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Wir müssen leider draußen bleiben

Die neue Armut in der Konsumgesellschaft

AutorKathrin Hartmann
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783641073084
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Solidarität war gestern - Leben in einem gespaltenen Land
Immer mehr Bürger in Deutschland sind vom wirtschaftlichen Reichtum des Landes ausgeschlossen. Nicht nur Arbeitslose oder Rentner, auch viele Menschen, die sich in einer Endlosspirale von Billigjobs und Zeitarbeit befinden. Früher konnten sie sich nicht nur der sozialstaatlichen Unterstützung, sondern auch einer gewissen Solidarität sicher sein. Doch damit ist es nun vorbei. Wer nicht mehr mitkommt in unserer Wirtschaft, ist selber schuld. Reflexhaft werden ihm Bildung, soziale Kompetenz oder gar der Arbeitswille abgesprochen. Die Intellektuellen gewöhnen sich an, die Verlierer der entfesselten Konkurrenz nach ästhetischen Kriterien ('Billigkonsum' und 'Unterschichten-TV') abzuurteilen. Die abstiegsbedrohte Mittelschicht übernimmt diese Sicht. Dabei ist die Armut - die heute natürlich ein anderes Gesicht hat als früher - längst in dieser Mitte unserer Gesellschaft angekommen.

Kathrin Hartmann, geboren 1972 in Ulm, studierte in Frankfurt/Main Kunstgeschichte, Philosophie und Skandinavistik. Nach einem Volontariat bei der »Frankfurter Rundschau« war sie dort Redakteurin für Nachrichten und Politik. Von 2006 bis 2009 arbeitete sie als Redakteurin bei »Neon«. 2009 erschien bei Blessing 'Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt.', 2012 erregte ihr Buch über die neue Armut - 'Wir müssen leider draußen bleiben' - großes Aufsehen. Kathrin Hartmann lebt und arbeitet in München.'Die grüne Lüge' (2018) wurde sowohl als Film (zusammen mit Regisseur Werner Boote) wie auch als Buchveröffentlichung ein großer Erfolg. Kathrin Hartmann lebt und arbeitet in München. Sie schreibt regelmäßig für den 'Freitag' und die 'Frankfurter Rundschau' und 'Dogs'.

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Leseprobe

»Wenn sich niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten; wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen; wenn niemand wahrnähme, was wir tun; wenn wir von allen geschnitten und als nicht existierend behandelt würden, dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste körperliche Qual eine Erlösung wäre.«

William James, US-amerikanischer Psychologe, 18901

1. Kultivierter Hass

Warum die Konsumgesellschaft ihren Bestand durch Ausgrenzung sichert und die Mittelschicht sich nach oben orientiert, während sie nach unten tritt

Der großzügige Flur der Chefetage sieht aus wie eines dieser kreativ eingerichteten Lofts, die man aus Lifestyle-Magazinen kennt. Auf einem schicken Sideboard steht eine Espressomaschine, vor einer Wand mit Mustertapete ein helles Sofa, dazu weiß glänzende Möbel. Eine Mischung aus Lounge und Design-Wohnzimmer. Die Fotografen bauen ihr Equipment auf, in Kürze beginnt mein Interview mit der deutschen Sprecherin eines multinationalen Konzerns mit Milliardenumsatz. Zuvor plaudern wir in entspannter Wohnzimmeratmosphäre. Ich erzähle von der Arbeit an diesem Buch und darüber, dass ich bei den Tafeln recherchiere, die sich zum Ziel gesetzt haben, überschüssige Lebensmittel aus Supermärkten an Bedürftige zu verteilen. »Interessant«, findet die Pressesprecherin, darüber mache sie sich auch Gedanken: »Ich überlege ja oft, was man machen könnte, damit die Leute lernen, Essen zu schätzen.« Ja, sage ich und denke an Supermarktrampen, auf denen kistenweise Lebensmittel stehen, die aussortiert wurden, weil sie nicht gut genug scheinen. 20 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr weggeworfen; ein Skandal in der Tat. Doch sie meint etwas anderes: »Ich finde, die Leute, die bei der Tafel Essen holen, sollte man dazu verpflichten, gemeinnützige Arbeit zu leisten.« Hoppla. Disziplinierungsmaßnahmen, die ansonsten für straffällig gewordene Jugendliche angewendet werden? Für Menschen, die so ausweglos arm sind, dass sie ohne Lebensmittelspenden nicht über die Runden kommen? Abgesehen davon, dass die meisten Tafelnutzer den Wert von Lebensmitteln schon deshalb kennen, weil sie diese im Supermarkt kaum bezahlen können: Warum sollen Alleinerziehende, Rentner und Niedrigstlöhner auch noch Straßen fegen und Hundescheiße aufsammeln, damit sie was in den Magen kriegen? »Weil die sonst das Essen bloß in den Müll schmeißen«, sagt die Pressesprecherin.

Ich habe bereits mit vielen Tafelnutzern gesprochen und sie nach Hause begleitet, habe Ehrenamtlichen beim Verteilen zugesehen und bin die Abholtouren zu den Supermärkten mitgefahren. Dabei hatte ich eine erschütternde Welt der Scham und des persönlichen Leids kennengelernt. Und Menschen, die trotz täglicher Demütigungen mit aller Kraft versuchen, ein Leben in Würde zu führen, obwohl sie von der Gesellschaft weder Anerkennung noch Respekt erfahren. Der Gedanke, dass jemand sich dazu überwindet, für übrig gebliebenes Essen Schlange zu stehen, nur um es anschließend wegzuschmeißen, ist nachgerade absurd. Wie kommt eine Frau, die der gehobenen Mittelschicht angehört und sich sicher nicht in der Tafelwelt bewegt, auf diese Idee? Sie habe, sagt sie, von einem Lehrer gehört, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien eine Pizza lieber in den Müll schmeißen würden, als ihren Mitschülern ein Stückchen davon abzugeben. Aha.

Ein Freundesbesuch am Stadtrand, auf dem neu gebauten Ökohaus glänzen Solarzellen. Es ist ein warmer Frühsommertag, wir sitzen auf der Terrasse, trinken Kaffee mit Biomilch. Die Frau ist Referendarin an der Hauptschule in der nächstgelegenen Stadt; es ist eine sogenannte »Problemschule«. Die angehende Lehrerin echauffiert sich über ihre Schüler. Sie könne das nicht verstehen, dass die jungen Leute keine Arbeit bekämen. In der Gastronomie, in den Hotels würden seit Jahren »händeringend« Auszubildende gesucht. »Die sind selber schuld, die wollen einfach nicht«, sagt sie. Ja, wirklich? Sowohl der viel zitierte Fachkräftemangel als auch das angebliche Überangebot an Lehrstellen sind schlicht Mythen: 2010 bekam jeder dritte Jugendliche, der eine Ausbildung beginnen wollte, keine Stelle. Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist auf den drittniedrigsten Stand seit zehn Jahren gesunken, klagt die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten.2 Darüber hinaus ist mittlerweile jeder zweite Arbeitsplatz in der Gastronomie ein Minijob.3

Die junge Hausbesitzerin reagiert trotzig: »Die sagen mir selber, dass sie lieber Hartz IV wollen und gar keinen Bock haben zu arbeiten.« Ja, was man als Schüler halt so zu seinen Lehrern sagt: Provokation, wie sie für Schüler üblich ist, zumal für solche, die vom System nichts mehr erwarten und nichts zu erwarten haben. Lehrer als Angehörige der Mittelschicht sind meistens denkbar weit entfernt vom Alltag der sogenannten Unterschicht: obwohl, vielleicht weil sie tagtäglich mit den Folgen einer diskriminierenden Sozialpolitik umgehen müssen, begegnen sie den Opfern nicht immer ohne Vorurteile. Einer Studie der Universität Oldenburg von 2009 zufolge glauben Lehrer sogar, dass sie verhaltensauffällige und leistungsschwache Kinder bereits an ihren Vornamen erkennen können: »Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose«, sagte eine Lehrerin in der Untersuchung, die Lehrer zu ihren Namensvorlieben und den zugehörigen Assoziationen befragte.4

Am Stammtisch der Mittelschicht

Ein Abend im Restaurant, am Tisch eine Gruppe Journalisten und Akademiker. Die Mägen sind voll, der Rotwein fließt, man versteht sich so gut, wie man sich eben versteht, wenn man sich unter Gleichen fühlt, zumindest unter Gleichgesinnten. Einer von ihnen sagt recht unvermittelt: »Hartz-IV-Empfänger gehen doch bloß zur Tafel, damit sie sich das neueste iPhone kaufen können.« Schon klar, in solchen Runden geht es immer auch darum, sich zu profilieren. Doch als Provokation war das offenbar nicht gedacht. Jedenfalls stört sich niemand an dieser ungeheuerlichen Unterstellung, keiner widerspricht, einer nickt beiläufig. Wie kann das sein? Jeder am Tisch hat einen guten Job, aus dem er Befriedigung und Anerkennung zieht, manche verdienen sogar überdurchschnittlich. Alle haben studiert, sind politisch und kulturell interessiert und lesen mindestens eine überregionale Tageszeitung. Manche von ihnen waren früher vielleicht sogar mal links (und sagen heute, dass sie »realistisch« geworden sind). Man sollte annehmen, dass es einen Konsens gibt über wesentliche ethische Fragen. Hätte jemand einen ähnlich diskriminierenden Satz über eine andere Bevölkerungsgruppe gesagt – etwa: »Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg« oder »Schwarze sind doch alle Drogendealer« –, den Beteiligten wären die Garnelen im Hals stecken geblieben.

Doch in dieser Frage erfährt der Journalist volle Zustimmung. Ein anderer bestätigt: »Ja, die haben immer die neuesten Handys. Außerdem sind die immer super angezogen, wenn sie zur Tafel gehen. Die, die das wirklich brauchen, die erreicht man doch gar nicht.« Ein weiterer ergänzt: »Und seit die die Heizkosten bezahlt kriegen, heizen die wie verrückt, hab ich gehört.« Vermutlich von Thilo Sarrazin: »Hartz-IV-Empfänger sind erstens mehr zu Hause, zweitens haben sie es gerne warm, und drittens regulieren viele die Temperatur mit dem Fenster.«5 Man fragt sich, wer allen Ernstes seine Wohnung überheizen würde, bloß um es dem Staat reinzudrücken. Dabei wohnen Hartz-IV-Empfänger und andere Bedürftige überdurchschnittlich oft in schlecht isolierten Sozialwohnungen. In welcher Höhe aber die Heizkosten erstattet werden, obliegt den Kommunen: Wie beim Wohnraum legen diese fest, was »angemessen« ist. Was darüber hinausgeht, müssen die Bedürftigen selbst zahlen. Das heißt: frieren oder umziehen. Strom, Gas und Warmwasser sind im Regelsatz enthalten. Übersteigt der Verbrauch den vorgesehenen Betrag – etwa, wenn die Energiekosten steigen,6 müssen Hartz-IV-Empfänger die Kosten ebenfalls aus eigener Tasche bezahlen. Heißt: Licht aus, Herd aus, kalt duschen und Schulden. Und für manche sogar hungern, um die Stromrechnung bezahlen zu können.7 Während die Ökoelite ihre Solarzellen auf dem Eigenheim subventioniert bekommt, um damit Heizung und Strom zu sparen, ja, auch noch Geld zu verdienen, wenn sie Strom ins Netz einspeisen, leiden Bedürftige in Deutschland unter Energiearmut. Man kann das wissen. Wenn man es wissen will. Aha, frage ich schließlich, und woher habt ihr diese Informationen? Kennt ihr solche Leute? »Ja, natürlich«, sagen sie zwei prompt, »wir leben ja in Berlin.«

Merkwürdig. Ich musste jedenfalls richtig suchen, um mit Menschen, die der sogenannten »Unterschicht« angehören, ins Gespräch zu kommen. Gefunden habe ich sie in der Parallelwelt der Tafeln und Sozialkaufhäuser an den Rändern der Städte. Man kennt sich nicht mehr einfach so. Die Schichten in Deutschland haben sich mittlerweile so weit voneinander entfernt, dass es kaum noch Berührungspunkte gibt – und keine Orte mehr, an denen sich Menschen unterschiedlicher Schichten begegnen und austauschen. Sowieso nicht bei der Arbeit, denn aus der Arbeitswelt sind Langzeitarbeitslose ja ausgeschlossen. Ihr »Arbeitsplatz« ist das Jobcenter – ihre Aufgabe scheint es zu sein, ihr ganzes Leben dem Zugriff des Staates zu öffnen, sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu stellen, die x-te sinnlose Bewerbung zu schreiben und Repressalien auszuhalten. Man trifft sich kaum im Konsumalltag, denn die neuen Armen sind auf eine parallele Konsumwelt jenseits von kombinierten Buch- und Weinhandlungen, Schnick-Schnack-Boutiquen, Wochenmärkten, Bioläden...

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