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E-Book

Das Gehirn

Ein Lehrbuch der funktionellen Anatomie für die Psychologie

AutorRainer Bösel
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783170228290
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Bau und Funktion des menschlichen Gehirns gehören zu den aufregendsten Themen in Forschung und Lehre. Dieses kleine Organ ermöglicht Bewusstsein und mit seiner Hilfe entstehen Zivilisationen. Seine Leistungsfähigkeit beruht auf einer einmaligen Vernetzung von Zellen, die gleichzeitig aktiv sind und sich in einer komplizierten räumlichen Anordnung wechselseitig kontrollieren. Dieses Buch beruht auf einer sorgfältigen Auswahl der zugrunde liegenden Literatur, es ergänzt die anatomische Beschreibung um funktionelle Hinweise und besitzt übersichtliche Abbildungen. Damit liegt eine verständliche Einführung in die Arbeitsweise und die Architektur des Gehirns für Studierende und interessierte Laien vor.

Prof. Dr. Rainer M. Bösel ist Leiter der Arbeitsgruppe Kognitive Neuropsychologie an der Freien Universität Berlin.

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Leseprobe

Vorwort


„I want to sell neuroanatomy as a kind of psychology –
as its most concrete and ultimative form.“

(Valentin Braitenberg, vergleichender Anatom und
biologischer Kybernetiker, 1977, S. 1)

Die Anatomie ist zunächst die Kunst des Aufschneidens und Zergliederns. Der Zweck der Anatomie liegt jedoch darin, zu einem vertieften Verständnis über Bau und Funktion eines Organsystems zu gelangen. Insofern ist die Anatomie auch die Lehre von der Architektur und vom (evolutionstheoretisch rekonstruierten) Bauplan eines Organsystems.

Das Nervensystem des Menschen, vor allem das Gehirn, dient der Informationsverarbeitung. Die Psychologie geht davon aus, dass die Verhaltensäußerungen und das Erleben Resultate dieser Informationsverarbeitung sind. Insofern beruht auch die Architektur des Denkens auf der Architektur des Gehirns. Wenn wir das Denken verstehen und verbessern wollen, müssen wir mehr über die Architektur des Gehirns lernen. Angewandte Psychologie muss ebenso wie jede technische Entwicklung auf Verträglichkeit und Ergonomie achten. In diesem Buch wurden daher auch Kapitel eingefügt, die die Verbindung zu anderen Perspektiven der Beschreibung (z.B. von Netzwerkmechanismen) oder der möglichen Anwendung (z.B. im Hinblick auf Sozialverhalten) herstellen sollen. Diese Kapitel sind als Überblickskapitel so abgefasst, dass sie den Zugang zu den basalen Mechanismen der Informationsverarbeitung auch Studienanfängern und interessierten Laien ermöglichen.

Die Beschreibung der funktionellen Architektur des Gehirns wird allerdings rasch zum Problem, wenn die passenden Beschreibungskonzepte fehlen. Die Qualität der im Gehirn transportierten Informationen und deren Veränderung im Zuge der biologischen Netzwerkverarbeitung kann ja nicht direkt sinnlich erfasst werden. Manchmal stehen nur Metaphern zur Verfügung, um solche Prozesse nachvollziehbar zu machen. Möglicherweise gibt es aber auch ein grundsätzliches Problem, weil die Beschreibungsmethoden letztlich durch das Untersuchungsobjekt selbst zur Verfügung gestellt werden. Kann sich das Gehirn überhaupt selbst verstehen? Es gibt berechtigte Hoffnung dafür. Die Art des Verständnisses wird nämlich stets vom Verstehenszweck her bestimmt. Auch ungefähre Zusammenhänge zwischen Hirnfunktionen und Verhalten können für konsiliarische oder therapeutische Zwecke bereits hilfreich sein. Unabhängig vom unterschiedlichen, individuellen Erfahrungshintergrund folgen die Grundprinzipien des Verstehens, Handelns und Lernens stets den gleichen Gesetzen. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist die Wirklichkeit, die unser Gehirn aufgrund von Evolution und biologisch verankerter Lernfähigkeit konstruiert. Eine solche Konstruktionsleistung liegt auch dann vor, wenn wir versuchen, ein Verständnis von Hirnfunktionen jenseits von missverständlichen Metaphern aufzubauen.

Allerdings gibt es bei der wissenschaftlichen Beschreibung von Hirnfunktionen sehr hohe Vorerwartungen an die Ergebnisse, teils aufgrund bestimmter erkenntnistheoretischer Herangehensweisen, teils aufgrund spezieller Moralvorstellungen. Viele Menschen sind zum Beispiel überzeugt, dass das menschliche Gehirn mit seinem Wissen und Können versucht, sich ein möglichst zutreffendes Bild von der Welt zu konstruieren. Dies ist offenbar weder möglich, noch im Sinne der Biologie. Aus neuropsychologischer Sicht leistet das Gehirn lediglich die Rekonstruktion und Nutzung einer Wirklichkeit, in der eine Person so weit handlungsfähig ist, als es die Selbstorganisationskräfte der Lebensfunktionen vorantreibt, die letztlich dem Schutz, dem Informationsaustausch und der Ausbreitung dienen. Wir würden z.B. auf Probleme stoßen, wenn wir etwa spezielle Hirnfunktionen beim Autofahren beschreiben wollten, da diese Funktionen bisher bei der Evolution keine Rolle gespielt haben. Sie werden – wegen ständiger Änderungen in der Mobilitätstechnologie – auch in Zukunft keine evolutionswirksame Rolle spielen. Ähnliches trifft für andere Funktionen zu, die nur aufgrund individueller Lern- oder Anpassungsprozesse bei hoher Variabilität im Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Hirnfunktionen ermöglicht werden.

Dennoch wäre gerade bei der Beschreibung von Hirnfunktionen eine gemeinsame Sprache von Natur- und Kulturwissenschaften wünschenswert. Dies geht freilich nur über einen interdisziplinären Diskurs, in dem nicht nur über die verschiedenen Ebenen und Perspektiven des wissenschaftlichen Herangehens, sondern auch über deren wechselseitige Beziehungen verhandelt wird. Als Ort dieses Diskurses bietet sich vor allem die Disziplin an, die von ihren Kernfragestellungen her subjektive und objektive Urteile ins Verhältnis setzt, nämlich die psychologische Grundlagenforschung. Sie wurde als experimentelle Psychologie entwickelt und findet gegenwärtig mit ihren Ausprägungen in den Cognitive and Brain Sciences, in der kognitiven Neuropsychologie oder in der Neurokognition zunehmend starke Bedeutung. Nicht zuletzt indem sie Verhalten und Erleben in gleichem Maße berücksichtigt, eignet sie sich besonders als humanwissenschaftliche Leitdisziplin an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaften.

Die psychologische Grundlagenforschung besitzt – und das macht sie so interessant – den Vorzug, über zahlreiche, sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden zu verfügen. Auch für die funktionelle Hirnanatomie ist es erforderlich, sich mit anatomischen und vergleichend-anatomischen Befunden zu beschäftigen, mit Kernspin- und topographischen EEG-Daten, mit experimenteller Stimulation und den Folgen von Hirnverletzungen, mit biochemischen Befunden und mit Befunden zu Erlebens- bzw. systematischen Selbstberichtsdaten. In der psychologischen Grundlagenforschung gibt es mittlerweile eine brauchbare Erfahrungsgrundlage dazu, welche Kovariationen zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Messebenen üblicherweise unter bestimmten Bedingungen zu erwarten sind. Dies ermöglicht es in hohem Maße, die Gültigkeit einer psychologischen Aussage zu überprüfen.

Beim Gegenstand des vorliegenden Buches, der funktionellen Hirnanatomie, sind die Beziehungen zwischen biologischem Organ und den zu beobachtenden Wirkungen keineswegs immer evident. Die einschlägigen Befunde bestehen aus Kovariationen zwischen Daten, deren Zusammenhang oft noch unzureichend geklärt ist oder nur mit komplizierten und noch nicht allgemein akzeptierten Modellvorstellungen deutlich gemacht werden kann. Insofern ist das Buch im Grunde kein Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Arbeitsbuch, das die gegenwärtige Befundlage für das Studium handhabbar machen möchte. Vielleicht regt es auch dazu an, das Verständnis für den Zusammenhang zwischen den uns mitgegebenen Gehirnfunktionen und dem Empfinden, Urteilen und Zielsetzen von einzelnen Personen und Gemeinschaften weiter zu vertiefen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass es zu einer zweckmäßigen und nachhaltigen Nutzung dieser einmaligen Ressourcen beiträgt.

Die in diesem Buch verwendete anatomische Terminologie orientiert sich weitgehend an den Empfehlungen des Federative Committee on Anatomical Terminology (FCAT, 1998). Bei den deutschen und englischen Bezeichnungen wurde auf den üblichen Gebrauch in Lehrbüchern bzw. in den zitierten Einzelveröffentlichungen Rücksicht genommen. Allerdings ist im Hinblick auf die Terminologie zu berücksichtigen, worauf der vergleichende Anatom und evolutionäre Erkenntnistheoretiker Rupert Riedl hingewiesen hat: „Beständige Namen sammeln zu wollen, ist die trügerische Hoffnung des Laien, die Ordnung selbst zu erfahren, das lohnende Streben des Könners“ (leicht verändert nach Riedl, 1963, Vorwort). Die funktionellen Angaben orientieren sich am gegenwärtigen Stand, das gesamte Gebiet befindet sich jedoch in einer stürmischen Entwicklung. Es war das Ziel dieses Buches, eine repräsentative und übersichtliche Auswahl zu treffen. Um jederzeit den Anschluss an die aktuelle Literatur zu ermöglichen, gibt es Angaben zu Talairach-Koordinaten in den Fußnoten. Damit sollte das Buch die Voraussetzungen erfüllen, um als Orientierungshilfe in der Lehre zu den Modulen über Gehirn und Verhalten und in der psychologischen Grundlagenforschung verwendet werden zu können.

Das Buch entstand durch die Mithilfe zahlreicher Personen. An erster Stelle möchte ich mich bei allen Studierenden bedanken, die in den einschlägigen Lehrveranstaltungen durch Fragen und Diskussionen dazu beigetragen haben, dass der Stoff den Bedürfnissen des Studiums entsprechend angepasst und aufbereitet wurde. Danken möchte ich ferner allen Personen, die mich bei der Sammlung von Materialien unterstützt haben. Frau Professor Renate Graf und Evelyn Heuckendorf (Institut für Anatomie der Charité Berlin) ermöglichten mir mehrmals die Anfertigung von anatomischen Fotos. Ai-Leen Saw und Sascha Tamm haben mir dabei geholfen. Bei der Literaturrecherche und bei der Lektorierung der Texte hat sich Claudia Männel tatkräftig beteiligt. Bei Lore Naumann bedanke ich mich für die Anfertigung von neun Zeichnungen (Abb. 4.2 a und b, 5.3 b, 5.5 b, 6.5, 7.1 a und b, 10.2, 13.4). Meinem Freund Professor Fritz Wysotzki (Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz am Institut für Theoretische Informatik, Technische Universität Berlin) verdanke ich manche Anregungen, nicht zuletzt für das Kapitel Nervennetzwerke. Bei meiner Frau und vielen Personen meiner persönlichen Umgebung bedanke ich mich dafür, dass sie mich auch dann ertragen haben, wenn ich mit der Arbeit an diesem Buch beschäftigt war.

Berlin, im Frühjahr...

Blick ins Buch

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