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E-Book

Der neue Iran

Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten

AutorCharlotte Wiedemann
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783423431279
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Intime Einblicke in ein faszinierendes Land Charlotte Wiedemann legt ein umfassendes Gesellschaftsporträt des modernen Iran vor: ein selbstbewusster Vielvölkerstaat, heute die wichtigste Macht im Nahen und Mittleren Osten. Das Buch fu?hrt von der großstädtischen Theaterszene zum schiitischen Volksislam, von der kurdischen Sufi-Zeremonie zum Sabbat in einer ju?dischen Familie. Es erklärt, wie die Anspru?che der Frauen das Land verändert haben und welche subversive Lebenskunst die politische Willku?r hervorgebracht hat. Und es analysiert das Weltbild der Iraner, ihre in Jahrhunderten kolonialer Bevormundung entstandenen Ängste, ihren manchmal obsessiven Nationalstolz. Ein schwieriges Land, beschrieben mit Behutsamkeit und Genauigkeit.

Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. Als Auslandsreporterin in Ländern Asiens und Afrikas, vor allem der islamischen Welt, hat sie sich seit Jahren mit der Thematik »Wir und die anderen« auseinandergesetzt. Publikationen in >Geo<, >Die Zeit<, >NZZ< u.a.; Kolumnistin der >taz<. 2017 hat Charlotte Wiedemann den Spezial-Preis der Otto-Brenner-Stiftung für ihr Lebenswerk bekommen. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht.

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Leseprobe

Vorwort: Selbstbild, Fremdbild


Von meiner ersten Reise durch Iran, rund dreizehn Jahre ist das nun her, blieb mir eine Begegnung besonders in Erinnerung. Ich saß in einer großen Familienrunde, Ärzte, Ingenieure, obere Mittelschicht. Das Gespräch begann mit einem Auftrag: »Bitte schreiben Sie Folgendes«, sagte eine Kinderärztin resolut: »Die Iraner sind beleidigt über das Bild, das im Westen von unserem Land gezeichnet wird. Alles, was hier schlecht ist, wird bei Ihnen aufgebauscht, und was gut ist, erwähnen Sie nicht.«

Alle um den Tisch stimmten ein, verteidigten den Iran, kritisierten den Westen. Erst als ich dies auf gebührend vielen Seiten meines Blocks notiert hatte, nahm das Gespräch abrupt eine andere Wendung. Nun wurde auf das politische System geschimpft, in allen erdenklichen Tonlagen, und der schlimmste Vorwurf lautete: Die Mullah-Regierung ist die zweite Invasion der Araber.

Es gibt in Iran ganz andere politische Milieus, andere Meinungen, andere soziale Schichten. Doch viele Iraner teilen den Grundton, den ich von dieser Begegnung an einem Nachmittag in Isfahan mitnahm: Achtet uns!

Nationalstolz, ein waches Gefühl von Kränkung und eine Prise Hochmut: Diese Mischung habe ich immer wieder angetroffen.

Selbstbild, Fremdbild – wie die Iraner sich selber sehen und wie sie aus dem Westen betrachtet werden, das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Es ist ein Buch über ein oftmals missverstandenes Land: unverstanden in seinem Selbstbewusstsein wie auch in seinen Ängsten. Eine Nation von achtzig Millionen Menschen, auf Distanz und Autonomie ebenso bedacht wie auf Respekt und Anerkennung.

Ihren ausgeprägten Nationalstolz schöpfen Iraner vor allem aus der Ära vor der Ankunft des Islam. Das Persische Reich war das erste Großreich der Antike, daraus speist sich noch heute ein »imperiales Syndrom«, wie der iranische Philosoph Ramin Jahanbegloo sagt. Jedes Kind wächst in die kollektive Erinnerung an eine großartige Vergangenheit hinein und trägt sie weiter, in einer Gegenwart, die von Sorgen und Zweifeln geprägt ist.

Wir in Europa haben wiederum lange gebraucht, um unser Bild vom frühen Persien (das man auch den alten Iran nennen kann) von den Vorurteilen zu befreien, die aus griechischen und biblischen Quellen kamen und unseren Bildungskanon bestimmten. 333, bei Issos Keilerei, hieß es in der Schule, Griechen gegen Perser, und die Griechen waren unsere Leute. Heute wissen wir mehr darüber, welche kulturellen Leistungen das weite trockene Land zwischen Kaspischem Meer und Persischem Golf bereits im Altertum hervorgebracht hat, darunter die künstliche Bewässerung. Trotzdem fehlt uns das Gespür für die historische Geografie, für die gestaltende Rolle der iranischen Reiche in einem großen Teil der östlichen Welt.

Über viele Jahrhunderte war Iran weitaus größer als der heutige Staat, in dessen Fläche Deutschland immerhin noch viereinhalb Mal hineinpasst. Unter Iran verstanden die Menschen in der Antike auch Regionen, die nun längst zu anderen Staaten gehören, zu Afghanistan, Pakistan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan. In deren Namen klingt etwas Gemeinsames wieder, die Endung -stan bedeutet im Persischen Heimat, Land, Ort. Iran wurde zum Durchzugsgebiet von Völkern, zum Schmelztiegel von Zivilisationen. Und es ist heute ein Vielvölkerstaat, in dem zehn Sprachen oder mehr gesprochen werden.

Nur für jeden Zweiten ist Persisch die Muttersprache.

Das Fremde abwehren oder es verherrlichen, das sind oft zwei Seiten einer Medaille. Im 20. Jahrhundert wurde bei uns »Persien« zur Chiffre für Juwelen, Schönheit, Pracht, Verschwendung. Die Kaiserinnen Soraya und Farah Diba füllten die Seiten der Illustrierten; Glitzerbilder, die Herberes kaschierten: die westliche Kollaboration mit der Diktatur in Teheran.

Dann kam die Revolution. Iran schien zu einer Silhouette der Düsternis zu erstarren: unverständlich, unzugänglich, dämonisch.

Wer seitdem bei uns »persisch« sagt, oft mit einem schwärmerischen Unterton, will sich von diesem politischen Iran absetzen, in eine Welt von Rosenwasser, Safran, Teppichmustern; eine konsumierbare Exotik, die uns unsere Ruhe nicht raubt. Das mag vormodern klingen, ist es aber nicht. Dass gerade wir Deutsche so am Begriff »Perser« hängen, hat mit völkischen Ideologien zu tun, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts NS-Deutschland und Iran verbanden. Die Vorstellung, wir gehörten einer gemeinsamen arischen Rasse an, ist bei vielen Iranern noch in diesen Tagen anzutreffen. Sie leiten daraus eine Spezialbeziehung zu den Deutschen ab, die heute nicht anders als damals mancher Geschäftsbeziehung zugutekommt.

Mein Bild von Iran beruht vor allem auf meinen eigenen Erfahrungen. Es ist also der Natur nach subjektiv, auch wenn ich mich um etwas bemühe, was im Fall Iran selten eingefordert wird: Ausgewogenheit. Seit meinem ersten Besuch im Jahre 2004 habe ich das Land unter drei verschiedenen Präsidenten erlebt – wobei das Wort »unter« nicht ganz richtig ist, denn in Iran haben die Präsidenten nie die ganze Macht, manchmal kaum die halbe. Das galt auf je eigene Weise für Mohammad Khatami, einen gescheiterten Reformer, für Mahmud Ahmadinedschad, den Populisten in der beigefarbenen Windjacke, und in jüngster Zeit für den moderaten Hassan Rohani, der die Blockade im langjährigen Streit um Irans Nuklearprogramm überwinden konnte, weil er selbst aus dem Sicherheitsapparat, aus der Mitte des Systems kam.

Ich habe in diesen Jahren das Auf und Ab iranischer Emotionen mitverfolgt, bleierne Depression, Hoffnung, Ernüchterung, erneute Hoffnung.

Meine erste Beschäftigung mit Iran liegt indes viel länger zurück: Als Studentin ging ich auf Demonstrationen gegen das Schah-Regime und bekam dafür von der Frankfurter Polizei den Kopf blutig geschlagen – so eng war die Freundschaft zwischen der alten Bundesrepublik und dem kaiserlichen Iran. Als ich mit verbundenem Kopf zu Hause lag, zog eine Prozession iranischer Kommilitonen an meinem Sofa vorbei, mit aufgeschnittenen Orangen und kleinen Geschenken. Ich war eine Art Märtyrerin und erlebte zum ersten Mal, wie Iraner das Leiden verehren, wenn es dem Kampf gegen Unrecht geschuldet ist.

Ein Jahrzehnt später begegneten mir die Opfer des neuen Regimes, in einem Deutschkurs, den ich für Asylbewerber gab. Es war Mitte der 1980er-Jahre, die schlimmste Phase der Islamischen Republik. Ich erinnere mich an die Melancholie im Klassenraum. Meine Schüler waren Akademiker mittleren Alters, bebrillte, bedächtige Menschen, die sich zu alt fühlten, um an einem verkratzten Schultisch ein neues Leben beginnen zu müssen. In der Pause brachten mir manche Männer aufgeschnittene Orangen.

Westliche Ausländer berichten oft überschwänglich von der Zuvorkommenheit, mit der sie in Iran behandelt wurden. Sie übersehen leicht, wie sich manchmal Iraner untereinander verhalten, wenn sie sich in der Anonymität des Alltags begegnen. Ein Teheraner Taxifahrer, der mich für eine Iranerin hielt, weil ich in der Nähe der Universität in seinen Wagen stieg, blaffte mich rüde an – und zerfloss im nächsten Moment vor Freundlichkeit, als er merkte, dass ich eine Ausländerin war, noch dazu eine Deutsche ...

Das Selbstwertgefühl der Iraner weist viele Brüche auf; ihnen wird in diesem Buch immer wieder nachgegangen, denn sie scheinen mir ein Schlüssel zum Verständnis des Landes zu sein. So gern Iraner auf ihre großartige Geschichte verweisen, so gibt es doch immer wieder Momente, in denen sie sich vor Fremden, besonders Westlern, erstaunlich kleinmachen. Sich zugleich überlegen und unterlegen zu fühlen, ist ein typisch iranischer Komplex. Das Wort, das die Iraner dafür benutzen, Oghdeh, stammt aus dem Arabischen – eine Ironie der Sprachgeschichte: Denn den Arabern, von denen sie einst erobert wurden, fühlen sich viele Iraner ganz besonders überlegen.

Die Geringschätzung von Arabern begegnete mir sogar in der Pilgerstadt Maschhad, die von ihren schiitisch-arabischen Gästen profitiert. Zu meinen, religiöse Kategorien seien entscheidender als alle anderen, ist in diesem wie in so vielen anderen Fällen falsch. An der Rezeption meines Hotels, in dessen Lobby sich die Gäste aus dem Irak und aus Bahrein drängten, ergab sich folgender Dialog.

Rezeptionist: »Wie schön, dass mal eine Ausländerin da ist!«

»Aber Ihr Hotel ist doch voller Ausländer.«

»Das sind doch nur Araber! Die interessieren sich nicht für iranische Kultur.«

»Warum ist das so?«

»Weil sie selbst keine Kultur haben.«

Wenn westliche Besucher besonders zuvorkommend behandelt werden, hat dies noch einen anderen Grund: Viele Iraner wünschen sich sehnlich, die Isolation zu überwinden und wieder als geachtetes Mitglied der Gemeinschaft der Nationen zu gelten. Da es der Westen war, der die Islamische Republik unter Bann gestellt hat, galt jeder westliche Tourist früher als möglicher Vorbote eines Tauwetters. Heute, da Besucher in größerer Zahl kommen, fungieren sie als Kronzeugen einer neuen Zeit.

In Kermanschah, wo sich in den Grotten von Taq-e Bostan berühmte Reliefs aus dem vierten Jahrhundert befinden, halten Iraner ihre Kinder, sogar Babys, fürs Foto erst hoch vor die Reliefs, damit sie eins werden mit den Herrschern und Göttern von damals. Alsdann werden die Kinder fürs Bild links und rechts neben den Touristen postiert, als ergäbe das die Reliefs der Gegenwart.

In derselben Parkanlage sah ich Soldaten in Camouflage-Uniformen, die sich in Blumenbeete hockten, damit ihre Kameraden sie so...

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