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Berührt - Alltagsgeschichten von Familien mit behinderten Kindern

AutorClaudia Carda-Döring, Heike Schultz, Monika Repp, Rosa M Manso Arias, Tanja Misof, Ulrike Schiessle
VerlagBrandes & Apsel Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783955580902
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Statistisch gesehen hat jeder Achte eine persönliche Verbindung zu einem geistig behinderten Menschen in seiner Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Vor allem dieses Umfeld, aber auch eine breite Öffentlichkeit möchte das Buch erreichen, denn falsche Vorstellungen und Abwehrhaltungen gegenüber dem Alltag von Familien mit behinderten Kindern sind gang und gäbe. Die Autorinnen betreiben keine Schönfärberei, das würde nicht ihrer Lebenserfahrung entsprechen. Die Offenheit und Ehrlichkeit in hren Geschichten haben sie sich durch die langjährige Reflexion in einem gemeinsamen Gesprächskreis erarbeitet. Dort sind sie ihren Gefühlen, Phantasien und Wahrnehmungen auf den Grund gegangen. Dass daraus Geschichten - Miniaturen gelebten Lebens - entstanden sind, ist ein Glücksfall. Miterlebbar wird in diesen Geschichten die Liebe und die Fürsorge dieser Frauen für ihre Kinder, der Kampf um Anerkennung und die Freude über jeden errungenen Sieg. Die kleinen Schritte voran sind die Erfolgserlebnisse, die oftmals Enttäuschungen, Verletzungen und die Traurigkeit erträglich werden lassen: Die Kinder haben ihnen beigebracht, wie nah Weinen und Lachen beieinander liegen, sie haben zu einer Achtsamkeit geführt, die das Menschenbild der Frauen verändert hat. Nicht Klischees und Heile-Welt-Geschichten, sondern berührende Alltagsgeschichten eröffnen den Leserinnen und Lesern eine Welt, die ganz in ihrer Nähe ist. Sechs Frauen haben Geschichten über ihre Kinder geschrieben. Es sind traurige, skurrile, berührende, wütende und witzige Geschichten, die anders sind, anders, weil die Kinder anders sind. Diese Kinder hinterlassen besondere Spuren, denn diese Kinder haben körperliche und geistige Behinderungen. Das Neue und Einzigartige an diesem Buch ist, dass es den Autorinnen gelungen ist, behinderten Kindern Sprache und Ausdruck zu verleihen.

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Leseprobe

Kapitel 3


Diagnosen


DER WEG BIS ZUR DIAGNOSE


Bei uns gab es einen Tag der Diagnose, kurz vor Katharinas erstem Geburtstag, aber bis dahin gab es viele »kleine« Diagnosen, die auch alle sehr schmerzhaft waren. Schon im Krankenhaus hatte ich manchmal ein komisches Gefühl, wenn ich Katharina anschaute. Sie war so anders als ihr Bruder, und ich dachte insgeheim, wenn sie etwas hätte, würde das doch hier keiner bemerken.

Zu Hause wurde dieser Gedanke, dass etwas mit ihr nicht stimmen könnte, immer stärker. Sie war immer verkrampft, ballte ihre Händchen zu Fäusten und schaute immer in eine Richtung beim Wickeln. Auch beim Stillen, das am Anfang eher mühevoll war, konnte sie sich nicht entspannen. Wir hatten schon bald das Gefühl, dass es ihr egal war, ob sie auf unserem Arm, in ihrem Bettchen oder auf der Krabbeldecke lag. Schon kurz nach Katharinas Geburt hatten mein Mann und ich darüber gesprochen, dass mit ihr etwas sein musste, weil sie so anders war. Und ab diesem Moment wurde es Wirklichkeit. Ich konnte das einfach nicht mehr als flüchtigen, dummen Gedanken wegschieben und mir einreden, dass einfach jedes Kind anders ist.

Unsere Hebamme kam am Anfang oft vorbei, weil Katharina so wund war. Sie schaute sich das Kind immer lange an, und wir sprachen auch darüber, dass sie so besonders sei. Ein erster Arztcheck wurde ausgemacht, und Katharina bekam mit neun Wochen Krankengymnastik, damit sich ihre Verkrampfungen lösen. Aber es tat sich nichts. Auch die Therapeutin hatte noch nie ein solches Kind wie Katharina gesehen, und wir überlegten oft, was wohl ihr Geheimnis sei.

Kurz darauf stellten wir uns wieder bei unserer Kinderärztin vor, und mit diesem Besuch wurde es zur endgültigen Gewissheit, dass mit Katharina etwas nicht stimmte – drei Monate war sie da alt. Die nicht altersgemäße Entwicklung wurde von der Ärztin bestätigt, eine Blutentnahme sofort veranlasst und Termine beim Augen- und Ohrenarzt koordiniert. Nach diesem Arztbesuch gab es die ersten wirklichen Risse in der Vorstellung von unserer kleinen heilen Familienwelt. Ich hatte Angst, Angst vor dem, was gefunden wird, aber natürlich auch gleichzeitig die Hoffnung, dass sich alles auflöst, dass Katharina vielleicht nur schlecht hört oder ein Geburtstrauma nach dem Notkaiserschnitt hat.

Die ersten Untersuchungen verliefen ohne Befund, und es wurde ein Termin bei einem Kinderneurologen in einer großen Klinik ausgemacht. In dieser Zeit fühlte ich mich oft so leer und so hilflos. Warum wir? Was hat sie überhaupt? Merkt denn keiner, was wir uns für Sorgen machen?

Schon während der ersten Vorstellung sagte uns der Neurologe, dass Katharina etwas habe. Dass sie sich nicht normal entwickle und dass eine ganze Reihe von Untersuchungen nötig seien, um dies herauszubekommen. Es war wie ein Schlag für uns. In der Woche von dieser Aussage bis zu den ersten großen Untersuchungen ging es mir sehr schlecht. Ich war so schrecklich traurig. Oliver, gerade drei Jahre geworden, hat abends beim Abendessen gesagt: »Papa, die Mama ist immer traurig wegen der Katharina!« Genau so war es auch!

Dann begannen die Untersuchungen, die sich mehrere Monate hinzogen und von denen keine die Erklärung für Katharinas verzögerte Entwicklung geben konnte. Wir waren seltsam hin- und hergerissen. Auf der einen Seite waren wir über alles froh, was nicht gefunden wurde. Auf der anderen Seite wollten wir endlich wissen, was Katharina hat, denn die Schere zu Gleichaltrigen wurde immer größer.

Als Katharina mit zehn Monaten die ersten epileptischen Anfälle hatte, hat sich die Suche noch verschärft. Mit so etwas hatten wir nie und nimmer gerechnet, und weitere Untersuchungen und ein Krankenhausaufenthalt folgten. Die ganze Zeit dachten wir eigentlich, es kann doch nicht noch schlimmer werden. Unser Wunsch, endlich herauszubekommen, was sie hat, wurde immer stärker. In dieser Zeit wurde Katharina Blut entnommen, um gezielt eine Untersuchung des 15. Chromosoms auf das Angelman Syndrom durchzuführen. Unser Neurologe hatte diesen Verdacht geäußert. Ich wollte gar nicht wissen, was das für uns bedeutet, falls es sich bestätigen sollte. Ich hatte schon einmal nach einer vermuteten Krankheit recherchiert und nur schreckliche Krankheitsverläufe gefunden und wollte jetzt abwarten, ob es das überhaupt ist.

Dann kam mittags der Anruf von unserem Arzt, der mir sagte, dass das Ergebnis der Blutuntersuchung vorliege und dass Katharina das Angelman Syndrom habe. Ich weiß noch, dass ich nachfragte, was das denn jetzt für uns bedeute. Er wollte am Telefon nicht so recht heraus mit der Sprache, hat mit uns sofort für den nächsten Tag einen Gesprächstermin ausgemacht und auf mein Nachfragen sagte er mir, dass es sich um einen genetischen Defekt handele und Katharina damit eine Behinderung habe, die nicht mit Tabletten zu behandeln sei. Ich nahm alles wie durch einen Nebel war. Der einzige, dem ich sofort Bescheid sagen konnte, wollte, musste, war G., und ich weiß gar nicht genau, ob er mich richtig verstanden hat.

Am Abend hatten wir einen Termin mit unserem Steuerberater mit dem endlich ungeklärte Steuerdinge besprochen werden sollten. Typisch für uns, dass wir diesen Termin nicht abgesagten, sondern brav über Belege und Werbungskosten gesprochen haben. Die ganze Zeit haben G. und ich uns dabei nicht in die Augen gesehen – ich glaube, ich wäre sonst komplett ausgeflippt. Danach war dann endlich die Zeit für uns – als die Kinder im Bett waren –, gemeinsam traurig zu sein. Ich weiß auch noch, dass das G., für den sicherlich genauso viel zusammengebrochen ist wie für mich, gar nicht wollte. Aber wenn wir nicht an diesem Abend traurig sein konnten, wann dann?

Im Nachhinein hat sich genau das als großes Problem für unsere Partnerschaft im Zusammenhang mit Katharina gezeigt: Mein Mann will nicht traurig sein, obwohl er es sicher ist, und ich brauche genau dieses Gefühl, dass es dem anderen ähnlich geht und man sich gegenseitig tröstet.

Auch später, als wir die Nachricht unseren Familien erzählten, hat jeder seine Trauer und seinen Schock nach Hause mitgenommen und im stillen Kämmerlein mit sich ausgemacht. Wie viel besser wäre es für uns alle gewesen, wir hätten mal ordentlich zusammen geheult!

An diesem Abend hatten wir uns noch überlegt, was für uns das Schlimmste wäre, was uns der Arzt am nächsten Tag im Zusammenhang mit dem Syndrom erzählen könnte. Am Allerschlimmsten waren für uns die Vorstellungen, dass Katharina nicht sprechen lernt, nicht laufen lernt und die Lebenserwartung nur kurz wäre.

Am nächsten Morgen bin ich dann ganz früh aufgewacht und wusste nur noch, dass etwas Schreckliches passiert ist. Bis es mir eingefallen ist – und ich habe mich gefühlt, als sei jemand mir Nahestehendes gestorben. Drei Monate zuvor war mein Vater an Krebs verstorben, und genau dieses Gefühl, das ich damals nach seinem Tod hatte, hatte ich jetzt wieder.

Mittags haben wir uns mit Katharina dann auf den Weg zum Arzt gemacht. Auch jetzt kam nur sehr wenig Halt aus meiner Familie. Wahrscheinlich wusste keiner, was er uns wünschen sollte bei diesem Arztbesuch und wie man uns verabschieden sollte. Ich wusste es ja selbst nicht.

Unser Neurologe nahm sich viel Zeit für uns, und wir waren auch relativ gefasst. Denn eins war uns beiden klar: Diese Diagnose ändert ja nichts an unserer Katharina, die uns mit ihren himmelblauen Augen und ihrem glucksenden Lachen verzaubert. Und dann bekamen wir die Informationen, auf die wir fast ein Jahr gewartet haben – eine Erklärung zum Angelman Syndrom, die genetische Ursache und den zu erwartenden Entwicklungsverlauf. Tatsächlich gehört das »Nicht-sprechen-Lernen« zu den Besonderheiten des Angelman Syndroms. Viele Kinder mit Angelman Syndrom können aber das Laufen erlernen, und die Altersentwicklung ist völlig normal.

Wieder zu Hause haben wir meine Mutter und meine Schwester informiert, die beide ziemlich durcheinander und geschockt waren. Schon am nächsten Tag haben wir Kontakt mit dem Selbsthilfeverein aufgenommen, um mehr über diese Behinderung zu erfahren. Freunde haben uns dabei auch mit Infos aus dem Internet sehr geholfen.

Direkt nach der Diagnose gab es also zwei Seiten: Die eine war, möglichst viel zu erfahren über das, was unsere Tochter hat, und wie die zu erwartende Entwicklung aussieht. Auf der anderen Seite wollten wir unseren Familien, den Freunden und dem Umfeld, das uns die ganzen Monate der Suche zur Seite gestanden hat, davon erzählen. Begleitet wurde alles von der eigenen Trauer, von der endgültig verlorenen Vorstellung, die wir einmal von unserer eigenen Familie hatten.

In der ersten Zeit bin ich jedes Mal in Tränen ausgebrochen, wenn ich von Katharinas diagnostizierter Behinderung erzählt habe. Das hat sich inzwischen verändert. Es ist eher so, dass ich meine unwissenden Gesprächspartner genau beobachte, wenn ich von meiner behinderten Tochter erzähle. Können sie damit fertig werden und was sagen sie? Wird nachgefragt, wird schnell das Thema gewechselt, bekomme ich...

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