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Das Normalisierungsprinzip und die Selbstbestimmung im Hinblick auf Wohnmodelle für Menschen mit geistiger Behinderung

AutorFriederike Jung
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl79 Seiten
ISBN9783656826606
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Akademische Arbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Pädagogik - Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Note: 1,4, Justus-Liebig-Universität Gießen, Sprache: Deutsch, Abstract: Ein Rückblick in die Geschichte der Umsetzung verschiedener Denkmodelle über geistige Behinderung ab 1933 eröffnet diese Arbeit. Zentraler Gegenstand ist dann die Schilderung des Normalisierungsprinzips in seiner Entstehung und weiteren Ausformulierung. Abschließend wird seine Rezeption in Deutschland geschildert. Ausgewählte Wohnformen für Menschen mit geistiger Behinderung werden unter dem Aspekt von Normalisierung und Selbstbestimmung im nächsten Kapitel betrachtet, wobei Wohnbedürfnisse zur Beurteilung hinzugezogen werden. Der Schwerpunkt dabei soll auf dem Normalisierungsprinzip als Grundvoraussetzung für ein normalisiertes und integriertes Leben von Menschen mit geistiger Behinderung liegen. Während drei Formen des Wohnens vorwiegend anhand von Literatur dargestellt werden, erfolgt die Betrachtung der vierten im Rahmen einer eigenen Beobachtungsstudie. Diese fällt im Vergleich zu den übrigen etwas umfangreicher aus. Das darauffolgende Kapitel beinhaltet eine Interpretation und Reflexion der gewonnenen Ergebnisse. Das letzte Kapitel bildet das Fazit der Arbeit.

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Leseprobe

3. Das Paradigma der Selbstbestimmung


 

Wie bereits festgestellt wurde, löst das Paradigma der Selbstbestimmung das Normalisierungsprinzip nicht ab. Dessen Forderungen verlieren nicht an Bedeutung. Rudi Sack ist der Ansicht, daß sie im Gegenteil durch die Leitidee der Selbstbestimmung sogar noch unterstrichen werden.[79]

 

Anhand einiger Definitionen soll zunächst erläutert werden, was der Begriff der Selbstbestimmung beinhaltet.

 

3.1. Das Verständnis von Selbstbestimmung


 

Das heutige Alltagsverständnis von Selbstbestimmung ist nach Theo Klauß charakterisiert durch

 

- das Anrecht auf möglichst viel Freiheit und wenig äußeren Einfluß bei individueller Selbstverwirklichung

 

- Unabhängigkeit von äußeren Vorgaben und Begrenzungen bei der Realisierung eigener Wünsche und Bedürfnisse

 

- die Wahl zwischen möglichst vielen Alternativen

 

- die Möglichkeit, tun und leben zu können, was und wie man möchte.[80]

 

Gleiches läßt sich auch bei Heinz Mühl nachlesen. Nach ihm bedeutet der entsprechende Gegenbegriff »Fremdbestimmung«, „tatsächlich oder zumindest nach der eigenen Befindlichkeit von anderen bestimmt oder überstimmt zu werden“[81].

 

Selbstbestimmung ist nie absolut, sondern relativ. Sie kann eingeschränkt sein durch existenzielle, institutionelle, gesellschaftliche oder persönliche Rahmenbedingungen, ebenso durch Mit- und Selbstbestimmung anderer.[82] Daher liegen die Grenzen der Selbstbestimmung dort, wo sie diejenige anderer in Frage stellt.[83] Doch durch die bloße Abwesenheit externer physischer oder gesetzlicher Hindernisse ist nach Klauß noch keine Selbstbestimmung gegeben.[84] Sie kann nach ihm

 

„als Prozess verstanden werden, bei dem ein Mensch sich an dem orientiert, was ihm insgesamt, als »Selbst«, das Wichtigste ist, was aber nie ganz eindeutig zu erkennen ist, so dass Selbstbestimmung immer einen prozesshaften, aktiven, suchenden Charakter hat“[85].

 

Selbstbestimmung ist nicht gleichzusetzen mit Selbständigkeit. Den Unterschied beschreibt Urs Haeberlin wie folgt:

 

„‚Selbständigkeit’ als optimale Unabhängigkeit von Unterstützung ist ein objektiver Tatbestand und als solcher beobachtbar und meßbar. ‚Selbstbestimmung’ hingegen ist ein subjektives Lebensgefühl und als solches nicht beobachtbar und meßbar. ‚Selbständigkeit’ ist durch geplante Ausbildung optimierbar... ‚Selbstbestimmung’ hingegen als individuell erfaßbares Lebensgefühl ist nicht im gleichen Sinne durch (sonder-) pädagogische Maßnahmen machbar. Denn diese haben notwendigerweise immer eine fremdbestimmte Komponente, die im Widerspruch von Selbstbestimmung steht.“[86]

 

Selbständigkeit ist auch keine Vorbedingung für Selbstbestimmung.[87] Ein Mensch kann zur selbständigen Durchführung eines Anliegens aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sein. Wird dem Wunsch aber durch andere entsprochen, kann man dennoch von Selbstbestimmung sprechen. Genauso wenig wird Selbstbestimmung durch Selbständigkeit garantiert. Menschen können selbständig, aber auf Anweisung anderer handeln. In dem Moment sind sie fremdbestimmt. Dementsprechend betrachtet Klauß Selbständigkeit als günstige, aber eben nicht hinreichende Voraussetzung für Selbstbestimmung.[88]

 

Selbstbestimmung ist bei Abhängigkeit möglich, wenn diejenigen, von denen man abhängig ist, sie zulassen und ermöglichen. Daraus ergeben sich zwei Arten der Selbstbestimmung: Bei Bedürfnissen, die unabhängig von anderen Menschen befriedigt werden können, fallen Selbstbestimmung und Selbständigkeit zusammen. Bei Bedürfnissen, in deren Befriedigung man von anderen abhängig ist, heißt Selbstbestimmung, daß diese Bedürfnisse anderen mitgeteilt werden und diese sich darauf einlassen. Die zweite Form setzt Kommunikation und die Bereitschaft und Fähigkeit der anderen zur Assistenz voraus.[89]

 

Es soll nun der Frage nachgegangen werden, wie es um die Selbstbestimmung von Menschen bestellt ist, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung verstärkt von der Unterstützung ihrer Betreuer abhängig sind.

 

3.2. Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung


 

Alle Menschen leben in Abhängigkeit von anderen. Vollkommene Autonomie gibt es nicht, denn sonst wäre menschliches Zusammenleben nicht möglich. Menschen begeben sich auch freiwillig in Abhängigkeiten, sei es privater oder beruflicher Art. Sie müssen sich dadurch nicht zwangsläufig fremdbestimmt fühlen.[90]

 

Das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung ist im Gegensatz zu dem ihrer nichtbehinderten Mitmenschen besonders von Fremdbestimmung geprägt, da sie meist in einem lebenslangen Abhängigkeitsverhältnis zu Eltern und Betreuern stehen. Selbstbestimmung wird ihnen vorenthalten, Entscheidungen werden ihnen abgenommen, auch wenn dies nicht notwendig ist. Martin Th. Hahn spricht in diesem Zusammenhang von einem „Mehr an sozialer Abhängigkeit“[91]. In der Selbstbestimmung sieht Hahn eine unabdingbare Voraussetzung für menschliches Wohlbefinden.[92] Auf dieser Annahme aufbauend dürfte folglich auch dieses und somit auch die Lebensqualität bei Menschen mit geistiger Behinderung deutlich eingeschränkt sein.

 

Die Gründe für die Fremdbestimmung geistig behinderter Menschen selbst im Erwachsenenalter liegen meines Erachtens in erster Linie darin begründet, daß Menschen mit geistiger Behinderung am Erwachsenwerden gehindert werden.

 

Aus dem Grunde soll an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Thema Erwachsensein erfolgen.

 

Exkurs: Erwachsensein

 

Da es in der vorliegenden Arbeit um Wohnformen für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung geht, scheint es angebracht, das Verständnis von Erwachsensein sowohl allgemein als auch im Zusammenhang mit geistiger Behinderung kurz zu erläutern.

 

Man könnte es damit bewenden lassen, die bloße Volljährigkeit zur Definition heranzuziehen. Doch bedeutsamer als das biologische Alter scheinen andere Aspekte des Erwachsenseins. Dies sind zum einen solche, die in Form von gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen die Meßlatte sehr hoch legen und von Menschen mit geistiger Behinderung aus den verschiedensten Gründen der Beeinträchtigung schwerer zu erfüllen sind. Zum anderen sind es psychologische Bedürfnisse und Prozesse, die natürlicherweise bei Menschen mit geistiger Behinderung in gleicher Weise vorhanden sind wie bei nichtbehinderten Menschen. Sie werden jedoch häufig von der Umwelt ignoriert oder behindert.

 

Einige Aspekte des Erwachsenseins sollen nachfolgend betrachtet werden.

 

Erwachsensein aus psychologischer Sicht

 

Der Abschnitt des Erwachsenenalters gilt psychologisch inzwischen nicht mehr nur defizitär als fortschreitender Abbauprozeß[93], sondern vielmehr als „eine Periode des zunehmenden interpersonalen Austausches und der vermehrten Übernahme sozialer Rollen im Lebenszyklus“[94].

 

Es läßt sich weniger ein erreichter abgeschlossener Zustand des Erwachsenseins festmachen. Die Entwicklungsspsychologie wie auch die pädagogische Anthropologie betrachten Entwicklung als lebenslangen Prozeß, so daß man vielmehr vom Erwachsenwerden spricht. Während im Jugendalter die vorläufige Identitätsbildung vordergründige Entwicklungsaufgabe ist, geht es im frühen Erwachsenenalter um die Aktualisierung bzw. Realisierung der erreichten und erreichbaren physischen, psychischen und sozialen Möglichkeiten. Die Lernbereitschaft ist groß, es finden vielfach Neuorientierungen und Veränderungen statt, die sich heute zunehmend bis ins mittlere Erwachsenenalter ziehen.[95] Diese Annahme von Entwicklung statt Stillstand bzw. Abbau im Erwachsenenalter findet sich auch in Erik Eriksons »Theorie der lebenslangen Entwicklung«. Diese geht von einer Abfolge acht psychosozialer Entwicklungsstufen im Leben eines Menschen aus. Eine erfolgreiche Bewältigung dieser Stufen bedeutet am Ende Identität und das Gefühl von Ganzheit und Zufriedenheit.[96] Die Aufgaben des Erwachsenenalters sind diesem Modell zufolge Intimität und Generativität. Sigmund Freud identifizierte für diesen Entwicklungsabschnitt Lieben und Arbeiten als Bedürfnisse, Abraham Maslow Liebe und Zugehörigkeit. Weitere Theoretiker nennen das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz, nach Leistung und Kompetenz. Allen gemein ist, daß sie Beziehung und Leistung für...

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