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E-Book

Alles auf Anfang

Auf den Spuren gelebter Träume

AutorManuel Möglich
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644100060
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kann man Utopien leben? Manuel Möglich macht den Praxistest. Es gibt Menschen, die ihrem Traum von einem ganz anderen, besseren Leben folgen - und Manuel Möglich folgt diesen Menschen, um herauszufinden, ob ihnen dieses Abenteuer gelingt. Was bleibt von den großen Träumen, wenn man sie zu leben versucht? Eine Welt ohne Geld und Eigentum lernt Möglich bei den Nomadelfen kennen, einer urchristlichen Gemeinschaft in der Toskana. Ob die freie Liebe (neudeutsch «Polyamorie») die Lösung aller Probleme ist, soll sich bei den Kirschblütlern in der Schweiz zeigen. Möglich unterwirft sich auf der Suche nach innerer Einkehr dem mönchischen Alltag im Benediktinerkloster, erklettert die Baumhäuser junger Umweltaktivisten im Hambacher Forst und träumt mit Tech-Freaks auf dem kalifornischen RAAD-Festival von Cyborgs und Unsterblichkeit. Oder müssen wir die bessere Zukunft, wie die Initiatoren der niederländischen Mars-One-Expedition glauben, gar auf einem anderen Planeten suchen? Manuel Möglich begegnet Visionären und Phantasten, Finanziers und Hippies, Revolutionären und Aussteigern, und er versucht zu ergründen, was diese Menschen dazu bringt, alles zu wagen. Klar ist am Ende: Manche Utopie ist nicht so weit entfernt, wie man zunächst glauben möchte - und es lohnt sich auf jeden Fall, das eigene Leben hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Manuel Möglich, geboren 1979 in Weilburg/Hessen, studierte Medien- und Kulturwissenschaft, schrieb für «Vice» und arbeitete als Radiojournalist für 1LIVE und radioeins. Seine Fernsehserie «Wild Germany» auf ZDFneo und Netflix, die ihn und seinen direkten, subjektiven Stil bekannt machte, war für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Mit dem Dokuformat «Y-Kollektiv» gewann er den Deutschen Webvideopreis. Als «Rabiat!»-Reporter versucht Möglich, die ARD zu verjüngen. 2015 erschien sein erstes Buch «Deutschland überall». Manuel Möglich lebt in Berlin.

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Leseprobe

Eine Welt ohne Geld?


Zu Gast bei den Nomadelfen (Toskana)

Ich sehe im Rückspiegel die Mautstation kleiner werden. Der Beamte in seinem Kasten hat nicht meinen Ausweis verlangt, etwas Hartgeld reichte, und schon hob sich der Schlagbaum in die tief hängenden Regenwolken. Geld öffnet Türen.

Hinter dem Brenner erstrahlt Europa wie Gold. Auf dem letzten Stück vor dem Pass haben die dicken Tropfen nachgelassen. Mit jedem gefahrenen Meter verwandelt sich das glänzende Schwarz des Asphalts mehr in ein mattes Hellgrau. Das Firmament wirkt auch gleich heller, freundlicher. Vor dem Dolomitenpanorama, vom Tal hinauf bis zu den allzeit schneebedeckten Gipfeln, zeigt sich die Natur maximal dramatisch, gewaltig. Im langen Schatten der Berge erscheint die eigene Existenz mickrig und unbedeutend.

Südtirol soll nur ein Zwischenstopp sein, nicht der Beginn einer italienischen Reise, wie sie ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe unternommen hat. Der war von diesem Landstrich nicht weniger fasziniert als ich: «Alles, was auf den höheren Gebirgen zu vegetieren versucht, hat hier schon mehr Kraft und Leben, die Sonne scheint heiß, und man glaubt wieder einmal an einen Gott.» Zu Gott habe ich das letzte Mal als Kind gebetet, mein Glaube ist höchstens Relikt. Vom Wort des Allmächtigen wird diese Reise gen Süden trotzdem handeln, da bin ich mir sicher.

 

«Rot od’r weiß?», erkundigt sich Albert, der Besitzer des kleinen Agriturismo-Hofs unweit von Bozen.

Wie sich herausstellt, hat er nur darauf gewartet, dass ich um seine Empfehlung bitte.

«Bis zwölf om Mittog trink wirn Weißwein, drnoch nurn Rotn. Der mocht net aggressiv.»

Ein schnarchiger Kalenderspruch, aber ich will dem Chef nicht den Fehdehandschuh hinwerfen und füge mich. Die dickbauchige Flasche mit der dunklen Flüssigkeit präsentiert Albert wie einen Schatz.

Während ich trinke, steigt am Nachbartisch langsam der Lärmpegel. Der Weißwein muss schuld sein, was sonst, denke ich, doch ich liege falsch. Sommelier Albert diskutiert aufgebracht mit einem Paar. Es geht um den Zustrom von Flüchtlingen, alle echauffieren sich. Die Außengrenzen des Landes sollten dichtgemacht werden, schwadronieren sie, die Zeit dafür sei reif. Nach einer differenzierten Auseinandersetzung klingt das nicht, für letzte Gewissheit sorgt die flache Hand, die wieder und wieder laut auf den Tisch klatscht und die «Love-Peace-&-Harmony»-Stimmung zerstört. Gift liegt in dieser nasalen Empörung. Alles, was eben noch golden geschimmert hat, wird augenblicklich zu Rost.

«Wie wäre es mit konstruktiven Vorschlägen?»

Denke ich mir und sage es nicht, dabei hätte ich mich einmischen sollen. Längst hat sich der Rotwein wie ein schwerer Mantel um mich gelegt, nimmt mir die Luft, die Sprache, jede Schlagfertigkeit. Ich halte also die Klappe und verachte mich dafür, weil Schweigen Tolerieren heißt. Weit über dem Meeresspiegel sind es dieselben Sorgen und schaurigen Tiraden des Untergangs, die auch im Tiefland durch die Köpfe spuken. Lösungsansätze, Ideen oder einfach nur Mitgefühl: Fehlanzeige. Aber warum sollte man hier anders denken als an so vielen Orten in Europa? Hier, wo die Mehrheit sich als Minderheit versteht, viele von der Autonomie Südtirols träumen und die Abspaltung von Italien herbeisehnen. Am Nachbartisch flammt die Sorge hell auf wie ein Bengalo.

«Mit welchm Schouder solln die bezohlt werdn?»

Geld schließt Türen.

 

Bin ich wirklich aufgebrochen, um mich am Nachmittag mit Rotwein zu betrinken und mir diese Art von Gespräch anzuhören? Nein.

Alles auf Anfang stellen, eine neue Grundierung auftragen, um mit frischen Farben ein verheißungsvolles Bild zu malen. Und das nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen, jeder kriegt einen Pinsel und darf mit ran.

Was sich so einfach anhört, erfordert vor allem eines: Mut. Denn nicht immer ist das, was man sich so ausmalt, in der unmittelbaren Umgebung zu verwirklichen. Dennoch gibt es diese Menschen, die keinen Bock mehr haben auf Theorie und den Praxistest wagen. Die sich nicht länger mit Kompromissen zufriedengeben und den Traum von einem vollkommen anderen, besseren Leben zu leben versuchen. Ob es ihnen gelingt? Ebendas will ich herausfinden. Ich bin losgezogen, um in Europa und darüber hinaus Leute zu treffen, die schon heute oder in naher Zukunft eine Utopie verwirklichen wollen.

Dabei treibt mich mehr als nur Neugierde an. Das Vorhaben, nach gelebten Utopien zu suchen, rührt aus einem Unbehagen tief in mir selbst. Es ist fast schon paradox. Angefangen hat es, als ich realisiert habe, dass ich nichts mehr empfinde: Eilmeldungen waren Buchstaben auf dem Display, gegen schreckliche Nachrichten hatte ich mich längst immunisiert. Und ich bin mir sicher, dass es nicht nur mir so geht. Der Mensch kann sich an so vieles gewöhnen – aber muss er das überhaupt? Sind wir nicht alle Zwängen ausgesetzt, die uns daran hindern zu tun, was getan werden könnte? Solange wir unser Gewissen beruhigen, indem wir Fair-Trade-Produkte im Bioladen kaufen, Ökostrom beziehen und fleißig Online-Petitionen unterschreiben, lässt sich das Unwohlsein vielleicht noch verdrängen. Doch eigentlich verschließen wir die Augen, machen täglich Zugeständnisse.

Als Realist, der an das Gute glauben will, ist mir immerhin eine Sache klar: Die Welt, in der wir leben, ist faktisch die beste aller Zeiten. Um nur ein paar Zahlen aus der jüngeren Vergangenheit zu nennen: Allein in den letzten zehn Jahren haben die Aids-Todesfälle weltweit um ein Drittel abgenommen; seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Malaria-Toten um sechzig Prozent zurückgegangen; die globale Lebenserwartung steigt weiter und liegt heute durchschnittlich bei siebzig Jahren; rund einhundert Millionen Menschen gelang es im Jahr 2016, extremer Armut zu entkommen; noch nie konnte ein größerer Teil der Weltbevölkerung lesen und schreiben. Früher war also überhaupt nicht alles besser. Tatsächlich leben wir schon lange in einer utopischen Welt – wenn man sie aus der Perspektive vergangener Jahrzehnte betrachtet, die von solchen Zuständen nur träumen konnten.

Warum sollten wir nicht weiterträumen? Es gibt genügend Gründe, an eine radikal andere, von heute aus gesehen utopische Zukunft zu glauben. Und damit nicht genug, vieles lässt sich schon hier und jetzt ausprobieren. Ich bin Personen begegnet, die ihre frühere Existenz aufgegeben haben, um einem alternativen Lebensentwurf zu folgen – ob es dabei um Ökologie oder Ökonomie geht, um die Liebe oder ein befreites Miteinander, den Kampf gegen den Tod auf der Erde oder die Neuerfindung des Lebens auf dem Mars. Sie alle nehmen das Risiko zu scheitern mit Kusshand in Kauf, weil sie wissen, dass viel zu gewinnen ist. Folgen Sie mir auf ihren Spuren und entscheiden Sie selbst, ob diese Menschen Pioniere oder wahnsinnige Träumer sind.

 

In der Maremma, dem südlichsten Zipfel der Toskana, erwarten mich die Nomadelfen. Mitte der Fünfziger ließ sich die Gemeinschaft in der Region nieder. Was mich sofort beeindruckt: Die Nomadelfen haben schon vor vielen Jahren das Geld aus ihrer Gemeinschaft verbannt. Ein Leben ohne Geld – je älter ich werde, desto weniger kann ich mir vorstellen, wie das funktionieren soll. Nicht weil ich Unmengen auf dem Konto oder ein besonderes Faible dafür hätte; egal, ob millionenschwer oder knietief im Dispo, fast jeder glaubt doch insgeheim, dass es ruhig ein bisschen mehr sein könnte. Schon das erste Taschengeld raubt einem die Unschuld, das bedruckte Papier wird zeitlebens mit Bedeutung aufgeladen, und der Gedanke daran ist ein steter Begleiter. Die innere Freiheit wird nur für Momente spürbar, wenn der Cashflow ausnahmsweise mal stimmt, und leider halten solche Momente nie lange an.

Keinen Cent werden die Nomadelfen während meines Aufenthalts von mir verlangen, weder für Essen noch für Unterkunft. Ihr Dorf liegt zwei Autostunden von Florenz entfernt. Auf der SS 223 von Norden kommend, führt mich eine eigene Autobahnausfahrt kurz vor Grosseto direkt nach Nomadelfia. Es geht eine Zeitlang abwärts, dann wieder aufwärts, bis ich einen mannshohen rotbraunen Stein passiere, der in hebräischen, griechischen, lateinischen, kyrillischen und arabischen Schriftzeichen den Namen des Orts verkündet. «Legge di Fraternità» lese ich darunter: «Das Gesetz der Brüderlichkeit».

Nomadelfe kann werden, wer drei Kriterien erfüllt. Zumindest das erste davon trifft auf mich zu: Das einundzwanzigste Lebensjahr habe ich bereits seit einiger Zeit hinter mir. Kinder, die in der Gemeinschaft aufwachsen, müssen sich, sobald sie erwachsen sind, dafür oder dagegen aussprechen. Zweitens, und schon dieser Punkt macht es deutlich schwieriger für mich, laut «Ja!» zu schreien: Es gilt, auf jede Art von Eigentum zu verzichten. Man muss gewillt sein, mit dem Nötigsten für ein Leben in Würde auszukommen, nur kein unnötiger Ballast. Nomadelfia ist arm, aber nicht sexy. Nomadelfia ist arm und strenggläubig. Gottes Wort hat bei diesen Italienern noch absolute Gültigkeit. Die letzte zu erfüllende Bedingung, will man sich dem Kollektiv anschließen, lautet daher: Katholik sein, den Glauben und die Lehre der katholischen Kirche anerkennen und danach leben. Ich selbst bin mehr oder weniger protestantisch aufgewachsen, eher weniger als mehr, und noch viel dramatischer: Seit Jahren komme ich auch ohne eingetragene Konfession ganz gut durchs Leben. Damit wäre ich als Anwärter wohl von vornherein raus.

Nomadelfia fußt auf der Vision seines Gründers Don Zeno, der von einem neuen Volk träumte. Dieser Traum hat so manche Männer nicht nur in den Wahnsinn getrieben...

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