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Beitrag zur Berichtigung der Urtheile über die französische Revolution

Erster Theil: Zur Beurtheilung ihrer Rechtmässigkeit

AutorJohann Gottlieb Fichte
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl251 Seiten
ISBN9783847809869
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Herausgegeben von I. H. Fichte, Band 1-8, Berlin: Veit & Comp., 1845/1846. Erstdruck: o. O. [d. i. Danzig (Troschel)] 1793.

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Leseprobe

Einleitung

Aus welchen Grundsätzen man Staatsveränderungen zu beurtheilen habe.

 

Was geschehen ist, ist Sache des Wissens, nicht des Urtheilens. Zwar bedürfen wir, um auch diese bloss historische Wahrheit aufzufinden und zu unterscheiden, gar sehr der Urtheilskraft; – bedürfen ihrer, theils um die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der vorgeblichen Thatsache selbst, theils um den Willen oder das Vermögen der Zeugen, sie zu sagen, zu beurtheilen: wenn aber diese Wahrheit einmal ausgemittelt ist, so hat für jeden, der sich von ihr überzeugte, die Urtheilskraft ihr Geschäft vollendet, und überträgt den nun geläuterten und zugesicherten reinen Besitz dem Gedächtnisse.

Ganz etwas anderes aber, als diese Beurtheilung der Glaubwürdigkeit einer Thatsache, ist die Beurtheilung der Thatsache selbst, – die Reflexion über sie. In einer Beurtheilung von der letzteren Art wird die gegebene und schon aus anderen Gründen für wahr anerkannte Thatsache mit einem Gesetze verglichen; um entweder die erstere durch ihre Uebereinstimmung mit dem letzteren, oder das letztere durch seine Uebereinstimmung mit der ersteren zu rechtfertigen. Im ersten Falle muss das Gesetz, nach welchem die Thatsache geprüft wird, schon vor der Thatsache vorausgegangen und als schlechthin gültig – als ein solches anerkannt seyn, nach welchem die letztere sich richten müsse, da es nicht seine Gültigkeit von der Begebenheit, sondern die Begebenheit die ihrige von ihm erwartet. Im letzten Falle soll das Gesetz entweder selbst, oder die grössere oder geringere Gemeingültigkeit desselben durch die Vergleichung mit der Thatsache gefunden werden.

Nichts verwirrt unsere Urtheile mehr, und nichts macht uns für uns selbst und für andere unverständlicher, als wenn wir diesen wichtigen Unterschied übersehen; wenn wir urtheilen wollen, ohne eigentlich zu wissen, aus welchem Gesichtspuncte wir urtheilen; wenn wir bei gewissen Thatsachen uns auf Gesetze, auf allgemeingültige Wahrheiten berufen, ohne zu wissen, ob wir die Thatsache nach dem Gesetze, oder das Gesetz nach der Thatsache; ob wir den Winkelhaken, oder den Perpendikel prüfen.

Dies ist die reichhaltigste Quelle jener schaalen Vernünfteleien, in die sich nicht nur unsere galanten Herren und Damen, sondern auch unsere gepriesensten Schriftsteller täglich verwirren, wenn sie von dem grossen Schauspiele urtheilen, das uns Frankreich in unseren Tagen gab.

Bei Beurtheilung einer Revolution – damit wir uns unserem Gegenstande nähern – können nur zwei Fragen, die eine über die Rechtmässigkeit, die zweite über die Weisheit derselben, aufgeworfen werden. In Absicht der ersteren kann entweder im allgemeinen gefragt werden: hat ein Volk überhaupt ein Recht, seine Staatsverfassung willkürlich abzuändern? – oder insbesondere: hat es ein Recht, es auf eine gewisse bestimmte Art, durch gewisse Personen, durch gewisse Mittel, nach gewissen Grundsätzen zu thun? Die zweite sagt so viel: sind die zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes gewählten Mittel die angemessensten? Welche der Billigkeit gemäss so zu stellen ist: waren es unter den gegebenen Umständen die besten?

Nach welchen Grundsätzen werden wir nun über diese Fragen zu urtheilen haben? An welche Gesetze werden wir die gegebenen Thatsachen halten? An Gesetze, die wir erst aus diesen Thatsachen – oder wenn auch eben nicht aus diesen, doch aus Thatsachen der Erfahrung überhaupt entwickeln werden: oder an ewige Gesetze, welche gegolten hätten, wenn es auch einmal keine Erfahrung hätte geben können, und gelten würden, wenn auch einst alle Erfahrung aufhören könnte? Wollen wir sagen: recht ist, was am öftersten geschehen ist, und die sittliche Güte durch die Mehrheit der Handlungen bestimmen lassen, wie die kirchlichen Dogmen auf den Concilien durch die Mehrheit der Stimmen? Wollen wir sagen: weise ist, was gelingt? Oder wollen wir lieber gleich beide Fragen zusammennehmen, den Erfolg, als den Probirstein der Gerechtigkeit und der Weisheit zugleich, abwarten und dann, nachdem es kommt, den Räuber einen Held oder einen Verbrecher, den Sokrates einen Missethäter oder einen tugendhaften Weisen nennen?

Ich weiss, dass viele an dem Daseyn ewiger Gesetze der Wahrheit und des Rechts überhaupt zweifeln, und gar keine Wahrheit, als die durch die Mehrheit der Stimmen, und gar keine sittliche Güte, als die durch den sanfteren oder stärkeren Kitzel der Nerven bestimmte zugeben: ich weiss, dass sie dadurch auf ihre Geistigkeit und vernünftige Natur Verzicht thun, und sich zu Thieren machen, die der äussere Eindruck durch die Sinne, zu Maschinen, die das Eingreifen eines Rades in das andere unwiderstehlich bestimmt, zu Bäumen, in denen der Kreislauf und die Destillation der Säfte die Frucht des Gedankens hervorbringt; dass sie sich unmittelbar durch jene Behauptung zu allem diesen machen, wenn ihre Denkmaschine nur richtig gestellt ist. Es ist hier gar nicht meines Vorhabens, ihre Menschheit gegen sie selbst in Schutz zu nehmen, und ihnen zu beweisen, dass sie doch nicht unvernünftige Thiere, sondern reine Geister sind. Sie können, wenn die Uhr ihres Geistes richtig geht, auf unsere Fragen gar nicht fallen, an unseren Untersuchungen gar nicht Theil nehmen. Wie sollten sie zu den Ideen der Weisheit oder des Rechts kommen?

Aber ich sehe, dass auch andere, die solche Urgesetze der Geisterwelt entweder ausdrücklich vertheidigen, oder sie doch, wenn ihre Untersuchungen bis zu dieser äussersten Grenze noch nicht vorgedrungen sind, stillschweigend annehmen und auf Resultate ihrer Ursprünglichkeit bauen, sich schon für eine Beurtheilung nach Erfahrungsgesetzen entschieden haben. Sie haben das unterrichtete Publicum, das seine Sachkunde, seine ihm so am Herzen liegende Sachkunde gern recht vollgültig machen möchte, und das zerstreuete und oberflächliche, das die Arbeit des Denkens scheut, und alles mit seinen Augen sehen, mit seinen Ohren hören und mit seinen Händen betasten will, die begünstigten Stände, die von der bisherigen Erfahrung ein vortheilhaftes Urtheil erwarten – sie haben alles auf ihrer Seite; es scheint für die entgegengesetzte Meinung kein Raum mehr da zu seyn. – Ich möchte gelesen werden; ich möchte Eingang in die Seele des Lesers finden. Was soll ich thun? Versuchen, ob ich nicht auf irgend eine Art mich mit dem grossen Haufen vereinigen könne.

 

 

 

I.

Also die Frage: ob ein Volk ein Recht habe, seine Staatsverfassung zu verändern, – oder die bestimmtere: ob es ein Recht habe, es auf eine gewisse Art zu thun, soll durch Erfahrung beantwortet werden, und ihre Beantwortung wird wirklich durch Erfahrung versucht. – Auf die mehresten Antworten, die man auf diese Fragen gegeben hat und noch täglich giebt, haben Erfahrungsgrundsätze, das heisst hier, im allgemeinsten Sinne des Wortes, deutlich gedachte, oder unbemerkt unserem Urtheile zu Grunde liegende Sätze, die wir auf das blosse Zeugniss der Sinne, ohne sie auf die ersten Grundsätze alles Wahren zurückzuführen, angenommen haben – solche Erfahrungsgrundsätze, sage ich, haben auf die Beantwortung der obigen Fragen auf zweierlei Art einen Einfluss , nemlich theils willkürlich, theils unwillkürlich und mit Bewusstseyn.

Ohne unser Bewusstseyn haben Erfahrungsgrundsätze auf das Urtheil, das wir fällen, einen Einfluss, weil wir sie nicht für Erfahrungsgrundsätze, nicht für Sätze halten, die wir auf Treu und Glauben unserer Sinne angenommen haben, sondern für reingeistige, ewig wahre Grundsätze. – Auf das Ansehen unserer Väter oder Lehrer nehmen wir ohne Beweis Sätze für Grundsätze auf, die es nicht sind, und deren Wahrheit von der Möglichkeit ihrer Ableitung von noch höheren Grundsätzen abhängt. Wir treten in die Welt, und finden in allen Menschen, mit denen wir bekannt werden, unsere Grundsätze wieder, weil auch sie dieselben auf ihrer Eltern und Lehrer Ansehen angenommen haben. Niemand macht uns durch einen Widerspruch aufmerksam auf unseren Mangel an Ueberzeugung, und auf das Bedürfniss, sie noch einmal zu untersuchen. Unser Glaube an das Ansehen unserer Lehrer wird durch den Glauben an die allgemeine Uebereinstimmung ergänzt. Wir finden sie allenthalben in der Erfahrung bestätigt; eben aus dem Grunde, weil jeder sie für ein allgemeines Gesetz hält, und seine Handlungen darnach einrichtet. Wir selbst legen sie unseren Handlungen und unseren Urtheilen zum Grunde, bei jeder neuen Anwendung werden sie inniger mit unserem Ich vereint, und verweben sich endlich so mit demselben, dass sie nicht anders, als mit ihm zugleich zu vertilgen sind.

Dies ist der Ursprung des allgemeinen Meinungssystems der Völker, dessen Resultate man uns gewöhnlich für Aussprüche des gesunden Menschenverstandes giebt, welcher gesunde Menschenverstand aber ebensowohl seine Moden hat, als unsere Fracks oder unsere Frisuren. – Wir hielten vor zwanzig Jahren unausgepresste Gurken für ungesund, und halten heut zu Tage ausgepresste für ungesund, aus eben den Gründen, aus welchen bis jetzt noch die meisten unter uns meinen: ein Mensch könne Herr eines anderen Menschen seyn – ein Bürger könne durch die Geburt auf Vorzüge vor seinen Mitbürgern ein Recht bekommen – ein Fürst sey bestimmt seine Unterthanen glücklich zu machen.

Versucht es nur – ich fordere euch alle auf, die ihr Kantische Gründlichkeit mit Sokratischer Popularität vereinigt,- versucht es, einem ungebildeten Besitzer von Leibeigenen den ersten, oder einem ungebildeten Altadeligen den zweiten Satz zu entreissen; treibt ihn durch Fragen, durch kinderleichte Fragen in die Enge: er sieht eure Vordersätze ein, er giebt sie euch alle...

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