Im ersten Schritt der Konzeptentwicklung ist es essentiell, festzulegen, welche Wissenschaften Einfluss auf das individualisierte Eingewöhnungskonzept nehmen sollen. Da die Bandbreite der die soziale Arbeit betreffenden Wissenschaften sehr groß ist, muss eine Auswahl getroffen werden. Intention dieser Arbeit ist es nicht, die Forschungsergebnisse dieser Studien im Detail zu analysieren. Wichtig ist es stattdessen, herauszufinden, welche Wissenschaften das individualisierte Eingewöhnungskonzept im Sinne der Forschungsfrage, d.h. in Bezug auf die emotionale Befindlichkeit der Kinder, adäquat beeinflussen können.
Die empirische Forschung und Theoriebildung im Handlungsfeld der Krippen- und Tagespflegebetreuung ist jünger als die gesellschaftliche Betreuungsinstitutionen zur Versorgung von Kleinkindern selbst (vgl. Viernickel et al. 2012, S.11). Der systematische Ausbau der Krippenplätze, der in den 50er Jahren in der DDR begann, „fand statt, bevor überprüft worden war, welche Auswirkungen eine kollektive Ersatzbetreuung für die Kinder hat und ob sie deren biologischen, medizinischen und psychologischen Bedürfnissen entspricht.“ (Bensel 1994, S. 304) Dementsprechend lassen sich relevante und repräsentative Ergebnisse ausschließlich in den Forschungen der letzten Jahre suchen.
Gemäß Lieselotte Ahnert, würde der Übergang vom Elternhaus in die Kinderkrippe seit 50 Jahren wissenschaftlich hinterfragt, dabei vor allem auf Grundlage von Verhaltensbeobachtungen (vgl. Ahnert et. al 2012, S.74). Aufgrund dieser methodischen
Form der Datengewinnung könne die Komplexität der Eingewöhnung bislang nicht ausreichend genug beschrieben werden. (vgl. ebd.). Zum einen, weil dadurch Vorerfahrungen der Kinder in der beobachtbaren Vielfalt der Reaktionen nicht berücksichtigt werden. Zum anderen, weil auch charakterliche und temperamentbedingte Eigenschaften des Kindes, welche weder durch Beobachtung, noch durch Fragebögen und Interviews entsprechend berücksichtigt werden, Gründe für bestimmte Verhaltensweisen sein können (vgl. Bensel, 2010, S.18). Hier handelt es sich um sogenannte „Familienvariablen“, die je nach Persönlichkeit der Eltern, des Kindes und der familiären Lebenssituation den Erfahrungshorizont des Kindes bereits vor Krippeneintritt maßgeblich beeinflussen.
Die mangelnde methodische Zuverlässigkeit der Krippenforschung hängt auch mit einer inadäquaten Auswahl der Untersuchungspopulation zusammen. Viele der bisher durchgeführten Krippenstudien wurden an nicht repräsentativen, weil untypisch guten Krippen, durchgeführt (vgl. ders., 1994, S. 305). Außerdem sind die wenigsten Forschungen als vergleichende Studien angelegt, welche Familienkinder mit Krippenkindern gegenüberstellen (vgl. ebd.).
Ein weiterer Grund für die Mangelhaftigkeit der Eingewöhnungsforschung sei auch die Forschungsintention mancher Forschungen: der immense Forschungsaufwand, welcher z.B. in der ehemaligen DDR im Bereich der Krippen betrieben wurde, hätte vor allem darauf abgezielt, die Anpassungsprobleme der Kinder bei der Aufnahme in die Krippe in den Griff zu bekommen (vgl. Bensel 1994, S. 304). „Die Forscher suchten nach den optimalen Bedingungen, die ein Kind krippentauglich machen“ (ebd.). Diese Forschung zielte darauf ab, das Kind an die Betreuungsform anzupassen, statt die Bedingungen der Einrichtungen an die Bedürfnisse des Kindes anzupassen, wie es das vorliegende Konzept anstrebt.
Ziel dieses ersten Gliederungspunktes ist es trotz vieler inadäquater Krippenforschungen die relevanten Ergebnisse zum Thema „Eingewöhnung“ herauszufiltern. Repräsentativ und aussagekräftig sind hier vor allem sehr aktuelle Studien aus den letzten 20 Jahren sowie Längsschnittstudien, deren Untersuchungsbeginn bereits vor dem Krippeneintritt lag, vielfältige Untersuchungsvariablen einbezogen und das Verhalten der Kinder in ihrem alltäglichen Lebensumfeld berücksichtigten (vgl. ebd., S. 307)..
Die Wiener Kinderkrippenstudie ist eine sehr aktuelle (2007 - 2009) und breit angelegte Studien zur Untersuchung des Eingewöhnungsverlaufs von Kindern in Kinderkrippen. Sie erhob durch qualitative und quantitative Methoden, wie Kinder den Übergang von der Familie in die Kindertagesstätte erleben und welche Faktoren dazu beitragen, dass diese Belastung so gut wie möglich von den Kindern bewältigt werden kann (vgl. Datler et al. 2012, S.65).
Die Intention der Studie war eine Ähnliche, wie die dieser Arbeit: die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie der Eingewöhnungsprozess der Kleinkinder in die Tagesbetreuung gestaltet werden muss, damit das Belastungserlebnis möglichst gering ist (vgl. ebd., S. 62). Die grundlegende Annahme über Eingewöhnung, auf die sich die Studie stützt, ist, dass „das Erleben von Trennung und Getrenntsein von vertrauten Bezugspersonen, [...], im Regelfall eine erhebliche Belastung für die Kinder [...] darstellt.“ (Ahnert et al. 2004 zit. nach Datler et al. 2012, S.62). Das Team um Wilfried Datler und Lieselotte Ahnert untersuchte detailliert die Eingewöhnung von mehr als 100 Kindern in 71 verschiedenen Einrichtungen. Über ein Jahr hinweg wurde sowohl das Verhalten der Kinder, als auch das der Mütter und Betreuerinnen anhand standardisierter psychologischer Erhebungsmethoden erforscht. Ein für die vorliegende Arbeit zentrales Ergebnis der empirisch-quantitativen Analysen der Studie ist die Unterschiedlichkeit der Verläufe der Eingewöhnungen: Die Auswertung der Videos der Kinder machte es unmöglich, Gruppen von Kindern zusammenzufassen, die einen ähnlichen Eingewöhnungsverlauf oder Verhaltensweisen zeigten (vgl. Datler et al. 2012, S.69). Dieser Befund liefert den deutlichen Beleg dafür, dass Eingewöhnungsverläufe individuell geschehen, wie es das hier zu entwickelnde Konzept als Grundlage vorsieht.
Im Rahmen von Beobachtungen (Young Child Observation) fanden die Forscher der Wiener Krippenstudie weiterhin heraus, dass das Erleben der Belastungssituation „Eingewöhnung“ und das dementsprechende Verhalten eng damit zusammenhängen, welche Beziehungserfahrungen das Kind bereits machte (vgl. ebd., S.71). Es wurde ein erheblicher Fokus auf das Bindungsverhalten und die Bindungsbeziehungen der erforschten Kinder gelegt (vgl. Ahnert et al. 2012, S. 80). Der Einfluss der Bindungstheorie als psychologische Theorie scheint dementsprechend sehr wichtig für die Forschung und somit auch die Eingewöhnung zu sein. Ahnert konstatiert: „Im Mittelpunkt dieser Theorie steht das Bindungsverhalten, das als fundamentales Verhaltenskonzept für die Entwicklung des Sozialverhaltens angesehen wird“ (ebd.) Die empirische Forschung der Wiener Kinderkrippenstudie forciert den Erhalt der Mut- ter-Kind-Bindung, aber auch den Bindungsaufbau zwischen Erzieherin und Kind. Deshalb kann es als essentiell angesehen werden, die Erkenntnisse der Bindungstheorie maßgeblich in das Eingewöhnungskonzept zu integrieren (siehe Punkt 2.1.1).
Wesentlich erforscht wurde in der Wiener Krippenstudie auch, vor allem von der Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert, die Stressbelastung, der die Kinder in der Eingewöhnung ausgesetzt sind. Anhand von Messungen des im Körper produzierten Stresshormons Cortisol konnte festgestellt werden, dass der Cortisolhaushalt in den ersten Tagen in der Krippe um rund 75 % höher war als die vergleichbaren Basiswerte zu Hause (vgl. Ahne 2013, S.16). Die Erforschung von Stress spielt sowohl in der Entwicklungspsychologie als auch in der Psychologie der seelischen Gesundheit und der Verhaltensbiologie eine wichtige Rolle, da man heute weiß, dass Stress gesundheitsgefährdend wirkt. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass auch in diesen Wissenschaftsbereichen wichtige Erkenntnisse für die Konzeptentwicklung gefunden werden können.
Die sogenannte NUBBEK Studie, die „nationale Untersuchung zu Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“, wurde in den Jahren 2010 - 2012 als multizentrische Studie verschiedener Studienpartner, unter anderem dem Staatsinstitut für Frühpädagogik, in Auftrag gegeben und gemeinsam durchgeführt (vgl. Tietze
2012, S.24). Anhand einer großen Stichprobe -1000 Kinder aus acht Bundesländern - wollte die Studie „datenbasiertes Wissen zur Situation frühkindlicher Betreuung in Deutschland zur Verfügung [..] stellen und kindliche Entwicklung im Zusammenhang mit der Qualität familiärer und außerfamiliärer Betreuung [..] betrachten.“ (Mayer et al. 2012, S.5). Die Studie beschäftigt sich nicht explizit mit dem Thema der Eingewöhnung, sondern mit der pädagogischen Qualität der Einrichtungen (vgl. Tietze 2012, S.24). Tietze und sein Forscherteam nutzten für ihre Studie zur Erhebung der Prozessqualität unter anderem verschiedene Qualitäts-Skalen wie die Kindergartenskala (vgl. Tietze et al. 2012, S.8).
Leider konnte die NUBBEK Studie der pädagogischen Prozessqualität in nationalen Einrichtungen der Kindertagespflege nur unzureichendes bis mittelmäßiges Niveau bescheinigen (vgl. Tietze et. al 2012, S. 14). Jedoch wurde der Qualitätsdiskurs im Bereich der Kindertagesstätten durch diese Forschung in Gang gebracht. Der fachöffentliche...