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E-Book

Alltagsgeschichte im Religionsunterricht

Kirchengeschichtliche Studien und religionsdidaktische Perspektiven

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783170264304
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Zentrale kirchengeschichtliche Themen im Religionsunterricht lassen sich neu entdecken, wenn sie aus alltagsgeschichtlicher Perspektive angegangen werden. Diesen Zugang, der einem Trend der neueren Geschichtswissenschaft folgt, verbinden die Beiträge des vorliegenden Bandes mit geeigneten didaktischen Ansätzen. Die fachwissenschaftliche Erarbeitung erfolgt im Sinn der elementaren Strukturen, die Quellen werden so präsentiert, dass sie im Unterricht einsetzbar sind, und die fachdidaktischen Beiträge erhellen exemplarisch den ihnen zu Grunde liegenden didaktischen Ansatz. Der Band verbindet so die thematische Einführung in die Kirchengeschichte und die religionsdidaktische Aufbereitung für den Unterricht.

Prof. Dr. Konstantin Lindner lehrt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Bamberg; Prof. Dr. Ulrich Riegel lehrt Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Siegen; Prof. Dr. Andreas Hoffmann lehrt Historische Theologie an der Universität Siegen.

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Leseprobe

Kinder und Christentum Spätantike Einblicke, mittelalterliche Ausblicke


Hubertus Lutterbach

„In allen Bereichen der internationalen Politik – von der Entwicklungspolitik bis hin zur Sicherheitspolitik – werden die Kinderrechte aufgegriffen. Selbst der UN-Sicherheitsrat hat damit begonnen, die Angelegenheiten der Kinder in seine Überlegungen einzubeziehen, wie er in verschiedenen Resolutionen zugunsten der Kinder zum Ausdruck bringt.“53 Was die britische Politologin Vanessa Pupavac hier mit Blick auf die Weltpolitik formuliert, lässt sich auch für die nationale Öffentlichkeit (Presse, Fernsehen, Funk, Internet) nachzeichnen:54 Die Sorge um Kinderschutz, Kinderförderung und Kinderpartizipation prägt die Diskussion unter Politikern und Pädagogen, unter Menschenrechtlern und Bildungsexperten, unter Journalisten und Tourismusfachleuten.

Während die Sorge um den Kinderschutz und die bildungsbezogene Kinderförderung über eine lange Tradition verfügt,55 ist die öffentlich gestellte Frage nach einer kindgerechten Partizipation der Kleinen am gesellschaftlichen Leben erst seit den 1970er Jahren virulent. Da sich die folgenden Ausführungen auf die Bedeutung des Christentums zwischen Spätantike und Mittelalter beziehen und sich damit auf den Kinderschutz und die Kinderbildung konzentrieren müssen, kann die aktuelle Relevanz der Kinderpartizipation an dieser Stelle nicht diskutiert werden.56

1. Die Wurzeln der Wertschätzung von Kindern in der antiken Welt


Die alten Kulturen waren in der Regel kinderreiche und vom Altersdurchschnitt her gesehen sehr junge Gesellschaften. Doch wie stand es in diesen Kontexten um die Wertschätzung der Kinder? Eine kurze kulturvergleichende Skizze mag hier grundlegende Orientierungen bieten.

1.1 Der griechisch-römische Hintergrund

Die aktuelle sozialgeschichtliche Forschung ist sich darin einig, dass man in den Überlieferungen der griechisch-römischen Antike nach einer uneingeschränkten Wertschätzung des Kindes vergeblich sucht.57 Innerhalb der „Großfamilie“, zu der selbstverständlich auch Knechte und Sklaven gehörten, durfte das Familienoberhaupt im Sinne eines autokratischen Herrschers fast ohne Einschränkungen walten.58 Das Regiment reichte so weit, dass heutige Altertumshistoriker das heidnische Familienoberhaupt sogar als Herr über Leben und Tod charakterisieren. Tatsächlich war der Hausvater befugt, das Kind nach seinem Ermessen zu züchtigen oder es im äußersten Falle zu töten.59 Überdies durfte er das Neugeborene aussetzen60 sowie Kinder jeden Alters verkaufen, verpfänden oder anderen Menschen als Dienstleister überlassen.61 Ohne dass aus den Jahrhunderten vor der christlichen Zeitrechung präzise Zahlen vorlägen, lässt sich bereits von einem frühen Zeitpunkt an das mit der hausväterlichen Gewalt verbundene Tötungsrecht als Legitimierung für das Aussetzen von Kindern ausmachen.

1.2 Das biblische Zeugnis

„Das Leben der Kinder steht gemäß dem Alten Testament nicht zur Disposition der Eltern. Es ist in dem von Gott gegebenen Recht der Tora von gleicher Dignität und Unantastbarkeit wie das der Eltern. In diesem Schutz der Kinder vor der Tötung durch die Eltern oder zugunsten der Eltern besteht die Anwaltschaft des biblischen Gottes für die Kinder nach den Rechtssätzen der Tora.“62 Jedes Kind verfügt über eine den Eltern ebenbürtige Würde und ihm kommt ein ebenso grundsätzliches Recht auf Leben zu; diese Dignität galt den Israeliten als Ausdruck jener Unmittelbarkeit, in der Gott zu jedem Menschen – unabhängig von dessen Alter oder Sozialsituation – steht.63 Die im Alten Testament vorgezeichnete Linie wird in den Schriften des Neuen Testaments aufgegriffen und weitergeführt. Maßgeblich ist als erstes das neutestamentliche Vater- bzw. Gottesverständnis, als zweites die in einigen Evangelienperikopen überlieferte Zuwendung Jesu gegenüber den Kindern.64

Die von der griechisch-römischen Überlieferung abweichende christliche Sonderentwicklung zugunsten der Kinder wurde möglich durch einen hintergründigen „argumentativen Trick“: In der Spur jüdischen Gedankengutes gingen die Christen rechtskonkret derart vor, dass sie zwar den in der zeitgenössischen heidnischen Umwelt wohlbekannten Grundgedanken des Hausvaters (pater familias) übernahmen, diesen aber in seiner Bedeutung nicht auf den irdischen Hausvater begrenzten. Damit übertrugen sie die Hausvaterschaft – also unter anderem die rechtliche Verfügungsgewalt über die Kinder – exklusiv auf den christlichen Vatergott als den Schöpfer allen Lebens.65 In der Konsequenz war den Menschen jedwede Verfügungsgewalt über das Leben von vornherein abgesprochen. Das geborene wie das ungeborene Leben unterstand allein der Hausvaterschaft Gottes.66 Grundlegender noch: Weil alle Menschen aus göttlichem Samen hervorgegangen seien – so die leitende Überzeugung –, hätten alle Menschen auch Gott als ihren gemeinsamen Vater (Mt 23,9) und dürften sich als Gotteskinder gewürdigt sehen.

Die zentrale neutestamentliche Perikope zu Jesu Umgang mit den Kindern handelt zwar nicht eigentlich vom Kinderschutz, sondern bezieht sich auf die Kinder in einem metaphorischen Sinne. Nichtsdestoweniger wertschätzten die Christen ihren Religionsstifter Jesus – ausgehend von den synoptischen „Kinderperikopen“ – bereits seit altkirchlicher Zeit als göttlichen Kinderfreund, dem das Leben der Kinder heilig war. In diesem Verhalten glaubten sie den Ausspruch Jesu angesichts des Rangstreites unter seinen Jüngern zum Ausdruck gebracht: „‚Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt, als wäre er ein Kind, wird nicht hineinkommen.‘ Und Jesus nahm die Kinder in seine Arme. Dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie“ (Mk 10,15-16; Lk 18,15-17).

Kurzum: Ebenso wie sich das christliche Gebot der Nächstenliebe zugunsten der Wertschätzung von Kindern auswirkte, sollte sich auch die Hochachtung Jesu gegenüber den Kindern als bahnbrechend für den Lebensschutz und die Lebensförderung von Kindern erweisen.

2. Kinderschutz und Kinderförderung in der Spätantike


Wie alt mögen die Menschen gewesen sein, die zur Zeit Jesu und darüber hinaus als Kinder galten? Auf wen bezog sich der christliche Lebensschutz und die christliche Lebensförderung zugunsten der Kinder genauerhin?

In der Antike wird das Lebensalter auf verschiedene Weise unterteilt: Aristoteles spricht von einer Dreiteilung aus Kindheit und Jugend, Mitte des Lebens und Alter. Eine ebenfalls in der Antike anzutreffende Vierteilung differenziert die menschlichen Lebensalter gemäß den Jahreszeiten: Kind (puer), junger Mann (iuvenis), Mensch im gesetzten Alter (constans aetas) und Person im hohen Alter (senectus).67 – „Die im Kontext der Lebensalter seit der Antike dominierende Zahl, die an Verbreitung und Einfluss alle anderen schließlich hinter sich lässt, ist die Sieben“68.

Die angesprochene Einteilung der menschlichen Lebensalter nach Siebener-Perioden ist übrigens noch bis in das Barockzeitalter hinein gängig gewesen. Erst ab dem 19. Jahrhundert wich man von der symbolbesetzten Zählung der Lebensalter ab, so dass sich auch in diesem Bereich zunehmend die empirische Auffassung des Lebens widerspiegelte.69 Heutzutage gilt ein Mensch nach deutschem Recht (Strafgesetzbuch § 176 Absatz 1) bis zum Alter von 14 Jahren als Kind, während im Jugendarbeitsschutzgesetz (§ 2) die Grenze erst bei 15 Jahren gezogen ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich im Sinne eines „Vorher-Nachher-Kontrastes“ bilanzieren: Während über Jahrhunderte hinweg der Status der frühen Kindheit mit dem siebenten und die spätere Kindheit mit dem 14. Lebensjahr an sein Ende kam, fasst die UN-Kinderrechtskonvention jeden Menschen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, als Kind auf.

2.1 Die Unterstützung behinderter Kinder – Ein Beispiel für christlichen Lebensschutz

Die aus dem Neuen Testament herausgelesene Maßgabe der Nächstenliebe konkretisierten die Christen schon in altkirchlicher Zeit hin auf das Engagement zugunsten von Waisen oder Findelkindern, von unehelichen oder verkauften Kindern. Dieser lebensschützende Einsatz, der den Kampf gegen die Abtreibung ebenso umfasste wie die Tötung der Kinder, lässt sich exemplarisch an der Unterstützung von behinderten und missgestalteten Kindern ablesen, wie sie auch in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben ist.

Die philosophisch legitimierte Tötung behinderter Kinder

Wie wenig selbstverständlich lebensschützende Maßnahmen zugunsten geschwächter Kinder waren und sind, sei mit einem Zitat des Anthropologen Klaus E. Müller belegt, der seine Untersuchung zum Umgang mit behinderten Kindern auf der Basis einer Vielzahl von Ethnien wie folgt bilanziert: „Bei Naturvölkern wurden Kinder, die mit sichtlichen Anomalien, vor allem schweren Verunstaltungen zur Welt kamen, in der Regel gleich nach der Geburt getötet. Man bestrich dazu etwa, wie bei den Apinayé in Nordostbrasilien, die Brustwarzen der Mutter mit einer giftigen Salbe, erstickte, erwürgte oder ertränkte die Kleinen, begrub sie bei lebendigem Leibe, verbrannte sie oder setzte sie irgendwo in der Wildnis aus. Die Mütter, die das gewöhnlich selbst besorgten, zeigten weder Schmerz noch Trauer. ‚Krüppel‘ waren des Teufels, sie konnten nur Unheil über die Ihren bringen; also schied man sie aus, zertrat sie, machte ihnen vollends den Garaus. ... Man warf ihre Leichname in den Busch oder verscharrte...

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