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E-Book

Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde

Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet

AutorStephan Russ-Mohl
VerlagHerbert von Halem Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783869622750
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Fake News, Halbwahrheiten, Konspirationstheorien - die Ausbreitung von Desinformation in der digitalisierten Welt, insbesondere in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, wird immer mehr zur Bedrohung und zur Herausforderung für unsere Demokratie. Das Buch analysiert, welche Trends die Aufmerksamkeitsökonomie in eine Desinformationsökonomie verwandeln. Stichworte sind der langfristige Glaubwürdigkeitsverlust der traditionellen Medien, das rapide Wachstum und die Professionalisierung der Public Relations, die ungeplanten Folgen der rasanten Digitalisierung, darunter das Fehlen eines Geschäftsmodells für den Journalismus, Echokammern im Netz sowie die Algorithmen als neue Schleusenwärter in der öffentlichen Kommunikation. Eine strategische Rolle spielen die allmächtigen IT-Giganten, die sich nicht in ihre Karten gucken lassen möchten. Unter diesen Bedingungen gibt es vermehrt Akteure, die aus machtpolitischen Motiven an medialer Desinformation und an der Destabilisierung unserer Demokratie interessiert sind, oder die aus kommerziellen Motiven eine solche Destabilisierung in Kauf nehmen. Der Tradition der Aufklärung verpflichtet, ist die zentrale Frage des Buches, wie sich der wachsende Einfluss der 'Feinde der informierten Gesellschaft' eindämmen lässt, darunter Populisten, Autokraten und deren Propagandatrupps. Könnte zum Beispiel eine 'Allianz für die Aufklärung' etwas bewirken, der sich seriöse Journalisten und Wissenschaftler gemeinsam anschliessen? Dazu bedarf es nicht zuletzt realistischer Selbsteinschätzung auf seiten der Akteure. Dazu verhelfen Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie und der Verhaltensökonomie, die im Buch auf die Handelnden und den Prozess der öffentlichen Kommunikation bezogen werden.

Stephan Russ-Mohl ist Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano/Schweiz und leitet das European Journalism Observatory. Von 1985 bis 2001 war er Publizistik-Professor an der FU Berlin. Er studierte Sozial- und Verwaltungswissenschaften an den Universitäten München, Konstanz und Princeton. Der Autor hat zeitweise in den USA und in Italien gelebt und mehrfach, zuletzt im Sommer 2015, Forschungsaufenthalte an der Stanford University in Kalifornien verbracht. Über Medien und Journalismus schreibt er regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung sowie als Kolumnist für den Tagesspiegel und für Branchenpublikationen.

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Leseprobe

VORWORT


Zwei Anspielungen sind mit dem Titel dieses Buches verbunden: Im Jahr 1945 hat der Philosoph Karl Popper seine Schrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde publiziert, und damit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gedanklich jenen Demokratien und Marktwirtschaften im westlichen Europa den Weg bereitet, die – für die damaligen Zeitgenossen kaum vorstellbar – in erstaunlich kurzer Zeit sich wie Phönix aus Schutt und Asche erhoben haben, die der Nazi-Größenwahn in Europa hinterlassen hatte (POPPER 1980).

So, wie sich die ›Dinge‹, soll heißen: Politik, Journalismus und die öffentliche Kommunikation in unserem Gemeinwesen derzeit entwickeln, ist diese offene Gesellschaft gefährdet. Zu ihren Feinden zählen explizit Populisten und Propagandisten, welche die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke zu nutzen versuchen, um im öffentlichen Raum mit Fake News, mit Konspirationstheorien, mit Halb- und Viertelwahrheiten zu ›punkten‹ oder Verwirrung zu stiften.

Diejenigen, die mit Desinformation entweder kommerziell oder machtpolitisch Gewinne erzielen, sind nicht nur Feinde der offenen, sondern auch der informierten Gesellschaft. Womit wir zur zweiten Anspielung kommen: Der Informatik-Professor Karl Steinbuch hat 1966 ein Buch zur Zukunft der Nachrichtentechnik veröffentlicht, und zwar noch im Frühstadium der Informationstechnologie. Es zeichnete sich seinerzeit bereits ab, wie revolutionär Computer und Kybernetik die Gesellschaft verändern würden. Der Titel lautete Die informierte Gesellschaft. Steinbuchs nachfolgender Bestseller Falsch programmiert war dann der Frage gewidmet, wie miserabel die bundesdeutsche Politik und Wirtschaft auf die seinerzeitige technologische Revolution vorbereitet waren (STEINBUCH 1966 und 1968).

Beides sind Aspekte, die uns rund 50 Jahre später als Folge des nächsten Schubs in der Informationstechnologie neuerlich auf den Nägeln brennen. Und sie sind Gegenstand dieses Buchs, das sich freilich weniger mit der Informationstechnologie selbst als mit deren Folgen auseinandersetzt – mit dem Internet, der Digitalisierung, den Suchmaschinen und den sozialen Netzwerken sowie deren Auswirkungen auf den Journalismus und die öffentliche Kommunikation.

ÜBERBLICK ZUM BUCH


Die vorliegende Schrift Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde thematisiert, wie wir im Begriff sind, die Glaubwürdigkeit unserer Medien und damit die Essenz unserer Demokratie zu verspielen – als ungeplante Nebeneffekte der Digitalisierung, aber auch als Folge langfristiger Machtverschiebungen zwischen Journalismus und Public Relations sowie von pubertärer Hybris der weltumspannenden Internet-Konzerne.

Ob wir gerade eine Zeitenwende durchleben, mögen in ein paar Jahrzehnten die Historiker entscheiden. Unstrittig dürfte sein, dass wir es mit einer Zeitverschiebung zu tun haben: Es ist nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf Uhr – im Blick auf die Vertrauensverluste der Mainstream-Medien1 und der europaweiten, anti-europäischen populistischen Erfolge, wie sie sich im britischen Brexit-Votum und der brachialen Exit-Strategie von Theresa May, in der Abwahl des linken wie des rechten Parteienestablishments in Frankreich, im Stimmenzuwachs für die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, im derzeit etwas gebremsten Aufstieg der AfD in Deutschland sowie – nicht zuletzt – in der Wahl von Donald Trump widerspiegeln. Es besteht akuter Handlungsbedarf im Kampf gegen Desinformation. Auch was sich auf ganz verschiedenen Ebenen von ganz unterschiedlichen Akteuren tun ließe, thematisiert dieses Buch.

Es ist in den letzten Monaten andererseits viel, vielleicht ja bereits zu viel und wahrscheinlich auch fast alles gesagt worden, was es über Falschnachrichten und Desinformation zu sagen gibt. Braucht es also dieses Kompendium überhaupt noch?

Es gibt mehrere triftige Gründe, die das Projekt rechtfertigen:

Forscher haben zwar Themen wie die digitale Disruption, Echokammern und Social Bots in sozialen Netzwerken oder Nachrichtenauswahl durch Algorithmen inzwischen entdeckt, aber in der breiten Öffentlichkeit sind deren Facetten und Folgen noch kaum angekommen.

Laura H. Owen vom Nieman Journalism Lab trifft den Nagel auf den Kopf: »Wenn man nur mal für ein verlängertes Wochenende offline geht, entgeht einem in den USA schon eine ganze Flut von neuen Umfragen, Studien und Artikeln über The Way We Media Now (OWEN 2017). Wer die Medienwelt und die Medienforschung in Europa beobachtet, hat sich mit weiteren solchen Flutwellen auseinanderzusetzen, die dann freilich in den USA so gut wie niemand zur Kenntnis nimmt. Es galt, eine geradezu überbordende Materialfülle zu sichten, zu ordnen, sich einen Überblick zu verschaffen – und das eigentlich täglich von Neuem.

Medienforscher und Journalisten leben zunehmend in Parallelwelten. Was die eine Seite zur Diskussion beiträgt, bleibt auf der anderen Seite meist ungehört. Da sind die Features und Leitartikel, die Online-Kommentare oder Communities, in denen Medienpraktiker die Diskussion befeuern. Und da sind die Ergebnisse und Erkenntnisse der Medienforschung, die inzwischen meist in hochwissenschaftlichen Journal-Artikeln auf Englisch publiziert werden – fernab der medialen Windmaschinen. Dieses Buch versucht, in der Tradition Frank Schirrmachers Erkenntnisse von Medienforschern und Beobachtern aus der Medienpraxis zusammenzuführen, zu verdichten, aber auch in ihrer bunten Vielfalt zu veranschaulichen. (SCHIRRMACHER 2009) Damit das gelingt, sind immer mal wieder Rückblenden nötig, und vermutlich wird es einige Medienpraktiker schmerzen, wenn ihnen der Spiegel vorgehalten wird und sie daran erinnert werden, was sie hätten wissen können, wenn sie Medienforschern aufgeschlossen zugehört hätten (vgl. Kap. 4, 6 und 7).2

Viele Einzelbefunde alarmieren bereits für sich genommen. Aber wohl erst in der Zusammenschau werden die Risiken und Nebenwirkungen moderner Kommunikationstechnologien und die Neuverteilung ökonomischer, politischer und publizistischer Macht für unser Gemeinwesen erkennbar. Dieser Überblick kann allerdings angesichts der Materialfülle bei weitem keine ›Gesamtschau‹ sein. Sichtbar wird, was die Forschungsleistungen anlangt, nur die Spitze des Eisbergs: Bisher kümmern sich eine Handvoll von Forschungsinstituten und Fachzeitschriften kontinuierlich um Visibilität außerhalb des Wissenschaftsbetriebs, vor allem im angelsächsischen Raum, zum Beispiel das Pew Research Center, das Nieman Lab der Harvard University, das Tow Center for Digital Journalism oder das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford. Was all die anderen weltweit betrifft, bedürfte es schon eines ganzen Teams von journalistisch versierten Doktoranden, um jenen Teil des Eisbergs für die Medienpraxis zu erschließen, der bisher unterhalb der Wasseroberfläche verblieben ist (vgl. Kap. 11).

Weiterhin baut diese Studie Brücken über Disziplingrenzen hinweg und bereichert die Diskussion um ökonomische und sozialpsychologische Einsichten, insbesondere um Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomie (z. B. KAHNEMAN/TVERSKY 2000; ARIELY 2008; THALER 2015). Denn es gilt ja weiterhin, was Isaac Newton bereits bewusst war und der Soziologe Robert K. Merton uns dankenswerterweise in Erinnerung gerufen hat: Als Forscher sitzen wir stets auf den Schultern von Riesen (MERTON 1983). Meist sind das die Vordenker des eigenen Fachs. Über Jahrzehnte hinweg waren in der deutschen Kommunikationswissenschaft die drei prägenden Säulenheiligen Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Elisabeth Noelle-Neumann.3 Zu befürchten ist indes, dass die Sicht auch in lichter Höhe begrenzt ist und durch den Aktionsradius der jeweiligen Riesen eingeschränkt bleibt, wenn man es sich stets auf den Schultern derselben Vordenker bequem macht. Deshalb haben wir uns für einen ›anderen‹ Ausguck entschieden (vgl. Kap. 2).

Interdisziplinäre Forschung ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sich neue Horizonte erschließen, wenn man gelegentlich die Position wechselt.4 Wer in der Tradition von Ökonomen und Sozialpsychologen gesellschaftliche Entwicklungen primär als kumulatives Ergebnis mehr oder weniger rationaler und auch mehr oder weniger eigeninteressierter individueller Entscheidungen und Verhaltensmuster zu begreifen versucht, dem eröffnen sich andere Einsichten als beispielsweise Systemtheoretikern. Solches ›Fremdgehen‹ wird von Mainstream-Wissenschaftlern allerdings nicht gern gesehen. Wer interdisziplinär arbeiten möchte, geht das Risiko ein, in keiner Disziplin mehr ›richtig‹ zu Hause zu sein und spätestens beim nächsten Antrag auf Forschungsmittel abgestraft zu werden, weil ein Gutachter querschießt – und das reicht ja meistens schon aus, um ein Projekt zu liquidieren.

Außerdem hat sich der Verfasser über Jahrzehnte hinweg...

Blick ins Buch

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