Psychotherapeut Christopher Bollas seine Begegnungen mit schizophrenen Patienten. Er erläutert Ursachen, Entwicklung und Verlauf der Schizophrenie und führt uns auf diese Weise behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen an das Rätsel dieser tückischen Erkrankung heran. Den Schlüssel im Umgang mit schizophrenen PatientInnen - und sogar zur Heilung - sieht er im intensiven Gespräch und dem persönlichen Kontakt mit dem Erkrankten. - Effektiv und human: Therapie statt Tabletten - Bollas ist einer der herausragenden Denker der gegenwärtigen Psychoanalyse Nach wie vor ist die Schizophrenie eine mysteriöse und schreckliche Erkrankung. Die geläufigen Therapiemethoden können genauso entmenschlichend sein wie die Störung selbst. Bollas entwickelt eine innovative und einfache Methode der Behandlung Schizophrener. Damit macht er all denen Hoffnung, die bereits als hoffnungslos abgeschrieben worden sind. Sein Ansatz beruht auf seinen langjährigen Erfahrungen als Psychoanalytiker und ist ebenso einfach wie innovativ. Schizophrenie neu denken meint, sich auf die Gedankenwelt der Patienten einzulassen, indem TherapeutInnen, aber auch Angehörige lernen, deren Sprache zu verstehen, sie zu enträtseln. Den Schlüssel im Umgang mit schizophrenen PatientInnen - und sogar zur Heilung - sieht er im intensiven Gespräch und dem persönlichen Kontakt mit dem Erkrankten. Dieses Buch richtet sich an - PsychoanalytikerInnen - PsychotherapeutInnen - Menschen, die beruflich mit Schizophrenen zu tun haben - Angehörige schizophrener PatientInnen - PhilosophInnen, TheologInnen und andere an existentiellen Fragen Interessierte »In diesem spannenden, eleganten und anregenden neuen Buch nimmt Christopher Bollas den Leser mit auf eine persönliche Odyssee durch das Land der Schizophrenie. In einer Zeit des biologischen Reduktionismus erinnert uns Bollas daran, dass niemand, dem wir in unserer täglichen Arbeit begegnen, für einen anderen Menschen völlig unerreichbar ist.« Glen O. Gabbard, M.D., Direktor der Psychiatrischen Klinik am Baylor-Colleg in Houston, Lehranalytiker und Träger des Adolf-Meyer-Awards »Christopher Bollas hat ein wunderschönes, humanes und tief bewegendes Buch geschrieben. Es erzählt uns nicht nur über die Welt der Schizophrenie, sondern auch darüber, was es für uns alle bedeutet, menschlich zu sein und nicht zu verängstigt zu sein, um in einer Welt voller Zufallsereignisse zu leben. Seine Geschichten über die therapeutische Arbeit veranschaulichen die geduldige Anstrengung, die mit dem Respekt vor einer anderen Person verbunden ist, und bieten in der Tat ein Paradigma der Liebe.« Martha C. Nussbaum, University of Chicago »Ein außergewöhnlicher Blick auf eine verstörende Krankheit und die Methoden eines erfahrenen Therapeuten, der seinen Beruf mit Leib und Seele ausübt.« Publishers Weekly »Eine höchst aufschlussreicher, schlüssiger und wertvoller Bericht - für Fachleute und Laien gleichermaßen nützlich und verständlich.« Kirkus Review

<p>Christopher Bollas, PhD und Prof. für Englische Literatur, ist einer der führenden zeitgenössischen Psychoanalytiker. Seine psychoanalytische Ausbildung machte er in London bei Kapazitäten wie Bowlby, Heimann, Rosenfeld und Sandler. Er ist Mitglied der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, lebt und arbeitet jetzt in privater Praxis in Santa Barbara, Kalifornien.</p>

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Leseprobe

Hände an die Wand


In den 1960er Jahren lag das East Bay Activity Center an einem Hang in Oakland, Kalifornien, nur ein paar Hundert Yards unterhalb der hoch aufragenden Sphinx eines Mormonentempels; seine fahlgrünen Bauwerke waren von den gnadenlosen Winden verwittert, die die See in die Bay Area trieb. Wenn die Kinder das Vordertor durchquerten, lagen die Werkstatt links, die Klassenzimmer und Verwaltungsräume rechts von ihnen. Geradeaus verlief ein breiter Fußweg zu den Spielfeldern, von wo aus sie in der Ferne das erschreckend gleißende Weiß von San Francisco sehen konnten – eine Ikone, die an Macht und Erfolg des Zuges nach Westen erinnerte.

Egal, ob die Kinder nun aus Freude auf das Feld hinausrannten oder dorthin hetzten auf der Flucht vor irgendeinem Dämon, der ihnen auf den Fersen war, ergriff sie doch gelegentlich überraschend das Panorama dort drüben, eine spektakuläre Vision dessen, was für sie möglich sein könnte. Als Vergegenständlichung einer so weit entfernten Welt ragte sie empor wie eine Utopie, die nur wenige je erreichen könnten.

Die Schule begann morgens gegen neun und endete gegen zwei Uhr am Nachmittag. Den Kindern, alle im Alter zwischen fünf und zwölf, war ein Bezugstherapeut oder Berater zugewiesen, darüber hinaus kannten das gesamte Personal und die Kinder einander. Es gab etwa dreißig Kinder, sieben Vollzeitkräfte und viele in Teilzeit (meist Studenten der Universität von Kalifornien in Berkeley) zur zusätzlichen Betreuung der Kinder. Ich war dreiundzwanzig, frisch gebackener Berkeley-Absolvent mit einem Abschluss in Geschichte, und stürzte mich in die zweijährige Arbeit mit psychotischen Kindern, in den Strudel klinischer Praxis, eine Taufe mit tiefgreifenden und nachhaltigen Folgen.

Jeder Tag begann mit derselben Routine. Die meisten Mitarbeiter standen an der Seite des großen Eingangstors zur Schule, da, wo die Eltern ihre Kinder absetzten, und beobachteten das Kind, für das sie zuständig waren. Jedes kam auf eine andere Art und Weise über den Eingangsweg.

Anthony klammerte sich an die Außenseite des Zauns, und sein Therapeut sprach durch den Maschendraht zu ihm und brachte ihn schließlich dazu, die unsichtbare Linie zum Schulgelände zu überqueren.

Tommy stand am Eingang. Wenn es ihm gut ging, vollzog er so etwas wie eine visuelle Überwachung, als inspiziere er die Institution in Vorbereitung auf eine Art Bericht. Wenn es ihm nicht gut ging, beugte er seine geballte Faust in einer ruckhaften Pendelbewegung vor und zurück, begleitet von einem surrenden Geräusch, rannte dann auf das Feld zu und verschwand um die Ecke. Sein Therapeut sagte immer: »Hey du, Tommy«, und stellte sich seitlich hin, sodass Tommy an ihm vorbei auf das Feld rennen konnte. Es dauerte immer einige Minuten, bis die Uhrenbewegung langsamer wurde und Tommy zum Sprechen überging.

Ich war zuständig für ein kleines polnisches Kind namens Nick. Wie alle Therapeuten lernte ich, dass es wichtig war, darauf zu achten, wie er aus seinem Auto stieg, denn damit konnte ich bereits ein Gespür dafür bekommen, was das wohl für ein Vormittag werden würde. Wenn er mit angespanntem Lächeln und zwinkernden Augen auftauchte, wusste ich, dass er beim Überschreiten der Türschwelle hochrennen, mich gegen das Schienbein treten, anspucken und dann sofort ein Kind in der Nähe angreifen würde, wenn ich nicht gerade noch rechtzeitig vorher seine Ellbogen zu packen kriegte. Ich lief dann mit ihm zum Feld, drehte mich rasch nach rechts, ließ mich gegen »unsere Mauer« zu Boden fallen und hielt ihn mit meinen Armen fest.

Wenn er erst einmal saß, gab er seinen Widerstand auf. Er redete dann endlos davon, wen er zusammenschlagen würde und warum, und dass ich ihn nicht stoppen könnte. Andere Male, wenn er ohne das angespannte Lächeln und Augenblinzeln, aber mit flatternden Händen aus dem Auto stieg, wusste ich, dass er sich beim Eingang nach links drehen und versuchen würde, den Werklehrer zu attackieren, der Nicks Schläge im Vorbeirennen schon gewohnt war.

An manchen Tagen verließ er das Auto mit gerunzelter Stirn, blickte sich um und drehte sich einige Male. Dann wusste ich, dass er wahnsinnig verschreckt war und mich brauchte, um ihn sofort ins Schulgebäude zu bringen. Dort verstaute er seine Lunchbox an ihrem speziellen Platz und musste dann Larry suchen.

Larry war ein bemerkenswertes Kind. Er war für einen Zehnjährigen ungewöhnlich groß und hatte lange blonde Haare, die in alle Richtungen standen, was irgendwie eine unstete Atmosphäre entstehen ließ. Er betrieb in der Schule eine kontinuierliche Comic-Book-Version des Lebens. Morgens kam er gewöhnlich auf ein Kind zu, das dazu auserkoren war, an diesem Tag in eine Comicfigur verwandelt zu werden, leckte an seinem Zeigefinger und berührte mit ihm sanft die Stirn des Kindes. Es war wie ein religiöser Moment, und ich sah nie, dass jemand versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. Die Kinder wussten, dass er sie verzaubert hatte, und fanden für gewöhnlich bald heraus, was er vorhatte. Er sagte: »Das ist der launische Finger des Schicksals!«

Auf diese Weise wusste Nick, dass Larry ihm entweder auf Kosten eines anderen Kindes einen guten Tag vergönnt oder ihn zur Verbannung in irgendeine scheußliche Situation geschickt hatte. Im letzteren Falle war die Frage: Könnte Nick überleben, wenn er den Tag über im Center blieb?

Die Therapeuten am EBAC brauchten Zeit, um aus den kryptischen Zeichen der Kinder deren geistigen Zustand zu entschlüsseln. Es war nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Es bedeutete, ihre Körpersprache zu lesen, zu lernen, dass simple Gesten Teil eines individuellen Zeichensystems waren, und dann irgendwie die körperlich ausgedrückten Gedanken in Sprache zu übersetzen, um ihnen zu helfen, ihre ganz besonderen Ängste durchzustehen. Es ging darum, sie aufzufangen, bevor sie auseinanderfielen und zusammenbrachen, denn wenn das passierte, mussten sie normalerweise sofort nach Hause. Wir alle verstanden eine Menge Dinge falsch. Die Kinder waren alle sehr verschieden voneinander, genauso wie wir anderen auch, und es gab keine vorgefertigten Strategien, um ihnen beizustehen. Ihre Reaktionen auf die Welt waren ihre Art, uns zu zeigen, wer sie waren.

Bei der Arbeit mit Nick verstand ich allmählich, was der Psychoanalytiker Victor Tausk als den »Beeinflussungsapparat« des Schizophrenen beschrieben hatte.1 Nick sagte immer: »Ich muss die Klammern richtig setzen.« Er erzählte mir von dem Pendel in seinem Schlafzimmer, das wie bei einer Uhr vor- und zurückschwang. Wenn es gut lief, vollendete es seine tägliche Runde ohne Unfall. Wenn es nicht klappte, warf es einen Dominostein um, was für Nick hieß, dass die Dinge außer Kontrolle waren.

Ein paar Mal, wenn Nick auseinanderfiel, mussten wir seine Eltern anrufen, damit sie ihn holen und nach Hause zu seinem »Pendel« bringen konnten, und er sich wieder einkriegen konnte. Er sprach dann kurz auf Polnisch mit seinen Eltern am Telefon, und es dauerte nur Minuten, bis ein Auto an der Schule auftauchte und Nick hineinsprang.

Häufiger verlor er im Center die Kontrolle über sich und griff ein anderes Kind oder einen Mitarbeiter an. Um den Angriff zu stoppen, schlang ich jedes Mal meine Arme um Nick und hielt ihn am Boden fest, – er war fast elf und nur knapp fünfzehn Zentimeter kleiner, aber schwerer als ich – und ich hatte das Gefühl, dass wir uns Körper an Körper gemeinsam einander bewusst wurden. Da hatte ich dann schon regelmäßig seine Tritte und Spuckattacken ertragen, aber wenn wir draußen im Gras an das Gebäude gelehnt saßen, manchmal anderthalb Stunden lang, war ich buchstäblich beeindruckt von seinem Körper. Und er war beeindruckt von meinem. Ich konnte fühlen, wie mein Halt ihn ruhiger machte.

Nach seinen körperlichen Angriffen und wenn ich ihm festen Halt gab, änderte sich seine Art zu reden. Wenn er morgens durch das Tor hereinkam, gab er staccatohafte Statements von sich und kommunizierte oft durch ängstliches Augenblinzeln, flatternde Hände oder ein erstarrtes Lächeln. Sein Körper drückte schreckliche Angst aus. Aber nachdem ich ihn eine Zeit festgehalten hatte, schien seine Stimme ganz natürlich aus dem Körperrhythmus aufzutauchen, als müsste er sie zuerst im Körper entdecken.

Als Nick an das EBAC kam, war er ein klassischer Autist. Erst nach einigen Jahren fing er an, zu sprechen. Zu Beginn meiner Arbeit mit Nick erklärte mir die klinische Direktorin vom EBAC, Frankie, dass er in seiner »symbiotischen...

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