Wie im vorherigen Abschnitt dargestellt, nimmt der Umgang von digitalen Medien einen wesentlichen Stellenwert im Alltag von Jugendlichen ein. In diesem Kapitel wird nun auf die Merkmale des Social Web eingegangen, in denen Jugendliche nicht nur miteinander kommunizieren, sondern auch persönliche Informationen austauschen und veröffentlichen. In diesem Zusammenhang wird zuerst der Begriff Web 2.0 und die damit verbundenen pädagogischen Hoffnungen erläutert, um danach detaillierter auf die Verwendung der Begrifflichkeiten des Social Web und der Social Software einzugehen, die Jugendliche für ihre Social Web Praktiken instrumentalisieren.
Der Begriff Web 2.0 wurde erstmals von dem IT-Manager ERIC KNORR im Dezember 2003 in dem Artikel 2004 - The Year of Web Services verwendet. Für ihn kennzeichnet das Web 2.0, in Anlehnung an SCOTT DIEZEN, dem technischen Direktor von BEA Systems, die sukzessive Ausgliederung von Netzwerkdiensten, wodurch das Internet zu einer universellen, standartbasierten Plattform wird, dessen Infrastruktur des Web 1.0 auf http, TCP/IP und HTML basiert.
Als Resümee der ersten Web 2.0 Conference im Oktober 2004 definiert TIM O’REILLY das Web 2.0 in dem Artikel What is Web 2.0 als eine geschäftliche Revolution in der Computerindustrie, die auf der Auslagerung ins Internet als Plattform und dem Verstehen seiner Erfolgsregeln basiert (vgl. ebd.).
„ Web 2.0 is the business revolution in the Computer industry caused by the move to the internet as platform, and an attempt to understand the rules for success on that new platform. Chief among those rules is this: Build applications that harness network effects to get better the more people use them. (This is what I've elsewhere called "harnessing collective intelligence.") " (O’Reilly 2010, Hervorheb. im Original).
Die Begriffserweiterung „2.0“ suggeriert, in Anlehnung an die Weiterentwicklung eines Softwareprogramms, den innovativen Fortschritt der Onlinedienste und -anwendungen hinsichtlich ihres Funktionsumfangs und den daraus resultierenden Möglichkeiten für die Nutzer (vgl. Schmidt 2009, S. 11).
Beide Definitionen beinhalten außerdem den ökonomischen Aspekt des Outsourcings, bei dem vergleichbar mit dem Prinzip des Cloud Computings Arbeitsschritte von ganzen Unternehmensabteilungen oder Lerngruppen ins Internet verlagert werden. D.h. Datensätze und Textdokumente werden mittels Onlineanwendungen wie Google Docs kollektiv von mehreren Mitarbeitern eines Unternehmens oder Privatpersonen auf Servern verwaltet bzw. weiterentwickelt. O’REILLYs Formel „The Web as a platform“ weist außerdem darauf hin, dass im Internet bzw. innerhalb des WWW, das selbst eine browserabhängige Anwendung ist, die sich der Infrastruktur des Internets (Servern und Computern) bedient, vermehrt Software bereitgestellt und weiterentwickelt wird. Desktopanwendungen, die auf dem Firmencomputer oder PC installiert sind, werden zunehmend zu browserintegrierten Anwendungen, die sowohl auf Datenbanken im Internet als auch auf Dateien des lokalen Computers zugreifen können. Als Beispiele dienen einerseits des Suchmaschinenanbieters Google, der Onlineanwendungen wie Google Docs und Google Kalender anbietet, die der Organisation des Tagesablaufes oder speziell für den Arbeitseinsatz konzipiert wurden. Ein weiteres Beispiel sind Webspace-Dienste, die den Usern Speicherplatz (derzeit bis zu 200GB) auf den Providerservern zur Verfügung stellen und ebenso wie die zuvor genannten Anwendungen globales Arbeiten im Internet möglich macht, ohne dabei an lokale Ressourcen wie den PC gebunden zu sein.
Das Web 2.0 ermöglicht es ebenfalls Webdienste miteinander zu kombinieren, „die auf technischen Standards für den Austausch von Daten zwischen Anwendungen beruh[en]“ (Schmidt 2009, S. 13f.). So ermöglichen Application Programming Interfaces (API) Daten eines Dienstes wie Google Maps auf mehreren Plattformen wie holidaycheck.de einzubetten, auf dessen Seiten Nutzer Hotels bewerten und ihre Eindrücke durch Fotos veranschaulichen können.
In den Äußerungen von O’REILLY wird deutlich, dass das Web 2.0 neben dem Outsourcing von Anwendungen und der Kombination einzelner Webdienste im Wesentlichen als ein neues Geschäftsmodell konzipiert wurde. Das Konzept „the long tail“ verweist darauf, dass im Internet die Erschließung bestimmter Nischenmärkte und die Befriedigung von speziellen Bedürfnissen wie Musik oder Filmen aufgrund der kostengünstigen Lagerung und Distribution dieser medialen Güter sehr lukrativ und profitabel zu sein scheint (Anderson 2006). Das Prinzip des „User-Generated Content“ (UGC) kennzeichnet Medieninhalte, die nicht durch die professionellen Provider von Onlinediensten produziert werden, sondern in kreativer Eigenleistung durch den Internetuser selbst, der sie anschließend der Internetöffentlichkeit in sozialen Räumen wie Foren, Weblogs oder Online Communities präsentiert (vgl. Bauer 2010; OECD 2007, S. 9). Jugendliche nutzen derzeit vorzugsweise ihr Handy, um Videos oder Fotos aufzunehmen und anschließend ins Netz hochzuladen. Nutzergenerierte Inhalte werden primär für non-kommerzielle Zwecke wie die Weitergabe an Freunde produziert. Allerdings versuchen einige Anbieter wie Myvideo den UGC zu monetisieren, indem sie ihn zu Werbezwecken nutzen[21]. BRUNS (2008) fast diesbezüglich drei Strategien bzw. Geschäftsmodelle zusammen: „Harnessing the Hive“[22], „Harvesting the Hive“[23], „Hijacking the Hive“[24], die die Vermarktung nutzergenerierter Inhalte beabsichtigen (S. 30ff., Hervorheb. im Original). Aufgrund dieser Modelle wird auch kritisch von „loser - generated content“ gesprochen, bei dem der Produzent der Medieninhalte aufgrund der Vermarktung seines Erzeugnisses unfreiwillig zu einem „working consumer“ wird (Peterson 2008; vgl. Kleemann, Voß & Rieder 2008).
Das dritte Merkmal von Web 2.0 zeigt sich am Wandel der computergestützten Interaktion und Kommunikation[25]. Der Computer wird von den Usern nicht mehr nur als Maschine zur Lösung von Rechenaufgaben verstanden, sondern er ermöglicht einen Zugang zu Wissen und Information, was auf Datenbanken wie Wikipedia bereitgestellt wird und zudem in Kollaboration weiterentwickelt wird. Der Grundstein zur hypertextuellen Verknüpfung von Daten und Dokumenten wurde bereits in den 1980er Jahren durch die Forschungsgruppe am Genfer Institut CERN gelegt. Jeder Nutzer bzw. jede Personengruppe, die Informationen ins Internet hochladen und mit anderen Inhalten verknüpft, wird zu einem potentiellen Sender, die an der Konstruktion von Öffentlichkeit partizipiert. Dieser Gedanke kann von zentraler Bedeutung für die Realisierung der Demokratie sein[26] (vgl. Habermas 1990). Das Web 2.0 enthält das Leitbild vom Internet als unabhängiges Medium, das einen „dezentralen und nicht kontrollierbaren sozialen Raum“ darstellt, indem eigenen Normen und Formen der sozialen Organisation gelten, die sich gegen stattliche Kontrollen behaupten (Schmidt 2009, S. 20f.).
Während das Web 1.0 noch auf statischen und über lange Zeit bestehende HTML Seiten basierte, deren Inhalte nur durch technisch ausgebildete Web-Administratoren verändert werden konnten, so besitzen nun auch private Internetnutzer die Möglichkeit, eigene
Webinhalte einzustellen und somit gleichzeitig die Struktur und das Angebot von Webdiensten wie dem WWW (World Wide Web) mitzugestalten. Das Web 2.0 führe somit zu einer veränderten Wahrnehmung und Nutzung des Internets und seiner Anwendungen, die einerseits der Weiterentwicklung der individuellen Identität, der Kommunikation zwischen Einzelpersonen oder Gruppen sowie der Informationsverwaltung dienen[27]. Der Mediennutzer vollzieht im Zuge der interaktiven Nutzung des Internets einen Rollentausch. Er wird vom passiven Rezipienten bestimmter Medieninhalte zu einem aktiven Produzenten und Distributoren seiner eigenen Medienprodukte, falls eine monetäre Absicht besteht (vgl. Ertelt 2008, S. 51).
Zusammenfassend stellt der Begriff Web 2.0 eine Sammelbezeichnung für die innovative Entwicklung der Internettechnologien und der damit verbundenen Leitbilder des Erschließens neuer Wirtschaftszweige und Hoffnungen hinsichtlich der aktiven Partizipation einzelner Bevölkerungsgruppen am dynamischen, gesellschaftlichen Wandel dar. Allerdings ist der technologische und ökonomische Fortschritt, die durch den Zusatz 2.0 suggeriert wird, überwiegend ausgeblieben. Befürworter verweisen darauf, dass das Web 2.0 die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Personen sowie die Distribution von Inhalten verbessert (vgl. Tapscott & Williams 2007, S. 19). Einige Forscher warnen hingegen vor dem Verfall von Privatsphäre oder der Verbreitung von unvollständigen Information, die durch Laien auf Onlineenzyklopädien wie Wikipedia publiziert werden (vgl. Gaschke 2009; Lanier 2006). Aus technischer Perspektive existierten heutzutage populäre und häufig genutzte Web 2.0- Anwendungen wie Wikis, Weblogs oder Netzwerkplattformen bereits seit Ende der 1990er Jahre. Kommunikationsdienste wie Email und Instant Messenger werden sogar seit der Vorstufe des Internets, Ende der 1960er Jahre, für den kommunikativen Austausch zwischen einzelnen Forschungsinstituten genutzt (vgl. Schmidt 2009, S. 14f.).
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