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E-Book

Der Sturm vor der Stille

Warum Menschen den Kontakt abbrechen

AutorTina Soliman
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl217 Seiten
ISBN9783608107531
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Es geht um die Zeit vor dem Kontaktabbruch, um die überhörten Signale vor der Funkstille, um den emotionalen Sturm vor der Stille, um den Kampf, der zwischen den Beteiligten getobt hat, oder um die stillen Konflikte, die schon lange geschwelt haben. Die hilf- und ratlosen Verlassenen suchen verzweifelt nach einem Auslöser, den es nicht gibt, denn der Bruch ist die Folge eines langen Prozesses, der aus vielen kleinen zerstörerischen Momenten besteht. Manche Worte verletzen so sehr, dass sie einen Sturm entfachen, der nicht mehr zu bändigen ist - außer mit Stille. Tina Soliman erzählt und analysiert einfühlsam die Leidensgeschichten der Abbrecher, denn diese haben leidenschaftlich, kämpferisch, tief verletzt und gar nicht so 'kalt', wie die Verlassenen immer wieder behauptet haben, inständig darum gebeten, ihre Sichtweise des Kontaktabbruchs näher zu beleuchten.

Tina Soliman ist Journalistin, Autorin und Regisseurin, realisiert preisgekrönte TV-Dokumentationen für die ARD und das ZDF und arbeitet regelmäßig für die ZDF-Sendereihe '37 Grad', für 'Die Story im Ersten' und für das ARD-Politmagazin 'Panorama'. Sie volontierte bei der F.A.Z. und erhielt u. a. den '6. Marler Fernsehpreis für Menschenrechte ' von Amnesty International und den 'Katholischen Medienpreis der Deutschen Bischofskonferenz'.

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Leseprobe

Einleitung


»Hallo Tina, danke für dieses tolle und sehr aufschlussreiche Buch! Endlich fühlt man sich als ›trauernde‹ Verlassene verstanden. Endlich wurde ein Tabu gebrochen«, schreibt Vera.

»Hallo, nach diesem Buch fühle ich mich als Abbrecher weniger schuldig und in Teilen richtig verstanden. Ja, auch ich leide, und, ja, ich habe nicht den Mut gehabt, meine Gefühle offen auszusprechen, war wie blockiert, wenn ich meiner Mutter gegenüberstand. Ich fühlte mich schlecht und unfähig, wollte sie auch nicht verletzen und habe sie doch durch den Abbruch noch mehr verletzt – und mich auch. Durch das Buch aber erkenne ich, dass hier zwei Sichtweisen aufeinanderprallen, beide Seiten Fehler machen und wir nur gemeinsam dieses Schweigen beenden können. Eine unfassbare Herausforderung«, schreibt Anja.

Zwei von vielen Stimmen, die deutlich machen, dass ein Kontaktabbruch Leid schafft und starke Gefühle hervorruft – auf beiden Seiten. In den folgenden Kapiteln soll der Versuch unternommen werden, besonders den Abbrechern näherzukommen. Denn wer nichts sagt und einfach geht, sagt dennoch etwas durch sein Schweigen. Auch wo kein Wort erklingt, kann also Antwort sein.

Die Funkstille ist kein Blitz aus heiterem Himmel! Sie bahnt sich an, oft über lange Zeit, und ich möchte im Folgenden versuchen, dem Geschehen vor dem Bruch auf die Spur zu kommen. Was empfanden die Abbrecher, bevor sie sich entschlossen haben zu gehen? Ich versuche, die Empfindungen vor der Handlung, dem Bruch, in Worte zu fassen. Denn auch wer keine Gefühle zeigt, wird welche haben. Verschleiert, versteckt und tief vergraben sind sie – warum? Sind es gefährliche Gefühle, deren Wirkung brutal sein kann, wenn man sie offenlegt?

In ihren Zuschriften versuchen die Abbrecher, Gründe für ihr Verhalten zu benennen. Sie nehmen den Kontaktabbruch keineswegs auf die leichte Schulter. Im Gegenteil: Manche haben sich wesentlich mehr Gedanken über das Verhältnis zur Mutter, zum Vater, zu dem Partner, der Freundin oder dem Freund gemacht, als der Verlassene es je erwarten würde oder je selbst getan hat. In den Nebensätzen tauchen meist die emotionalen Brocken auf, die diese Beziehungen vergiftet haben. Ständig war irgendwer empört, in seinem Vertrauen verletzt, aufgeregte Schuldzuweisungen wechselten sich ab mit herrischen Statements und eitlen Verteidigungen. Eine emotionale Gemengelage, die offenbar irgendwann nicht mehr zu ertragen war. Zuvor haben die Abbrecher jedoch – auf ihre Art – immer wieder kommuniziert, dass die Beziehung auf diese Weise nicht weiter funktionieren kann. Manche Abbrecher haben sich wohl nicht getraut, dem anderen dies klar zu sagen. Manche hatten nicht den Mut mitzuteilen, dass der andere für sie nicht mehr wichtig war. Und andere wiederum wissen eigentlich selbst gar nicht genau, was sie bewegt, weil der Auslöser so weit zurückliegt, weil es unverarbeitete Verletzungen im Leben gibt, manchmal über Generationen hinweg, die völlig unerwartet hervorbrechen können. Es gibt also unterschiedliche Motivlagen für den Kontaktabbruch.

Wolfgang Hantel-Quitmann, Professor für Klinische und Familienpsychologie in Hamburg, unterscheidet zwischen drei Abbrecher-Typen, auf die im ersten Kapitel noch genauer eingegangen werden soll. Hier nur so viel: Es gibt Motivlagen für einen Kontaktabbruch, bei denen die Persönlichkeit und das Verhalten des Verlassenen kaum eine Rolle spielen. Für den Verlassenen kann das Wissen darum sehr entlastend sein.

In zahlreichen anderen Fällen jedoch ist der Kontaktabbruch die Folge eines unglücklich verlaufenen Miteinanders, eines Geflechts aus gegenseitigen Verletzungen, Missachtungen, möglicherweise Beschämungen, das einer der Beteiligten irgendwann nicht mehr aushalten konnte. Oder er ist zurückzuführen auf Traumata, die lang zurückliegen, ja unter Umständen sogar bei vorhergegangenen Generationen geschahen. Gerade im letztgenannten Fall wissen die Abbrecher oft selbst nicht, warum sie gegangen sind.

Nach über 1.000 Zuschriften in der Folge des Funkstille-Buches sehe ich viele Kontaktabbruch-Geschichten stärker als zuvor mit den Augen des Abbrechers, der am Ende eines schmerzhaften Prozesses erschöpft aufgibt. »Man tut einen solchen Schritt aus einer Verzweiflung heraus, weil man anders nicht mehr leben kann und sonst an der Situation kaputtgehen würde«, schreibt etwa Sybille.

Der Zeitpunkt der Funkstille ist nicht entscheidend, wie wir sehen werden, der Bruch scheint zwar im Affekt zu passieren, doch – wie bei einem Schläfer, der einen Terroranschlag vorbereitet – war das Ende seit Jahren oder Monaten vorbereitet. Der Auslöser ist nur der Moment der Entladung!

Die Not ist groß, wenn einer abbricht. »Das passiert nicht einfach so«, erzählen fast alle, die »plötzlich« gegangen sind. Viele von ihnen haben sich in der eigenen Familie heimatlos gefühlt und erleben nun, dass der Kontaktabbruch das Gefühl der Entwurzelung noch verstärkt. Manche stammen aus Familien, in denen kleinere und größere Kontaktabbrüche ein Muster der »Konfliktlösung« waren. Nie wollten sie dieses Muster wiederholen und haben es dann doch getan. Nun fragen sie sich, wer sie sind und warum sie so geworden sind. Ein Abbrecher schrieb – mit der Bitte, sich auch weiterhin um das Phänomen der Funkstille zu kümmern: »Ich erhoffe mir Hilfe und Erklärungen für mein Verhalten, das ich selber nicht verstehe und unter dem ich sehr leide.« »Man quält sich ein Leben lang. Redet gegen Wände. Das Eigene aber ist unerwünscht«, so Anja, die den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen hat. Den meisten Verlassenen reichen solche oder ähnliche Äußerungen als Erklärung nicht aus. Sie fragen nach, wollen mehr wissen. Oft stellen sie dem Abbrecher Fragen, die dieser sich selbst noch nie gestellt hat – weil er diese dunklen Impulse verdrängt hat. Er will sie nicht spüren, und er will sich den Fragen nicht stellen. Er will nicht, dass Worte sich einnisten als bösartige Bewohner seiner Gedankenwelt, die seine Angst, seine stille Wut und seine wunden Punkte aufdecken könnten. Er will sich nicht zu erkennen geben, vorausgesetzt, er erkennt sich selbst.

Beide Beteiligten der Funkstille beanspruchen die Wahrheit für sich – doch wer wollte entscheiden, was wahr ist? Die Wahrheit ist eine Fiktion unseres Verstandes.

Ralf fühlt sich nach der Trennung von seiner großen Liebe Isa durchlässig, desorientiert, leer und gleichzeitig voller Sehnsucht nach dem Menschen, der all dies ausgelöst hat. »Das Positive, das ich mit ihr verbunden habe, fehlt mir schmerzlich. Dieser Mangel quält mich noch jeden Tag, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen soll«, schreibt er. Nicht alle Zuschriften sind derart verzweifelt liebevoll. Viele Verlassene sind stinksauer, wütend und ohne jedes Verständnis. »Die Funkstille ist ein Mord an der Seele. Der Abbrecher will emotional dauerhaft schädigen. Aber warum?«, fragt etwa Diana, die von ihrem Mann Johannes ohne ein Wort der Erklärung verlassen wurde.

Die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen, die sich mit seelischer Gewalt im Alltag und in Partnerschaften befasst, bezeichnet das Schweigen als »perverse Kommunikation«. Sie ziele darauf ab, den anderen grundsätzlich und tiefgehend am Denken zu hindern und damit auch am Verstehen und am möglichen Widerstehen. Wie soll der Verlassene sich um Versöhnung bemühen, wenn er nicht weiß, wie alles angefangen hat; wie kann er Einwände erheben, wenn die Vorwürfe nicht benannt werden? Wie Widerstand leisten, wenn es keine Diskussion gibt?

»Zu jeder Beziehung gehören zwei Menschen. Wenn einer aus Unzufriedenheit mit dem Gedanken spielt, sie zu beenden, gebietet es der zwischenmenschliche Respekt, dem anderen eine faire Chance zur Veränderung zu geben. Und dazu muss der eben verstanden haben, was das Problem ist – es muss Sinn machen«, fasst Ralf zusammen. Einen Warnschuss habe er sich gewünscht, die Funkstille jedoch sei ein »Todesurteil ohne vorhergehendes Verfahren«.

Doch das Leid ist nicht allein auf Seiten der Verlassenen. Nicht immer wird bei der Lektüre der zahlreichen Zuschriften unmittelbar deutlich, wer Abbrecher und wer Verlassener ist. Das Vokabular ist auf beiden Seiten dasselbe, die Gefühle ähnlich, das Leiden von ähnlicher Tragweite. So schreibt eine 21-Jährige: »Man hat das Gefühl, das Laufen verlernt zu haben, man kennt sich selbst auf einmal nicht mehr. Die Welt dreht sich weiter und man selbst steht dazwischen und kann sich nicht mitbewegen.« Sie ist eine Verlassene.

Eine andere schreibt: »Das ist ein Grund, warum Menschen etwas komplett aus ihrem Leben raushaben wollen: weil es nicht gut für sie ist. Weil etwas sehr wehtut. Weil das Verzeihen fast unmöglich erscheint. Weil das Vertrauen missbraucht wurde. Weil dort eine riesige Kluft aufgebrochen ist. Weil es einen blockiert. Weil es einen weinen lässt.« Sie ist eine Abbrecherin.

Beide Seiten leiden und können nicht abschließen; das wird aus den Zuschriften deutlich. Auch Fabio, ein Abbrecher, gesteht: »Dieses egoistische Nur-für-sich-Klären der emotionalen Situation hilft kurzfristig, aber langfristig ist nicht viel erreicht. Mich belastet der Kontaktabbruch, weil ich weiß, dass ich mir damit selbst schade und andere verstöre. Der Wunsch von Nähe ist da, aber ich bin nicht in der Lage aufzuzeigen, wie diese Nähe aussehen soll bzw. klar mitzuteilen, dass ich die bisherige Form der Nähe so nicht möchte.«

Natürlich gibt es auch einige Abbrecher, die Wert darauf legen zu betonen, dass sie sich nach dem Abbruch wie befreit fühlten und die Funkstille die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen sei. Man solle nicht...

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