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Eine Gesellschaft im Aufbruch

Die Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren

AutorHermann Korte
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl126 Seiten
ISBN9783531919904
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Inspiriert durch die Soziologie von Norbert Elias und dessen Untersuchungen gesellschaftliche Prozesse schreibt Hermann Korte über die Zeit zwischen den Jahren des Wiederaufbaus unter Konrad Adenauer und der technokratisch-ökonomischen Konsolidierung unter Helmut Schmidt. Seine These ist, dass die 60er Jahre eine Zeit gesamtgesellschaftlicher Veränderungen waren, die nicht nur von der sogenannten 68er Bewegung, sondern große Teile der Bevölkerung Anteil hatten.

Dr. Hermann Korte war von 1974 bis 2000 Professor für Soziologie an den Universitäten Bochum und Hamburg. Er ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland und des Vorstandes der Norbert Elias Stiftung in Amsterdam.

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Leseprobe
Teil I Von der Restauration zur Reform – Die demokratische Grundordnung wird auf die Probe gestellt (S. 21)

1 Die Nachkriegszeit geht zu Ende

Im Jahre 1965 ging es den Deutschen in der Bundesrepublik wirklich gut. Nach Jahren des Wiederaufbaus machte sich zum erstenmal ein Wohlstand bemerkbar, der nicht wie zuvor immer nur kleineren Gruppen der Bevölkerung zugute kam, sondern diesmal der Mehrzahl der Menschen in der Bundesrepublik. Schon ein erster Blick auf Beschäftigungssituation und Einkommen zeigt, wie erfolgreich die Deutschen in der Nachkriegszeit gewesen waren.

Von 1950 bis 1964 war die Arbeitslosigkeit von 10,4% auf 0,08% gesunken, was nicht nur Vollbeschäftigung bedeutete, sondern mehr noch eine zusätzliche Nachfrage nach Arbeitskräften erzeugte. Die Steigerung der realen Arbeitseinkommen, d. h. die nach Abzug der Inflationsrate von den nominalen Lohnsteigerungen erzielten Nettolöhne waren zwischen 1950 und 1964 im Durchschnitt jährlich um 5,2% gestiegen.

Aber auch die allgemeinen Strukturdaten waren beachtlich, vor allem, wenn man sie mit den Daten anderer europäischer Länder vergleicht. So war das Bruttosozialprodukt von 1950 bis 1964 von 98 Milliarden DM auf 413 Milliarden DM angestiegen und hatte das von Großbritannien, Frankreich und Italien längst überflügelt.

Die Bundesrepublik hatte von den drei genannten Ländern den höchsten Gold- und Devisenbestand, zwischen 1953 und 1963 mehr Neubauwohnungen je 100 000 Einwohner erstellt als Frankreich und Großbritannien zusammen und auch im Export die anderen drei großen europäischen Industrienationen längst überflügelt.

Auch bei der Kraftfahrzeugproduktion liefen z. B. im Jahr 1964 mehr PKW (2,9 Mio) vom Band als in Frankreich und Italien zusammen. Bereits 1965 war aus den geschlagenen und gedemütigten Deutschen eine der reichsten Nationen der Welt geworden, wenn man das erwirtschaftete Bruttosozialprodukt pro Kopf umrechnete, höhere Gesamtwerte erwirtschafteten damals nur die USA und Kanada. Man kann auch feststellen, daß Mitte der 6oer Jahre die Deutschen ihren Wohlstand genossen.

Waren frühere Konsumwellen in den 50er Jahren (Kleidung, Essen, Möbel) noch als Ersatz für Verlorengegangenes interpretierbar, wenngleich auch hier wesentlich mehr Werte angeschafft worden waren als vorher existiert hatten, so war die Reisewelle, die zu Anfang der 60er Jahre stark einsetzte, ganz eindeutig ein Wohlstandserlebnis, das die Westdeutschen sich aufgrund ihres kleinen Reichtums genehmigten, wobei ihnen die im Vergleich zu den anderen europäischen Industriestaaten niedrigste Arbeitszeit sehr entgegenkam. Die Reisen in Länder wie Italien und Spanien, die früher nur dem Besitz- und Bildungsbürgertum möglich gewesen waren, bedeuteten auch ein Zeichen eines von den Arbeitern und Angestellten (subjektiv) empfundenen Aufstiegs auf der sozialen Stufenleiter.

Für schmutzige und schlechtbezahlte Arbeiten hatte man inzwischen eine große Anzahl von Gastarbeitern ins Land geholt, die es auch möglich machten, sich als Arbeiter oder kleiner Angestellter als etwas Besseres zu fühlen. Hatte man doch mit den Ausländern Menschen, auf die herabzusehen man sich nicht scheute.

Schließlich, und das gehörte auch zu den guten Zeiten, gab es mittlerweile ein System sozialer Sicherheit, wie es dies in der Geschichte der Lohnarbeit noch nicht gegeben hatte. Hier sei z. B. auf die Lohnfortzahlung hingewiesen, die in der Welt zum damaligen Zeitpunkt einmalig war. Schon nach einem Tag Karenzzeit erhielt der Arbeitnehmer im Krankheitsfalle rund 95% seines normalen Arbeitslohnes.

Kein Wunder, daß die Bevölkerung mit ihrer Situation mehr oder weniger zufrieden war und kein Wunder auch, daß sie die steigenden Sorgen der Bundesregierung hinsichtlich der wirtschaftlichen Ent-wicklung kaum zur Kenntnis nahm und auch kein Verständnis dafür aufbrachte, wenn ihr öffentlich diese Zufriedenheit von den Regierenden als Bequemlichkeit vorgehalten wurde.

1965 gab es dann deutliche Anzeichen kommender wirtschaftlicher Probleme, die sich zunächst im Bundeshaushalt exemplarisch zeigten. Insgesamt wurde mehr ausgegeben als erwirtschaftet. Das für das Haushaltsjahr 1966 erwartete hohe Haushaltsdefizit war nur ein Indikator dieser Gesamtentwicklung.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Vorwort zur Neuauflage8
Prolog10
Einleitung14
Teil I Von der Restauration zur Reform – Die demokratische Grundordnung wird auf die Probe gestellt19
1 Die Nachkriegszeit geht zu Ende19
2 Erhard wird Kanzler – und scheitert22
3 Die Außerparlamentarische Opposition (APO) oder: Der Übergang von der Restauration zur Reform26
4 Der Schatten des Faschismus und die Notstandsgesetze32
5 Nicht am Frieden, aber am Vietkong schieden sich die Geister36
6 Wurzeln und Zielrichtungen der Kritik der akademischen Linken37
7 Das Testament des Herbert Marcuse: Individuelle Lust statt gesellschaftlicher Leistung40
Teil II Bildung wird Bürgerrecht47
1 Die Bildungskatastrophe47
2 Eine neue wissenschaftliche Disziplin entsteht: die Bildungsforschung52
3 Das Bildungssystem wird reformiert55
4 „Schule den Schülern“ und „Studium ist Opium“: Die 2. Phase der Bildungsreform57
5 Die dritte Phase: Der Numerus clausus als gesellschaftspolitischer Rückschlag60
6 Auch ein Ergebnis der Bildungsreform: Ausländische Kinder lernen erfolgreich in deutschen Schulen64
Teil III Lust statt Frust – oder: Die Befreiung der Sexualität von gesellschaftlichen Zwängen67
1 Die Zahl der Geburten steigt und fällt67
2 Veränderungen hinter den Kulissen69
3 Unbekanntes wird entdeckt: Die Freuden der Sexualität71
4 Doppelmoral und eheliche Erotik72
5 Kinsey und die Folgen75
6 Informalisierung77
7 Ein Dritter im Bett: die Gesellschaft80
8 Die Frauen machen nicht mehr mit82
9 Ein Ausbruchsversuch: Kinderläden84
Teil IV Eine neue Wirtschaftspolitik für das alte Wirtschaftssystem86
1 Vom Boom in die Krise86
2 Die alten Instrumente sind stumpf89
3 Gastarbeiter als Instrument der Beschäftigungspolitik90
4 Die Gastarbeiterpolitik verfehlt ihre Ziele92
5 Stabilität und Wachstum – oder: Von der Quadratur des Kreises95
6 Eine wirtschaftspolitische Überraschung: Stagflation97
7 Der Traum von einer neuen Harmonie98
8 Zwei Hemmschuhe: Außenwirtschaftliche Bedingungen und eigene Bürokratie101
9 Die Reform der Wirtschaftspolitik ändert noch nicht das Wirtschaftssystem103
10 Die wirtschaftliche Entwicklung als Teil der Gesamtentwicklung104
Epilog107
Nachbemerkungen und bibliographische Hinweise114

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