Der Begriff der Vorsehung wird in dieser Arbeit zunächst ganz allgemein für die weit verbreitete Vorstellung verwendet, dass eine höhere Macht die Wege des Menschen leitet oder schon vorherbestimmt hat. Diese Vorstellung findet im westeuropäischen Kulturkreis ihre primären Wurzeln als „divina providentia“ in den Mythen, Schriften und Dogmen der monotheistischen Religionen. Deren allmächtige und allwissende Götter steuern die Schicksale der Menschen und fördern, beschützen, belohnen und bestrafen sie, wenn nicht schon in der diesseitigen, dann jedenfalls in einer erhofften jenseitigen Existenz. Die Vorsehung ist somit nicht mit dem Schicksal gleichzusetzen, sondern sie wird als transzendente Macht verstanden, welche die Schicksale der Menschen beeinflussen und verändern kann. In die Philosophie hat die Idee der Vorsehung in erster Linie in der Form der Teleologie Eingang gefunden, als Vorstellung, dass die Welt sich auf ein bestimmtes Ziel hin entwickelt.
Dem Konzept der Vorsehung, einschließlich der Teleologie, möchte ich die Begriffe des Zufalls und der Wahrscheinlichkeit gegenüber stellen, also die Vorstellung, dass die Schicksale der Menschen in hohem Maße dem Zufall ausgeliefert sind, der von Theologen und Philosophen auch als Kontingenz bezeichnet wird. Die Wahrscheinlichkeit kann als Begleiterscheinung des Zufalls gesehen werden; sie liefert die Rahmenbedingungen für das Schicksal und erlaubt es – allerdings nur in begrenztem Umfang - Ereignisse im Rahmen des grundsätzlich kontingenten Daseins zu berechnen und zu beeinflussen.
Auf die Frage, wie die Kontingenz zu bewältigen ist, haben Theologen und Philosophen unterschiedliche Antworten. Die Theologie sieht den Glauben an die göttliche Vorsehung als Weg der Kontingenzbewältigung. Im Vertrauen auf die göttliche Intervention lässt sich das eigene Schicksal als göttlicher Auftrag verstehen und ertragen. Allerdings gründet sich dieser Glaube ausschließlich auf eine sogenannte Offenbarung, die als Quelle epistemischer Rechtfertigung für die Philosophie nicht ausreichend ist. Gibt es also auch andere Wege, die Kontingenz des Schicksals zu bewältigen? Kann die Wahrscheinlichkeit ein Ansatzpunkt dazu sein, kann sie zu einem Hilfsmittel der Kontingenzbewältigung gemacht werden?
Der Glaube an eine Vorsehung ist nicht auf die religiös Gläubigen beschränkt, sondern findet sich auch bei Menschen, die ihre Religion nicht aktiv praktizieren, sich zu keiner Religion bekennen oder sich eine eigene „spirituelle Wahrheit“ zurecht gelegt haben. „Es gibt keine Zufälle“ oder „das kann kein Zufall sein“ oder „es ist alles vorbestimmt“ sind Redewendungen, die man im Alltag oft zu hören bekommt und die mit dem Glauben an eine mehr oder weniger genau bestimmbare höhere Macht begründet werden. Bernulf Kanitscheider bezeichnet diese Neigung als „Die Unzufriedenheit mit dem reinen Faktum, mit der Tatsache, dass in der Menge aller Ereignisse die unwahrscheinlichen nicht völlig fehlen können“ (Kanitscheider 2007, 83).
Ist der Vorsehungsglaube also im Menschen psychologisch und neurobiologisch verankert? Es gibt deutliche Anzeichen für eine solche Veranlagung, die uns eher an eine Vorsehung als an Zufall und Wahrscheinlichkeit glauben lässt. Dies konnte in psychologischen Experimenten gezeigt werden, zum Beispiel von Deborah Kelemen an der Boston University (vgl. Kelemen 2003): Ein teleologisches Denken, welches davon ausgeht dass „alles seinen Zweck hat“, findet man schon bei Kleinkindern und auch viele Erwachsene fühlen sich wohler bei dem Gedanken, dass sich die Welt nach vorgegebenen Zwecken entwickelt, als bei jenem, dass der Zufall sie in ein völlig unvorhersehbares Schicksal treiben könnte.
Neue Erkenntnisse und Methoden der Neurowissenschaften haben einen neuen Forschungszweig möglich gemacht, die Neurotheologie. Mit Andrew Newberg soll ein Autor dieser Forschungsrichtung vorgestellt werden. Zu den neurobiologischen Grundlagen des Vorsehungsglaubens soll auch der Neurobiologe, Anthropologe und Philosoph Pascal Boyer zu Wort kommen.
Der Vorsehungsglaube ist also nicht nur ein rein religiöses Thema, sondern auch ein psychologisches, neurobiologisches und philosophisches. Aus der Sicht der Philosophie gibt es allerdings auch eine Reihe von Widersprüchen, die gegen den Vorsehungsglauben einzuwenden sind und zu Fragen Anlass geben.
Logik
Ist der Glaube an eine Vorsehung mit der Logik vereinbar, kann er mit den Mitteln der Logik bewiesen oder widerlegt werden? Lässt sich ein induktiver oder deduktiver Schluss formulieren, der das Wirken der Vorsehung beweist oder widerlegt? Diese Frage hat die Philosophie schon seit ihren Anfängen beschäftigt und hat insbesondere im Mittelalter zu einer Reihe von logisch begründeten Gottesbeweisen geführt. Immanuel Kant hat sich ausführlich mit drei dieser Gottesbeweise beschäftigt und sie alle widerlegt, ohne allerdings deswegen einen Glauben an Gott völlig zu leugnen, wie noch zu zeigen sein wird.
Viele religiöse Überzeugungen werden durch induktive Schlüsse bestärkt, wie zum Beispiel der Glaube an die Erhörung von Gebeten durch Gott, auf Grund dessen erwünschte und in Gebeten erflehte Ereignisse als Reaktion Gottes auf diese Gebete interpretiert werden. Ist diese Vorstellung angesichts des schon von David Hume aufgezeigten Induktionsproblems haltbar und begründbar?
Willensfreiheit
Die Fragen der Kausalität, des Zufalls und der Wahrscheinlichkeit sowie der Logik sind wesentliche Vorfragen, um zur Willensfreiheit des Menschen eine Position beziehen zu können. Können wir in diesem Spannungsfeld Entscheidungen treffen, die nicht durch unsere Gene, durch Umwelteinflüsse oder durch eine Vorsehung schon vorbestimmt sind? Ist ein Vorsehungsglaube mit einem freien Willen kompatibel? Tragen wir die volle Verantwortung für unsere Handlungen? Können die jüngeren Erkenntnisse der Neurowissenschaften Wesentliches zur Diskussion um die Willensfreiheit beitragen?
Kausalität und Determinismus
Die Frage der Kausalität und des Determinismus ist schon seit Aristoteles Thema der philosophischen Reflexion. Seine Beobachtung „nichts geschieht ohne Ursache“ hat eine absolute Kausalität postuliert und damit dem Determinismus, also der Vorstellung einer Vorbestimmtheit alles Geschehens, die Tür geöffnet. Allerdings hat Aristoteles mit der Vorstellung der zufälligen Kreuzung von Kausalketten auch einen Ausweg aus dem Determinismus aufgezeigt. Wie passt der Vorsehungsglaube zu diesen philosophischen Überlegungen?
Zufall und Wahrscheinlichkeit
Die im 20. Jahrhundert entwickelte Quantenphysik hat die Debatte um Determinismus und Indeterminismus um eine entscheidende Erkenntnis bereichert: es gibt, zumindest in der Quantenphysik, Prozesse, die grundsätzlich zufällig verlaufen. Die Bell’schen Ungleichungen gelten als Beweis dafür, dass der Zufall bestimmten Prozessen, wie zum Beispiel dem radioaktiven Zerfall, tatsächlich immanent ist und nicht nur auf einem Mangel an Kenntnis verborgener Parameter beruht.
Die Wahrscheinlichkeit, in der Mathematik bereits seit langem eine unentbehrliche Rechengröße, hat mit der Quantenphysik ebenfalls eine zusätzliche philosophische Dimension bekommen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es Fakten und Größen gibt, die nicht exakt, sondern aus prinzipiellen Gründen nur als Wahrscheinlichkeit bestimmbar sind, wie zum Beispiel die Position eines Teilchens im Atom oder der Wert eines Quantenbits im – zukünftigen - Quantencomputer.
Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit soll auf dem Konfliktfeld zwischen dem Vorsehungsglauben und den Phänomenen von Zufall und Wahrscheinlichkeit liegen und folgende Fragen bearbeiten:
Der Glaube an die göttliche Vorsehung – was bedeutet er, wie ist er entstanden, wie sieht ihn die heutige Theologie und welche Wurzeln hat er neben den religiösen?
Wie haben sich namhafte Philosophen zur Vorsehung geäußert?
Zufall und Kontingenz – wie werden diese Begriffe in der Philosophie und in der Theologie verwendet und was bedeuten sie für den Vorsehungsglauben und für eine Lebensführung ohne Vorsehungsglauben?
Welche Rolle spielen Vorsehungsglaube, Zufall und Wahrscheinlichkeit in unterschiedlichen Modellen der Lebensbewältigung?
Diese Arbeit möchte einen Überblick über den Vorsehungsglauben aus theologischer und philosophischer Sicht vermitteln und die Konflikte zwischen Vorsehungsglauben, Zufall und Wahrscheinlichkeit aufzeigen.
Neben den religiösen Wurzeln des Vorsehungsglaubens sollen auch psychologische, neurobiologische und anthropologische Grundlagen zur Sprache...