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E-Book

Die Eroberung der Zeit

Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen

AutorSebastian Knell
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl700 Seiten
ISBN9783518740576
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Vita brevis, ars longa - das Leben ist kurz, lang ist die Kunst. In diesem antiken Aphorismus artikuliert sich die Ahnung, dass die Befristung unserer Lebenszeit dem Potenzial der Selbstverwirklichung entgegensteht, über das wir als kulturell geformte Wesen verfügen. Was jedoch, wenn es gelänge, diese Befristung auszuhebeln? Biologen sind den Mechanismen des Alterns längst auf der Spur, und einige von ihnen behaupten, diese Forschung könne uns in Zukunft befähigen, das Altern einzudämmen und die menschliche Lebensspanne erheblich auszuweiten, eventuell sogar bis zur biologischen Unsterblichkeit. Aber wäre ein sehr viel längeres Leben überhaupt ein Gewinn? Oder würden wir trotz dauerhafter körperlicher Fitness seelisch vergreisen? Ist biologische Unsterblichkeit ein erstrebenswerter Zustand? Und wie steht es mit den moralischen Problemen, die sich stellen, wenn das Geheimnis des Alterns gelüftet ist? Ist es zum Beispiel ungerecht, wenn sich nur Wohlhabende lebensverlängernde Therapien leisten können? Sebastian Knell geht diesen elementaren Fragen in seiner großangelegten philosophischen Studie auf den Grund und kommt zu klaren Einschätzungen, die spätestens dann von hoher praktischer Relevanz sein werden, wenn »Anti-Aging« nicht mehr nur ein Zauberwort der Kosmetikindustrie ist. Das könnte in nicht allzu ferner Zukunft der Fall sein.

<p>Sebastian Knell, geboren 1966, hat in Frankfurt am Main und Pittsburgh Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft studiert. Von 2001 bis 2010 war er Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Universität Basel, seit 2011 ist er am Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn tätig.</p>

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Leseprobe

Einleitung


 

 

 

Angenommen, Biowissenschaftlern sei es gelungen, Technologien zu entwickeln, die die praktische Möglichkeit bieten, das Altern zu verlangsamen oder sogar zum Stillstand zu bringen. Individuen, die in den Genuss entsprechender Behandlungen kämen, würden folglich in die Lage versetzt, sehr viel dauerhafter am Leben zu bleiben, als dies heute möglich ist, vielleicht sogar auf unbestimmte Zeit. Welche vernünftigen Gründe könnte es unter diesen Voraussetzungen geben, die Bereitstellung und den Einsatz dieser Technologien für wünschenswert oder gar für normativ geboten zu halten? Wie bereits hervorgehoben wurde, lassen sich die in Frage kommenden Gründe unterschiedlichen Kategorien zuordnen. Im Folgenden soll das Augenmerk vor allem auf zwei Rubriken solcher Gründe gerichtet werden: zum einen auf selbstinteressierte Gründe, die ein Individuum dazu veranlassen können, eine Ausdehnung seiner eigenen Lebensspanne für wünschenswert zu halten. Hierbei handelt es sich um Gründe, die im Rahmen einer prudentiellen Orientierung zu Buche schlagen.[1] Zweitens werden mögliche Kandidaten für moralische Gründe in den Blick genommen, die geeignet erscheinen, das Gebot zu untermauern, anderen Menschen Zugang zu lebensverlängernden Therapien zu verschaffen.

Während ich mich mit der zweiten Sorte von Gründen in Teil II des Buches befassen werde, ist Teil I einer präzisen Untersuchung möglicher Gründe des ersten Typs gewidmet. Ich werde hier also zunächst der Frage nachgehen, welche Gründe im Rahmen rein selbstinteressierter Erwägungen[2] dafür sprechen könnten, sich für die je eigene Person ein künstlich verlängertes Leben zu wünschen. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als lasse sich eine solche Begründung ohne Schwierigkeiten aufbieten. Die schlichte Überlegung, die diesen Anschein hervorruft, lautet wie folgt: Wenn das Leben unter dem Strich eher gut als schlecht verläuft, wenn es sich im Allgemeinen also lohnt, zu leben, und wenn ferner gilt, dass ein derart lohnender Ertrag voraussichtlich auch von den hinzugewonnenen Lebensjahren zu erwarten wäre, dann gibt es für den Einzelnen offenbar einen zugkräftigen prudentiellen Grund, danach zu streben, wenn möglich länger am Leben zu bleiben.

Dieses einfache Kalkül beinhaltet die Unterstellung, unter geeigneten Umständen werde ein längeres Leben auch ein im Ganzen besseres Leben sein. Ob sich dies jedoch tatsächlich so verhält, bedarf der gründlicheren philosophischen Aufklärung. Die Frage zielt auf die systematische Bestimmung des Verhältnisses von Lebensdauer und Lebensqualität: Inwiefern genau böte uns ein längeres Leben tatsächlich insgesamt ein Mehr an Lebensqualität? Ein wesentlicher Grund, warum diese Frage meines Erachtens keine einfache Antwort zulässt, besteht darin, dass es sich bei menschlichem Wohlergehen um ein in sich komplexes Phänomen handelt. Unser Wohl hat verschiedene Aspekte und Dimensionen, die es voneinander zu unterscheiden gilt. Hieraus folgt, dass es unterschiedliche Dimensionen gibt, in denen ein menschliches Leben jeweils gut oder weniger gut verlaufen kann. Eine zentrale These, die ich im Laufe der folgenden Kapitel entwickeln werde, besagt, dass uns ein längeres Leben in manchen dieser Dimensionen ersichtliche Vorteile böte, dass jedoch in anderen dieser Dimensionen die Qualität des Lebens durch zusätzliche Lebenszeit keine nennenswerte Steigerung erführe.

Was in dieser groben Skizze bereits deutlich zutage tritt, ist der direkte systematische Bezug, den unsere prudentielle Fragestellung zu den konkreten Inhalten einer eudaimonistischen Theorie des guten Lebens hat. Dies ist natürlich nicht überraschend. Denn obgleich, wie wir noch sehen werden, das Selbstinteresse, das den Horizont der prudentiellen Rationalität des Individuums absteckt, begrifflich etwas weiter gefasst werden kann als das Interesse am eigenen Wohl, ist die prudentielle Orientierung des eigenen Wünschens und Handelns im Kern eine Orientierung an dem, was für einen selbst gut ist.[3] Der relevante Sinn des Ausdrucks »gut« ist hierbei ein eudaimonistischer, auf das individuelle Wohlergehen bezogener.[4] Damit jedoch ist die prudentielle Bewertung der biotechnischen Option verlängerter Lebensspannen, sofern sie die Vor- und Nachteile betrifft, die ein Zugewinn an Lebenszeit dem Einzelnen bietet, (und von möglichen gesamtgesellschaftlichen Interessen und kollektiven Klugheitsgründen absieht,) auf eine eudaimonistische Theorie der Lebensverlängerung angewiesen. Dementsprechend wird im Zentrum der Überlegungen der folgenden Kapitel der Versuch stehen, eine Theorie dieses Typs zu entwerfen.

Wie in der allgemeinen Einleitung bereits angesprochen, verwende ich den Eudaimoniabegriff, den ich der prädikativen Bestimmung »eudaimonistisch« zugrunde lege, in einem vergleichsweise abstrakten Sinne, wobei die inhaltliche Bestimmung dieses Begriffs unter anderem in loser Anlehnung an antike Eudaimoniakonzepte erfolgt. Mit »Eudaimonia« ist im Folgenden das objektiv feststellbare Wohlergehen eines menschlichen Individuums gemeint, und zwar im denkbar weitesten Sinne des Ausdrucks »Wohlergehen«. Das Prädikat »eudaimonistisch« steht dementsprechend für die allgemeine Eigenschaft, das so verstandene Wohlergehen zu betreffen.[5] Es kennzeichnet also hier nicht die spezifische Doktrin des sogenannten »ethischen Eudaimonismus«, die im Streben nach Glück den tieferen Grund auch des sittlich guten Handelns erblickt.[6]

Jenes weit gefasste Wohlergehen, für das der Begriff der Eudaimonia im Folgenden steht, kann subjektives Wohlbefinden einschließen, muss diese spezielle Bedingung aber nicht zwangsläufig erfüllen. Denn zum Beispiel kann auch das objektive Florieren eines menschlichen Individuums, das sich der Aktualisierung seiner spezifischen Fähigkeiten und Potenziale verdankt, einen wesentlichen Bestandteil dieses im weiten Sinne verstandenen Wohlergehens bilden. Darüber hinaus ist das terminologisch so zugeschnittene Eudaimoniakonzept auch für eine eventuelle narrative Dimension des guten Lebens offen.

Als terminologische Strategie bietet sich diese weite, systematisch inklusive Verwendung des Begriffs – sowie die davon abgeleitete Verwendung der zugehörigen attributiven Bestimmung »eudaimonistisch« – aus mehreren Gründen an: Erstens gilt, dass der alternative Begriff des »Wohlergehens« oftmals stärker subjektivistisch konnotiert ist, als dies zum Beispiel auf das Eudaimoniakonzept des Aristoteles zutrifft. Indem ich im Folgenden die Begriffe »das Wohl betreffend« und »eudaimonistisch« äquivalent gebrauche, unterstreiche ich daher zusätzlich, dass die Begriffe des Wohlergehens und der Wohlfahrt, die ich zum Zwecke der detaillierteren Ausformulierung der zu entwerfenden eudaimonistischen Theorie hier ebenfalls verwenden werde, nicht subjektivistisch verengt zu verstehen sind. Zweitens hat bereits die antike Debatte sehr unterschiedliche konkretere Erscheinungsformen der Eudaimonia ins Auge gefasst. Diese unterschiedlichen Spezifikationen reichen von der aristotelischen Bestimmung der Eudaimonia als Verwirklichung des menschlichen Ergons – worunter sich eine Form des objektiven Florierens verstehen lässt[7] – bis hin zu radikal hedonistischen Ausdeutungen, wie sie in der kyrenäischen Schule und von Epikur vorgeschlagen wurden.[8] Aufgrund dieser komplexen Begriffsgeschichte eignet sich der Terminus im Prinzip zur Bezeichnung eines inklusiv verstandenen Wohlergehens, das sich analytisch in unterschiedliche Teildimensionen untergliedern lässt. Der dritte Grund, der dafür spricht, im vorliegenden Kontext die Termini »Eudaimonia« und »eudaimonistisch« zu verwenden, besteht darin, dass ebenfalls bereits in der antiken Debatte der diachrone Aspekt des als »Eudaimonia« betitelten Wohlergehens in den Blick genommen wurde, indem darunter ein im Ganzen gutes Leben und nicht lediglich punktuelles Wohlergehen verstanden wurde.[9] Diese diachrone Dimension ist für meine weiteren Überlegungen ebenfalls von zentraler Bedeutung.

Ein systematischer Zug des antiken Eudaimoniakonzepts, der in meinen Überlegungen hingegen keine weitere Rolle spielen wird, ist der tugendethische Aspekt. Insbesondere die platonisch-aristotelische, aber auch die stoische Glückslehre geht davon aus, dass ein ethisch tugendhaftes Leben einen konstitutiven Bestandteil menschlichen Wohlergehens bildet.[10] Diese Annahme ist für eine eudaimonistische Ethik in jenem spezifischen und engen Sinne charakteristisch, der zuvor erwähnt wurde. Das von mir verwendete Eudaimoniakonzept schließt die Möglichkeit, dass tugendhaftes oder moralisch gutes Verhalten das je eigene Wohlergehen intrinsisch befördert, nicht aus. Ich lasse jedoch die Frage unbeantwortet, ob es auch aus heutiger Sicht überzeugende Argumente gibt, die diesen Zusammenhang einsichtig machen. Meine Untersuchung richtet sich daher allein auf solche Teildimensionen individuellen Wohlergehens, die nicht eo ipso bereits eine moralisch korrekte Lebensführung einschließen.

Neben dieser terminologischen Erläuterung ist es...

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