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E-Book

Die Kultur der Reparatur

AutorWolfgang M. Heckl
VerlagCarl Hanser Fachbuchverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783446436800
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Kaum ist die Garantie abgelaufen, gehen unsere Geräte kaputt. Das Display des MP3-Players spinnt, der Laptop überhitzt und schaltet ab. Doch wir können der Wegwerfgesellschaft entkommen: indem wir wieder reparieren lernen. Das schont nicht nur die Ressourcen des Planeten, es macht auch Spaß! Überall in Deutschland gibt es Repair-Cafés, in denen Menschen gemeinsam an alten Plattenspielern schrauben und aus Secondhandklamotten Designermode machen. Wolfgang Heckl, Generaldirektor des Deutschen Museums in München, setzt sich an die Spitze der Do-it-Yourself-Bewegung. Er lehrt uns die Dinge um uns herum wieder wertzuschätzen - und zeigt uns den Weg zu mehr Autonomie von der Industrie.

Prof. Wolfgang M. Heckl, Physiker, geboren 1958 in Parsberg, ist seit 2004 Generaldirektor des Deutschen Museums in München und Inhaber des Oskar von Miller Lehrstuhls für Wissenschaftskommunikation an der TU München. Für seine unterhaltsame Vermittlung schwieriger wissenschaftlicher Zusammenhänge in TV, Radio und Print hat er zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Communicator Preis des Stifterverbands für die Wissenschaft und den René-Descartes-Preis der Europäischen Kommission.

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Leseprobe

Reparatur – ein Konzept der Natur


Das Prinzip der Selbstorganisation


Um zu verstehen, dass die Reparatur einen natürlichen Ausweg aus der hochgetunten Wegwerfgesellschaft bedeutet, sollten wir uns vergewissern, dass ihr Prinzip keine menschliche Erfindung, sondern ein uraltes, der Natur seit Anbeginn der Zeit innewohnendes ist. Reparaturprozesse finden schon in der unbelebten Natur statt, aber erst in lebenden Systemen entfaltet sich die ganze Kraft der Mechanismen, hinter denen Selbstorganisations- und Selbstheilungskräfte stehen und ohne die Leben weder hätte entstehen noch überhaupt eine Sekunde lang aufrechterhalten werden können.

Reparatur als Konzept der Natur lässt sich natürlich nicht ohne Weiteres auf die Welt der Gegenstände übertragen: Der sich selbst reparierende Kühlschrank, der einfach ein internes Reparaturprogramm anwirft, sobald er nicht mehr richtig kühlt, ist nach wie vor eine Utopie. Noch schöner wäre es, wenn auch der Inhalt „repariert“ werden könnte: Es fehlen zwei Liter Frischmilch, das Glas Quittenmarmelade ist leer, der Käse ist auch aufgegessen, eine kleine Fehlermeldung, und schon sind die Kühlfächer wieder nachgefüllt. In einer solchen Welt gäbe es auch nie wieder Ärger mit defekten Kaffeemaschinen oder Waschmaschinen, die nicht mehr in den Schleudergang wollen.

Was in unseren Ohren absurd klingt, ist in der „echten“ Natur ein völlig selbstverständlicher Prozess: Beschädigte Systeme werden repariert, wiederhergestellt. Denken Sie nur an das Ihnen sicher vertraute Beispiel der Wundheilung: Wir reparieren uns selbst, wenn wir uns verletzen. Dies ist das Prinzip der Selbstorganisation, das uns zunächst in der anorganischen Welt begegnet.

Bergkristalle – diese wunderbaren, homogenen Körper – wachsen, weil die Atome, die sie ausmachen, sich selbst nach den Regeln der Physik organisieren. Anfangs schwimmen sie ungeordnet in einer Art Mutterlauge, der Kristalllösung, von der schon Thomas Mann im Zauberberg berichtet, umher, suchen sich ihre Plätze in allen drei Dimensionen des Raumes, in genau demselben Abstand voneinander, periodisch in allen drei Raumrichtungen. Selbstorganisation führt also zu einer von uns Menschen empfundenen Schönheit der hauptsächlich kristallin vorliegenden unbelebten Materie in der uns umgebenden Natur.

Dabei können Fehler entstehen. Es kann vorkommen, dass bei diesem Wachstum einzelne Atome falsch andocken, in einem falschen Abstand, in einer falschen Position; schon in der Mutterlauge selbst kann sich ein falsches Atom, ein falsches Molekül befinden, nach dem Motto: „Hilfe, ich bin ja in der falschen Suppe gelandet!“ Dieser Fehler wird nun offensichtlich repariert, jedenfalls in vielen Fällen. Sonst gäbe es die aus 10 hoch 23 Atomen bestehenden wunderbaren Bergkristalle nicht. (Ja, richtig gelesen, eine 1 mit 23 Nullen. Für uns eine absolut nicht mehr vorstellbar große Zahl.)

Die Fehlerbehebung, die Reparatur, funktioniert dabei durch Selbstorganisation. Ein Kristall wächst nur „richtig“ weiter, wenn die Trilliarden von Atomen, die ihn ausmachen, die richtige Position einnehmen. In der Regel „merkt“ er, wenn dies nicht geschieht, und zwar aus einer energetischen „Sichtweise“ heraus: Da in der Natur alles nach dem Prinzip der Energieminimierung verläuft, „stellt“ der Kristall „fest“, dass es für einzelne Atome energetisch günstigere Positionen gibt.

Das Prinzip der Energieminimierung ist ein übergeordnetes Prinzip in der Natur: Die Atome suchen in allen drei Raumrichtungen so lange ihren Platz, bis sie den gefunden haben, der für sie perfekt ist: Werfe ich Orangen in eine Kiste und schüttle diese, so nehmen sie die dichteste Packung ein, eine Stapelung, wie wir sie auch auf dem Obstmarkt vorfinden. Diese dichteste Packung wird dadurch erreicht, dass das Schütteln die energetisch betrachtet ungünstigen Positionen in die geordneteren Lagen überführt. Genau so muss man sich das für die Atome in einem wachsenden Kristall vorstellen, der über die Wärmebewegung der Teilchen in der Lösung „durchgeschüttelt“ wird.

Weil Kristalle sich Positionen „merken“ und auf der sich vor ca. 3,8 Milliarden Jahren abkühlenden Erdoberfläche als die ersten geordneten Strukturen entstanden (und weil Ordnung der erste Schritt zur Entstehung von Leben ist), sprach der englische Chemiker Graham Cairns-Smith auch von „lebenden Kristallen“. Das würde mir aber zu weit gehen. Das atomare Konstruieren ist ein physikalisches Prinzip, und Kristalle sind als Template, auf deren Oberfläche sich erst Leben entwickeln konnte, wichtige Voraussetzung für unsere eigenen Forschungen zum Ursprung des Lebens. Mehr aber auch nicht.

Als Werksstudent habe ich bei der Firma Siemens gearbeitet und dort Siliziumkristalle gezüchtet: Meine Aufgabe war es, mithilfe von physikalischen Verfahren die Natur zu animieren, den ganzen „Dreck“, die ungewünschten Fehlatome, die noch in den Kristallen vorhanden waren, herauszubringen. Es ging darum, die Fehler in der Züchtung zu reparieren, um am Ende reine Siliziumkristalle zu erhalten. Zonenziehen hieß der Vorgang. Ob Siemens oder Wacker Chemie, ob Halbleiterelektronik, Solarzellen oder Transistorkristalle, all das funktioniert nur deshalb, weil es nach dem Beseitigen der ungewünschten „Dreck“-Atome im darauffolgenden Herstellungsprozess den definierten Einbau von gewünschten Fremdatomen gibt, der durch die Veränderung der Randbedingungen Selbstorganisation und Energieminimierungsprinzip geschickt ausnutzt. Es ist dies ein Vorgehen, um bestimmte Eigenschaften von Materialien maßzuschneidern – denken wir nur an das Dotieren von Halbleiterkristallen (p- oder n-Leiter), die die gesamte Halbleiterelektronik erst möglich gemacht haben.

Jede Materialwissenschaft als Voraussetzung zur Herstellung neuer Produkte mit gewünschten Eigenschaften bedient sich dieser Kenntnisse vom Aufbau der Materie, und fast alle natürlichen Materialien, die wir in unserem Umfeld finden, sind zumindest mikrokristallin und benutzen das Prinzip der Reparatur von Fehlstellen.

Entscheidend ist: Die Natur macht Fehler, die sie, zumindest teilweise, wieder repariert. Und weil jedes nicht-lebende Material, das wir in unserer Umwelt finden, dieses Reparaturprinzip benutzt, gehört es zur Genesis aller Stoffe auf unserer Erde. Das beginnt mit dem Urknall und setzt sich fort mit der Entstehung der Sterne und der Planeten. Die Erde hätte sich ohne Reparatur vor rund vier Milliarden Jahren niemals bilden können, und hätte es bei der Erkaltung der Erde keine Energieminimierung, Selbstorganisation und keine Reparatur gegeben, würden wir nicht existieren.

Wie Leben entstand


Haben sich beim Bergkristall die anorganischen Moleküle miteinander verbunden, passiert dies in einer ähnlichen Weise bei lebenden Systemen mit Molekülen. Erst ordneten sich in der sogenannten Ursuppe die Ausgangsmoleküle wie DNA-Basen und Aminosäuren zu zweidimensionalen Strukturen, indem sie Kristalloberflächen als Template benutzten. Als damit ein primitiver genetischer Code erfunden war und erste Polypeptide ermöglichte, lösten diese sich von der Unterlage, um dann das dreidimensionale System aus DNA-Code und Proteinen zu bilden. Dabei spielte der Selbstreparaturmechanismus bereits eine Rolle. Doch wie genau entstand das Leben?

Diese Frage stellte schon der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl August, dem acht Jahre älteren Goethe; beide verband eine tiefe Freundschaft. Goethe meinte die Antwort auf die Frage, wie aus totem lebendes Material wurde, zu kennen, da er schon des Öfteren beobachtet hatte, wie zum Beispiel aus verrottendem Material wenig später Würmer herauskrochen. Er glaubte an die vis vitalis der Lebensphilosophie, eine den unbelebten Materialien innewohnende Lebenskraft. Deren Existenz widerlegte später der französische Chemiker Louis Pasteur. Er zeigte, dass sich bei sterilem Material keine Lebensspuren entwickeln, und gewann damit einen von der französischen Akademie der Wissenschaften ausgelobten Preis, der ein für alle Mal die Frage nach der spontanen Lebensentstehung aus nicht lebendem Material klären wollte. Wenn man so will, bekam er ihn zu Unrecht, denn es musste ja in ferner Vergangenheit, auf der frühen Erde, doch spontan Leben entstanden sein, was Pasteur gerade nicht zu erklären vermochte.

Doch schauen wir uns auf der Suche nach „Lebenskräften“ einmal einen Baum an. Woher wissen Bäume, dass Frühjahr ist und sie aussprießen sollen? Wir Menschen können in den Kalender schauen, Bäume können das nicht. Liegt es daran, dass es draußen heller und wärmer geworden ist? Hat ein Baum ein Thermometer? Woher weiß er das alles? Und wieso wächst ein Edelweiß in einer kargen Berglandschaft? In der Erde liegen doch nur beliebig verteilt Moleküle oder Atome herum, und in der Luft liegt der Kohlenstoff ungeordnet in Form von Kohlendioxidmolekülen vor. Oder man kann sagen: Offensichtlich ist das Edelweiß dazu in der Lage, Moleküle aus der Luft (Kohlendioxid) und Atome aus dem Boden (Wasser, Mineralien) so zu dirigieren – also zu demorpheln, wie der bayerische Kabarettist Gerhard Polt vielleicht sagen würde –, dass daraus ein Edelweiß wird. Und das ist nicht so ganz einfach, denn eine Farbe wie Gelb, Weiß oder Rot entsteht nicht einfach durch ein einzelnes Atom, sondern im Zusammenspiel mit mehreren. Auch ob die Blüten und Blätter einer Pflanze eher weich oder hart werden, wird nicht über ein...

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