Es folgt eine kurze Einführung in den Bereich der Beschaffung, indem der Beschaffungsbegriff definiert, der Einfluss der Beschaffung auf den Unternehmenserfolg beleuchtet und grundlegende Beschaffungsziele erklärt werden. Um zu überprüfen, inwieweit sich die Balanced Scorecard für die Beschaffung eignet, bedarf es dieser Vorarbeiten, bevor im Anschluss auf die verschiedenen B-BSC Ansätze eingegangen wird.
Bei produzierenden Unternehmen lassen sich bei prozessorientierter Betrachtungsweise drei betriebliche Grundfunktionen ableiten: Beschaffung, Produktion und Absatz. Die Beschaffung ist der Produktion vorangestellt und kann als Versorger der anderen Funktionen mit den für die Wertschöpfung benötigten Inputfaktoren verstanden werden.[56] Nach ARNOLD umfasst die Beschaffung „sämtliche unternehmens- und/oder marktbezogenen Tätigkeiten, die darauf gerichtet sind, einem Unternehmen die benötigten, aber nicht selbst hergestellten Objekte verfügbar zu machen."[57] Die Vokabeln „sämtliche ... Tätigkeiten" der Definition unterstreichen, dass tätigkeitsbezogen keine Einschränkungen vorzunehmen sind. Gemeint ist also der vollständige Ablauf mit allen Planungs- und Zwischenschritten vom Lieferanten bis zum internen Kunden. Anders verhält es sich bei den Objekten. In der Literatur gehen die Definitionen an dieser Stelle auseinander, da bspw. neben Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen auch das rekrutierte Personal zur Wertschöpfung beiträgt und somit den Objekten zugeordnet werden müsste. So wird zwischen Beschaffung im engeren Sinne und Beschaffung im weiteren Sinne differenziert. Bei der Beschaffung im weiteren Sinne finden unter anderem folgende Objekte Berücksichtigung: Sachmittel, Personal, Rechte, Lizenzen, Patente, Informationen, Finanzmittel. Bei der Beschaffung im engeren Sinne beschränken sich die Objekte bis auf einige Ausnahmen auf originäre Sachgüter. Dazu zählen neben Betriebsmitteln, Dienstleistungen und Handelswaren vor allem auch Werksstoffe, also Halbfertigerzeugnisse und Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe.[58] Im Folgenden wird der Beschaffung im engeren Sinne gefolgt, weil beispielsweise für die Bereiche Personal und Finanzen eigene Abteilungen existieren. Ausnahmen sind zwar auch hier z. B. durch Rekrutierung von Leiharbeitern durch die Beschaffung möglich, doch werden diese Gebiete i.d.R. von selbstständigen Abteilungen behandelt.
Die Begriffe Einkauf, Beschaffung und Materialwirtschaft werden in der Praxis und der Literatur ebenfalls nicht einheitlich voneinander abgegrenzt. Die Ausdrücke werden teilweise synonym verwendet, teilweise werden einzelne Begriffe jedoch auch als Oberbegriff für die anderen benutzt.[59] Unter Einkauf wird im Folgenden die entsprechende Abteilung eines Unternehmens verstanden. Um Missverständnissen vorzubeugen, wird der Beschaffungsbegriff jedoch bevorzugt verwendet. Die Verwendung des Wortes Materialwirtschaft wird vermieden.
Die Beschaffung hat einen überaus starken Einfluss auf den Unternehmenserfolg. Dies lässt sich durch eine einfache Return on Investment-Rechnung veranschaulichen. Zur Veranschaulichung soll ein durchschnittliches Unternehmen mit einem Materialkostenanteil von 45 % dienen. Gelingt es der Beschaffung, die Materialkosten um nur 3 % zu senken, steigt der ROI um 27 % an.[60]
Nach dem Jahresbericht 2008 des Verbands der Automobilindustrie e. V. (VDA) ergibt sich für die Automobilindustrie im Jahr 2007 eine Fertigungstiefe von 23 %. Im Jahr 1980 lag der Wert noch bei 38 %.[61] Sinkende Fertigungstiefe zieht steigende Material-, Teile- und Komponentenkosten nach sich. Unter diesen Voraussetzungen verstärkt sich die Hebelwirkung.
Eine moderne Beschaffung leistet neben der reinen Kostenreduktion bei den Beschaffungsobjekten noch einen weitaus größeren Beitrag zum Unternehmenserfolg. So lässt sich zum Beispiel durch die Lieferantenintegration Time to Market verkürzen, was Wettbewerbsvorteile wie die Nutzung von Lieferanteninnovationen und die Ausweitung des Marktanteils ermöglicht.[62]
Da bei Produktinnovationen bereits in der frühen Phase der Entwicklung ca. 80 % der späteren Kosten festgelegt werden, ist es sinnvoll, die Beschaffung in den Innovationsprozess einzubeziehen. So besteht für die Beschaffung die Möglichkeit, durch Vorschläge kostengünstiger Alternativen positive Target-Costing- Effekte zu erzielen.[63] Diese Beispiele belegen, dass moderne Beschaffung heute weit mehr bedeutet als nur das Aushandeln des niedrigsten Einstandspreises.
Verbreitete strategische Beschaffungsziele sind u.a. die Sicherstellung der Materialversorgung, Qualität, Beschaffungsmarktposition und Preisstabilität. Bei den operativen Zielen steht oftmals die Optimierung der Beschaffungskosten, Sicherung der Materialqualität und Lieferbereitschaft im Vordergrund.[64] Da die Beschaffungsziele aus den übergeordneten Unternehmenszielen abzuleiten sind, [65] ist eine allgemeingültige Auflistung auch auf Grund von Zielkonflikten unmöglich. Bei einem Unternehmen mit einem außerordentlich hohen Stellenwert des Qualitätsniveaus in der übergeordneten Unternehmensstrategie sind z. B. Zielkonflikte zwischen der Optimierung der Beschaffungskosten und der Materialqualität offensichtlich.[66] Die Beschaffungsziele müssen daher auf Grundlage der Unternehmensstrategie gewichtet und entsprechend der resultierenden Priorisierung verfolgt werden.
Die vorherigen Anführungen verdeutlichen, dass ein Umdenken in dem, was unter Beschaffung zu verstehen ist, stattgefunden hat. Das Umdenken hat zurecht schon bei vielen, besonders aber bei größeren Unternehmen dazu geführt, dass das frühere Verständnis von Beschaffung als rein operative Funktion mit Beschränkung auf den Einkaufspreis als nicht mehr zeitgemäß angesehen wird. Mit der Erkenntnis des intensiven Einflusses auf den Unternehmenserfolg hat die moderne Beschaffung heute neben den operativen Aufgaben zusätzlich eine starke strategische Ausrichtung.[67] Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie Globalisierung, massiver Kostendruck, zunehmende Risiken, technische Innovationen und abnehmende Produktlebenszyklen haben die Entwicklung neuer Instrumente erforderlich gemacht. So muss der moderne Einkäufer heute nicht mehr nur über Verhandlungsgeschick verfügen, sondern auch mit Global Sourcing, Target- Costing, Simultaneous Engineering und Quality Function Deployment die Werkzeuge einer modernen Beschaffung einordnen und verwenden können.
Nachdem in den vorherigen Ausführungen die theoretischen Grundlagen zur BSC und der Beschaffung erarbeitet wurden, folgt nun die Zusammenführung der beiden Bereiche. In der Literatur finden sich viele verschiedene Gestaltungsansätze für eine Balanced Scorecard im Beschaffungsbereich, die sich inhaltlich und teilweise auch strukturell vom Grundmodell nach KAPLAN und NORTON unterscheiden. Mit inhaltlichen Anpassungen ist die Integration von beschaffungsspezifischen Kennzahlen bzw. die Definition, was mit den einzelnen Perspektiven erreicht werden soll, gemeint. Die strukturelle Modifikation findet durch die Auswahl der zu berücksichtigenden Perspektiven statt. Begründet ist diese Vielfalt in der Konzeption der Balanced Scorecard selbst, denn KAPLAN und NORTON verstehen Ihr System nicht als Zwangsjacke, sondern als unverbindliche Vorlage, die unternehmensspezifisch angepasst werden soll.[68]
Neben inhaltlichen und strukturellen Anpassungen kommt es auch bei den genutzten Bezeichnungen zu Unterschieden. APPELFELLER/BUCHHOLZ/ROOS bezeichnen ihre Beschaffungs-BSC als Procurement-Balanced Scorecard[69], WAGNER/KAUFMANN als Purchasing-Balanced Scorecard[70] und JAHNS als Supply-Balanced Scorecard.[71] Gemeint wird mit den verschiedenen Bezeichnungen jedoch im Prinzip dasselbe. In den Erläuterungen zu den einzelnen B-BSCAnsätzen wird die jeweils vom entsprechenden Autor gewählte Bezeichnung benutzt. In meinen eigenen Ausführungen, speziell im Fallbeispiel des nächsten Kapitels, wird der Ausdruck Beschaffungs-Balanced Scorecard (B-BSC) favorisiert.
An dieser Stelle sei nur nebenbei angemerkt, dass die folgenden Ansätze, sowie das Fallbeispiel im nächsten Kapitel, unternehmensinterne Ansätze behandeln. In der Praxis existieren auch unternehmensübergreifende Methoden. Die unternehmensbezogenen Theorien beschränken sich primär auf die Steuerung der eignen Beschaffung, wohingegen die unternehmensübergreifenden Modelle auch die strategischen Geschäftsbeziehungen mit den Lieferanten in die Erfolgsmessung integrieren. Es existieren auch Mehrebenen-Konzepte, die beides miteinander kombinieren. Zusätzlich bestehen sog. externe Balanced Scorecards, die speziell bei der Lieferantenbewertung eingesetzt werden.[72]
APPELFELLER/BUCHHOLZ/ROOS bezeichnen Ihre B-BSC als Procurement-...