Sich selbst zu erkennen, bedeutet auch,
die Umstände zu verstehen, die dein Selbst überdecken.
Werner Knigge
Welche Ursachen sind für das immer wiederkehrende Energiedefizit verantwortlich? Woher beziehen wir Energie und wie und wofür investieren wir sie?
Bei der Frage nach dem Energiebezug werden die meisten von Ihnen kurz nachdenken und dann Themen wie Familie, Freunde, Hobby, Beruf oder Urlaub benennen. Tatsächlich können diese Bereiche große Energiequellen darstellen, aber auch das Gegenteil. Beim Thema Energieinvestition können daher die gleichen Begriffe stehen.
Aber zurück zur Frage nach den Ursachen für unser Energiedefizit. Die Antwort lautet: Wir entfernen uns immer mehr von den nachhaltigen Energiespendern. Unser Leben befindet sich außerhalb der Balance, weil wir uns, wie kleine Hamster in einem Rädchen, abstrampeln, um Dinge zu erreichen, die uns sowieso kein Glück und keine Energie bringen.
Der Philosoph Richard David Precht, Autor des Buches „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele“, hat dies einmal so formuliert: „Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen; mit Geld, das wir nicht haben.“
Wir wissen, jede Gesellschaft hat ihr Wertesystem.
Und das Wertesystem ist wie ein Kleid,
in dem sie sich einrichtet und zu Hause ist.
Elisabeth Noelle-Neumann
Das Wertesystem, in dem wir leben, prägt uns. Dies ist nicht nur ein philosophisches Thema, sondern hat ganz pragmatische Auswirkungen auf unseren Alltag. Dies wurde mir vor Kurzem beim Besuch eines Kindergartens vor Augen geführt. Die Erzieherinnen hatten die Idee, interessierten Eltern den Kindergarten durch andere Kinder zeigen zu lassen. Von den beiden Mädchen, denen wir zugeteilt wurden, stellte sich das eine wie folgt vor: „Mein Name ist Katharina, ich bin fünf Jahre alt und habe schon einen Nintendo.“
Das Wertesystem, in dem wir leben, prägt uns.
Wer in dieser Welt sagt diesem liebenswürdigen Mädchen, dass es wichtig ist, einen Nintendo zu besitzen?
Es ist unsere Gesellschaft, die sich über Besitz und nicht über das Sein definiert. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich finde nichts Schlimmes daran, dass ein fünfjähriges Mädchen einen Nintendo besitzt. Ich finde es nur bedenklich, welchen Stellenwert diese Dinge bei uns einnehmen. Und dies gilt nicht allein für Kinder. Denn was für Kinder das Computerspiel, ist später für viele Erwachsene die Gucci-Brille, das Luxusauto oder das iPad. Es ist schon spannend, wofür wir in Deutschland unsere Energie verwenden. Wann und wofür gehen die meisten Menschen auf die Straße? Für soziale Gerechtigkeit, mehr Kindergartenplätze, Umweltschutz? Nein. Für ein iPad. Erwachsene Menschen stellen sich stundenlang auf die Straße, um ein solches Gerät zu erwerben.
Das Problem daran: Materielle Dinge versetzen uns langfristig in keinen positiven Zustand. Das haben viele Studien nachgewiesen. Warum aber verwenden wir so viel Energie auf Besitz?
Es ist das gleiche Motiv, das uns dazu bringt, andere nicht ausreden zu lassen, uns im Verkehrsstau möglichst weit nach vorne zu drängeln, uns über die unverschämte Verkäuferin zu beschweren, irgendwelche Ämter in Vereinen zu bekleiden oder im hohen Alter verbissen Sport zu treiben. Es ist das gleiche Motiv, das die meisten Amokläufer zu ihrer Kurzschlussreaktion treibt.
Wenn es um Motive geht, hilft uns ein klassisches Modell am besten weiter: die Maslowsche Bedürfnispyramide.
Der amerikanische Psychologe Abraham Maslow untersuchte in den 1940er Jahren die Motive der Menschen und stellte fest, dass alle Motive auf Bedürfnisse zurückzuführen sind, die sich in fünf Bereiche unterteilen lassen. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse findet grundsätzlich von unten nach oben statt. Ist das Bedürfnis nach Essen oder Trinken gerade akut, werden andere Bedürfnisse, etwa das nach Selbstverwirklichung, in den Hintergrund treten.
Abbildung 4: Die Bedürfnispyramide (nach Maslow)
Betrachten wir diese Pyramide einmal gesamtgesellschaftlich, dann stellen wir fest, dass wir in einer Gemeinschaft leben, in der einige Bedürfnisse nahezu selbstverständlich abgedeckt werden. Um die physiologischen Grundbedürfnisse macht sich wohl niemand von uns ernsthafte Gedanken. Der Staat übernimmt auch weitgehend die Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse (Polizei, Solidaritätsprinzip, Gesundheitswesen usw.). Abgesehen von älteren Menschen wird auch das Bedürfnis nach sozialen Kontakten (zumindest quantitativ) bei vielen von uns kein zentrales Motiv darstellen.
Wie sieht es in unserer Gesellschaft mit der vierten Stufe, dem Bedürfnis nach Geltung, Wertschätzung und Anerkennung aus? Ich bin überzeugt, dass wir hier die Motivebene gefunden haben, die 90 Prozent unserer Handlungen auslöst. Hinter den meisten unserer Handlungen steht der bewusste oder unbewusste Versuch, Wertschätzung und Geltung zu erreichen.
Welche Strategien nutzen Männer, um dieses Bedürfnis zu befriedigen? Sie schaffen sich Luxusautos an. Neben Motiven wie Spaß oder Komfort ist Prestige die treibende Kraft. Die Frage jedoch lautet, wie geeignet diese Vorgehensweise ist, mein Bedürfnis zu befriedigen. Selbst wenn meine Freunde im Tennisclub mir zu diesem Fahrzeug gratulieren und mir alles Gute wünschen, wird die Wertschätzung wohl mehr dem Auto als meiner Person gelten. Diese Trennung ist nebenbei erwähnt für prominente Stars eines der größten Probleme. Gilt die Anerkennung der Rolle, die ich spiele, oder wirklich mir?
Wie sehen die Strategien von Frauen aus, um das Bedürfnis nach Wertschätzung zufriedenzustellen? Was ist wohl der Grund, sich morgens kleine glitzernde Dinge an die Ohren zu hängen, so viele Schuhe zu kaufen oder sich Farbe auf die Lippen aufzutragen? Ich möchte auch hier nicht falsch verstanden werden. Ich habe gar nichts gegen diese Handlungen. Die Frage ist nur auch hier: Sind sie wirklich geeignet, mein Ziel zu erreichen?
(An dieser Stelle besteht die in der Einleitung angesprochene Gelegenheit, Co-Autor dieses Buches zu werden. Formulieren Sie Ihre eigenen Gedanken zu dem angesprochenen Thema!)
Nach meiner Erfahrung liegt die beste Strategie, um Wertschätzung zu erhalten, darin, ebenfalls Wertschätzung zu geben.
Was mich weiterhin bedenklich stimmt, ist die Beobachtung, dass sich unser Verhalten immer mehr von den auslösenden Motiven verselbstständigt und wir damit zu Energieverschwendern werden. Dies wird mir in vielen Lebenssituationen bewusst, beispielsweise wenn ich mit dem Flugzeug unterwegs bin.
Der Abflug nach Berlin steht unmittelbar bevor. Unter den wartenden Fluggästen ist eine gewisse Unruhe erkennbar. Als die Flughafenbedienstete an das Mikrofon tritt, um die Gäste zum Einsteigen aufzufordern, sind längst schon einige aufgesprungen und drängen sich am Einstiegsgate. Ich frage mich, welcher Nutzen damit verbunden ist, wenn ich möglichst als Erster in das Flugzeug einsteige. Komme ich dadurch früher als die anderen in Berlin an? Mir fällt auf, dass viele der Reisenden den Begriff „Handgepäck“ sehr großzügig ausgelegt haben. Vielleicht befürchten sie, dass ihre zahlreichen Koffer und Taschen keinen Platz mehr im Flugzeug finden? Ich habe allerdings noch nie erlebt, dass Gepäckstücke am Flughafen zurückgelassen werden mussten. Mir fällt ein, dass bei einer Fluglinie beim Einsteigen als Lektüre der „Playboy“ angeboten wird. Eventuell befürchten die drängelnden Einsteiger, kein Exemplar mehr zu erhalten. Allerdings sehen mir alle so aus, als wenn sie sich den „Playboy“ durchaus auch selbst am Zeitungskiosk kaufen könnten. Die Dame am Mikrofon bittet noch darum, die Passagiere in den hinteren Sitzreihen zuerst einsteigen zu lassen. Vergeblich. Dabei wäre dies durchaus sinnvoll, wenn wir möglichst bald in Berlin ankommen wollen. Stattdessen drängen sich die wichtigen (oder sich selbst für wichtig haltenden) Menschen nach vorne. Meistens haben sie auch einen Platz in den vorderen Sitzreihen reserviert. Dort, wo sich bei anderen Fluglinien üblicherweise die Businessclass befindet. Sie stehen nun im Gang, versuchen, ihren kompletten Hausrat in die Ablagefächer zu stopfen, telefonieren dabei noch mit wichtigen Geschäftspartnern und blockieren das Einsteigen. Das Schlimmste, was nun passieren kann, ist, dass aufgrund des Platzmangels die Stewardess das Gepäck mitnimmt und in den letzten Reihen verstaut. Dies bedeutet nämlich, dass der ganze Aufwand umsonst war und die „Containerbesitzer“ mindestens zehn Minuten ihres sowieso sinnfreien Lebens nach der Landung in einem Flugzeug verbringen müssen! Das gleiche Verhalten zeigt sich auch, sobald oder manchmal auch bevor das Flugzeug seine Parkposition erreicht hat. Die Menschen springen auf, um dann oft halb gebückt und dicht zusammengedrängt im Gang zu stehen und auf das...